Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Zehntes Kapitel.

Die Gastfreundschaft Allworthy's und eine kurze Charakterschilderung zweier Brüder, eines Doctors und eines Capitains, welche die Gäste desselben waren.

Herr Allworthy verschloß zwar keinem Theile der Menschheit sein Haus oder sein Herz; vorzugsweise standen sie aber verdienstvollen Männern offen. Sein Haus war in Wahrheit vielleicht das einzige im Lande, wo man sicher eine Mahlzeit fand, wenn man sie auch nicht verdiente.

Vor allen andern nahmen Männer von Geist und Gelehrsamkeit den ersten Platz in seiner Gunst ein und darin hatte er einen scharfen Blick; denn ob er gleich keine gelehrte Erziehung genossen, hatte er doch, da ihm die Natur die vortrefflichsten Anlagen gegeben, durch fleißiges, wenn auch erst spät beginnendes Studium und vielfache Unterhaltung mit ausgezeichneten Männern, sich so viele Kenntnisse erworben, daß er in vielen Stücken als völlig competenter Richter urtheilen konnte.

Man darf sich nicht wundern, daß in einer Zeit, in welcher diese Art Verdienst in so geringer Gunst stand, Personen, die dasselbe besaßen, eifrig sich an einen Ort drängten, wo sie sicher mit der größten Freundlichkeit aufgenommen wurden, ja wo sie hoffen durften, fast dieselben Vortheile eines bedeutenden Vermögens zu genießen, als besäßen sie es selbst, denn Herr Allworthy gehörte nicht zu den Personen, welche geistreiche Leute bereitwillig aufnehmen, sie 353 reichlich mit Essen und Trinken versehen und dafür weiter nichts erwarten, als Unterhaltung, Schmeichelei und Kriecherei, mit einem Worte, die jene Männer gewissermaßen zu ihrer Dienerschaft zählen, wenn sie auch keinen Lohn erhalten und keine Livree tragen. Im Gegentheile, jeder Gast konnte in seinem Hause vollkommen unbeschränkt über seine Zeit verfügen, und wie er nach Belieben jede Lust innerhalb der von Gesetz, Tugend und Religion gezogenen Schranken befriedigen durfte, war es ihm auch unverwehrt, wenn sein Gesundheitszustand oder seine Neigung ihm Mäßigkeit oder selbst völlige Enthaltsamkeit vorschrieben, von der Tafel ganz wegzubleiben, oder sie zu jeder Zeit zu verlassen, ohne daß er zum Gegentheile aufgefordert wurde, denn solche Aufforderungen von Höhern schmecken immer stark nach Befehlen. Hier waren alle frei von Zwang, nicht blos die, deren Gesellschaft an allen andern Orten für eine Gunst gehalten wird, sondern auch jene, welche sich in Umständen befinden, die ihnen verbieten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und deshalb an dem Tische großer Herren weniger willkommen sind.

Zu solchen Männern gehörte Dr. Blifil, der das Unglück gehabt hatte, den Vortheil seltener Talente durch die Hartnäckigkeit und den Eigensinn eines Vaters einzubüßen, der ihn für einen Stand bestimmte, welcher ihm nicht zusagte. Diesem Eigensinn zu Folge hatte der Doctor in seiner Jugend Medicin studiren oder vielmehr sagen müssen, er studire sie, denn medicinische Bücher waren gerade die einzigen, die er nicht kannte. Zum Unglücke für ihn war der Doctor mit fast jeder Wissenschaft vertraut, nur nicht mit der, durch welche er sein Brod verdienen sollte. Natürlich hatte der Doctor in seinem vierzigsten Jahre kein Brod zu essen.

Ein solcher Mann konnte überzeugt sein, willkommene 36 Aufnahme an dem Tische Allworthy's zu finden, bei dem stets das Unglück als besondere Empfehlung galt, sobald es die Folge der Thorheit oder Schlechtigkeit Anderer und nicht der unglücklichen Person selbst war. Außer diesem negativen Verdienste besaß der Doctor auch eine positive Empfehlung, – seine Religiosität. Ob diese Religiosität ächt oder nur ein Schein war, wollen wir nicht zu behaupten wagen, da wir den Prüfstein nicht besitzen, der das Wahre von dem Falschen unterscheidet.

Dieser Theil seines Charakters gefiel dem Herrn Allworthy, noch mehr aber dessen Schwester. Sie veranlaßte ihn zu mancher religiösen Discussion und äußerte bei solchen Gelegenheiten stets große Verwunderung über die Kenntnisse des Doctors, so wie nicht mindere Zufriedenheit über die Complimente, die er nicht selten den ihrigen machte. Sie hatte wirklich viele englische theologische Schriften gelesen und schon manchen Pfarrer in der Gegend in Verlegenheit gebracht. Ihr Gespräch war überhaupt so rein, ihr Aussehen so würdig, ihre Haltung so ernst und feierlich, daß sie wie ihre Namensschwester oder irgend eine Andere in dem römischen Kalender den Namen einer Heiligen zu verdienen schien.

Wie Sympathie jeder Art leicht Liebe erzeugt, so lehrt uns auch die Erfahrung, daß keine andere leichter dahin führt, als religiöse Sympathie zwischen Personen von verschiedenem Geschlechte. Der Doctor überzeugte sich, daß er Brigitten so angenehm war, daß er einen Unfall zu beklagen anfing, der ihn vor etwa zehn Jahren betroffen hatte, nämlich seine Verheirathung mit einer andern Frau, die nicht blos noch lebte, sondern, was noch schlimmer, die dem Herrn Allworthy bekannt war. Dieser Umstand versperrte ihm durchaus jenes Glück, das er außerdem aller Wahrscheinlichkeit nach bei dieser jungen Dame hätte finden können, 37 denn an einen verbotenen Umgang mit derselben dachte er gewiß nicht, entweder, am wahrscheinlichsten, aus Religiosität, oder in Folge der Reinheit seiner Liebe, die Dinge betraf, in deren Besitz ihn nur die Ehe, nicht verbotener Umgang bringen konnte.

Er hatte nicht lange über diese Dinge nachgedacht, als ihm einfiel, daß er ja einen Bruder habe, der nicht auf so unglückliche Weise gebunden und gehindert sei. Dieser Bruder mußte seiner Meinung nach unfehlbar zum Ziele kommen, denn er glaubte an der Dame einige Heirathslust zu bemerken und der Leser tadelt ihn vielleicht auch wegen dieses Vertrauens nicht, wenn er die Eigenschaften und Tugenden dieses Bruders erfährt.

Er war ein Mann von etwa fünf und dreißig Jahren, von mittlerer Größe und was man gut gewachsen nennt. Auf der Stirne hatte er eine Narbe, die seiner Schönheit keinen großen Eintrag that, da sie ein Beweis von seiner Tapferkeit war, denn er war ein Officier in Halbsold. Er hatte gute Zähne und, wenn er wollte, etwas Gefälliges in seinem Lächeln, denn obgleich gewöhnlich in seinem Gesichte, so wie in seinem Wesen und seiner Stimme viel Rauhes lag, so konnte er dies doch zu jeder Zeit ablegen und ganz sanft und gutmüthig scheinen. Er war nicht unartig, auch fehlte es ihm nicht ganz an Witz und in seiner Jugend war er ein leichtfüßiger Springinsfeld gewesen, wovon zu Zeiten sich noch Spuren zeigten, wenn er auch später ernster geworden war.

Er hatte wie der Doctor eine gelehrte Erziehung genossen, denn er war von seinem Vater mit gleichem Eigensinne für den geistlichen Stand bestimmt worden; da jedoch der alte Herr gestorben, ehe er ordinirt worden war, so ging er lieber in Kriegsdienste als in ein geistliches Amt.

Er hatte sich die Stelle eines Dragoner-Lieutenants 38 gekauft und war später Capitain geworden; da er aber einen unangenehmen Streit mit seinem Obersten gehabt, mußte er seinen Posten verkaufen. Seit dieser Zeit war er gänzlich verbauert, hatte eifrig in der heiligen Schrift studirt und stand stark in dem Verdachte, sich dem Methodismus zuzuneigen.

Es schien also gar nicht unwahrscheinlich zu sein, daß ein solcher Mann bei einem Mädchen von so frommem Sinne Glück mache, deren Herz nicht gebunden, wohl aber dem Ehestande bedeutend zugeneigt war. Warum aber der Doctor, der eben kein großer Freund seines Bruders war, um dessentwillen die Freundschaft Allworthy's so arg mißbrauchte, ist schwer zu erklären.

Erfreuen sich manche Menschen am Bösesstiften, wie andere leidenschaftlich Wohlthun und Tugend lieben? Oder gewährt es ein besonderes Vergnügen, zu einem Diebstahle mitzuhelfen, wenn wir ihn nicht selbst begehen können? Oder endlich gewährt es (was die Erfahrung zu bestätigen scheint) eine Genugthuung, unsere Familie zu heben, selbst wenn wir sie nicht im mindesten lieben und achten?

Ob der Doctor sich durch irgend einen dieser Beweggründe bestimmen ließ, wollen wir nicht entscheiden; genug es war so, wie wir erzählten. Er ließ seinen Bruder zu sich kommen und fand bald und leicht Gelegenheit, ihn in der Familie Allworthy's als einen Mann einzuführen, der auf kurze Zeit bei ihm zu bleiben gedenke.

Der Capitain war noch keine Woche in dem Hause gewesen, und der Doctor hatte bereits Ursache, sich wegen seiner Klugheit Glück zu wünschen. Der Capitain war wirklich ein eben so großer Meister in der Kunst zu lieben, wie Ovid in alter Zeit. Uebrigens hatte er gar gute Winke von seinem Bruder erhalten, die er nicht verfehlte zu seinem Vortheile aufs Beste zu benutzen.


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