Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Sechstes Kapitel.

Jungfer Deborah wird mit einem Gleichnisse in das Kirchspiel begleitet. Eine kurze Schilderung von Jenny Jones, so wie von den Schwierigkeiten und Entmuthigungen, welche jungen Mädchen im Verlaufe ihrer Bildung begegnen können.

Jungfer Deborah schickte sich an, nachdem sie nach dem Willen ihres Herrn für das Kind gesorgt hatte, die Häuser zu besuchen, die der Vermuthung nach eine Mutter enthalten konnten.

Wenn der Geier, der schreckliche Vogel! von dem gefiederten Geschlechte hoch oben in den Lüften schwebend erblickt wird, so macht die verliebte Taube und jeder unschuldige kleine Vogel weit und breit im Umkreise herum Lärm und sie fliegen zitternd nach ihrem Verstecke. Er aber schießt stolz, seiner Würde sich bewußt, durch die Luft und sinnt nach, wie er Böses thue.

So liefen, als die Annäherung der Jungfer Deborah durch die Straße hinab verkündigt wurde, alle Bewohner zitternd in ihre Häuser und jede Frau fürchtete, der Besuch könne sie betreffen. Sie aber schritt stolz und stattlich einher und trug hoch den Kopf, der mit dem Wahne von ihrer Vortrefflichkeit erfüllt war und mit Plänen, wie sie ihre beabsichtigte Entdeckung bewirke.

Der scharfsinnige Leser darf nach diesem Gleichnisse nicht etwa meinen, die armen Leute hätten die Absicht geahnt, mit welcher Jungfer Deborah zu ihnen kam; da aber die große Schönheit dieses Vergleichs möglicher Weise hundert 18 Jahre verborgen bleiben könnte, bis ein Erklärer einmal das Werk zur Hand nimmt, so halte ich es für zweckmäßig, hier dem Leser zu Hilfe zu kommen.

Ich will nämlich sagen, daß, wie es in der Natur des Geiers liegt, kleine Vögel zu verzehren, die Natur solcher Personen, wie der Jungfer Deborah, gleichsam darauf hingewiesen ist, kleine Leute zu kränken und zu tyrannisiren; indem sie auf diese Weise sich für die außerordentliche Unterthänigkeit gegen ihre Vorgesetzten zu entschädigen pflegen. Nichts kann vernünftiger sein, als daß Sclaven und Schmeichler dasselbe von allen unter ihnen verlangen, was sie selbst den über ihnen Stehenden leisten müssen.

So oft Jungfer Deborah sich in ungewöhnlicher Weise dem Willen der Miß Brigitte fügen mußte und ihr Gemüth dadurch ein wenig verstimmt worden war, pflegte sie unter jene Leute zu gehen, um die Harmonie in ihren Gefühlen dadurch wieder herzustellen, daß sie jede übele Laune ausließ. Deshalb war sie keineswegs ein gern gesehener Gast und vielmehr von allen gefürchtet und gehaßt.

Als sie bei dieser Gelegenheit in dem Orte ankam, begab sie sich sogleich in das Haus einer ältlichen Frau, der sie im Allgemeinen günstiger war als den übrigen, weil sie ihr glücklicher Weise in den Reizen der Person, so wie im Alter glich. Dieser Frau erzählte sie, was geschehen war, theilte ihr auch die Absicht mit, welche sie schon am Vormittage herführe. Beide begannen darauf mehrere junge Mädchen durchzunehmen, welche da wohnten, und ihr stärkster Verdacht fiel endlich auf eine gewisse Jenny Jones, der, und darin stimmten beide überein, am Wahrscheinlichsten das Geschehene zugetraut werden konnte.

Diese Jenny Jones war kein eben hübsches Mädchen, weder von Gesicht noch von Gestalt; die Natur hatte aber den Mangel an Schönheit einigermaßen durch das ersetzt, 19 was meist höher geschätzt wird von den Frauen, deren Urtheil mit den Jahren zu vollkommener Reife gekommen ist, denn sie hatte ihr einen ungewöhnlichen Theil Verstand gegeben. Diese Gabe der Natur hatte Jenny durch Studium noch bedeutend verbessert. Sie war mehrere Jahre bei einem Schulmeister in Dienst gewesen, der die schnelle Fassungskraft des Mädchens und deren außerordentliches Verlangen nach Bildung bemerkte (denn sobald sie Zeit hatte, las sie in den Büchern der Schüler) und gutmüthig oder thöricht genug war (wie es der Leser zu nennen beliebt), ihr Unterricht zu geben und sie so weit zu bringen, daß sie das Lateinische vollkommen verstehen lernte und vielleicht im Ganzen eben so gelehrt war, als es die meisten jungen Herrn von Stande sind. Dieser Vorzug verband sich indeß, wie es mit den meisten andern ungewöhnlichen der Fall ist, mit einigen kleinen Unannehmlichkeiten; denn da es nicht zu verwundern ist, wenn ein junges so gebildetes Mädchen keinen großen Geschmack an dem Umgange derer findet, die dem Stande nach ihres Gleichen sind, der Bildung und den Kenntnissen nach aber so weit unter ihr stehen, so darf man auch nicht erstaunen, daß diese Ueberlegenheit Jenny's, so wie das Benehmen, welches die sichere Folge davon zu sein pflegt, bei den übrigen Neid und Uebelwollen gegen sie erregte, die vielleicht in den Herzen ihrer Nachbarn im Stillen gebrannt hatten, seit Jenny aus ihrem Dienste zurückgekommen war.

Ihr Neid zeigte sich indeß nicht öffentlich, bis die arme Jenny zur Verwunderung Aller und zum Aerger aller jungen Mädchen des Ortes eines Sonntags öffentlich in einem neuen seidenen Kleide, einem Spitzenhäubchen u. s. w. erschien.

Das Feuer, das vorher in der Asche geschlummert hatte, loderte jetzt mit einem Male auf. Jenny hatte durch ihre Gelehrsamkeit ihren Stolz gesteigert, den keiner ihrer 20 Nachbarn freundlich mit der Ehrenbezeugung nährte, die sie zu verlangen schien, und jetzt erhielt sie statt Achtung und Verehrung wegen ihres Putzes nichts als Haß und Schmähung. Die ganze Gemeinde erklärte, sie könne zu diesen Dingen unmöglich auf rechtliche Weise gekommen sein und die Aeltern, statt ihren Töchtern dasselbe zu wünschen, priesen sich glücklich, daß ihre Kinder dergleichen nicht hätten.

Daher kam es vielleicht auch, daß die gute Frau der Jungfer Wilkins zuerst den Namen dieses armen Mädchens nannte; ein anderer Umstand aber bestärkte Deborah in ihrem Verdachte: Jenny war in der letzten Zeit häufig in dem Hause des Herrn Allworthy gewesen. Sie hatte Miß Brigitte in deren gefährlicher Krankheit gewartet und viele Nächte bei derselben gewacht; überdies war sie drei Tage vor der Rückkehr des Herrn Allworthy von der Jungfer Wilkins selbst da gesehen worden, obgleich die kluge Person anfänglich keinen Verdacht deshalb auf sie gehabt hatte, da sie, wie sie sich selbst ausdrückte, Jenny immer für ein sehr ordentliches Mädchen gehalten (ob sie gleich wenig von ihr wußte) und ihr Verdacht mehr auf jene leichtfertigen Dinger gefallen war, die die Nase hoch trugen, weil sie sich für hübsch hielten.

Jenny wurde nun aufgefordert, in Person vor der Jungfer Deborah zu erscheinen, was sie denn auch sogleich that. Jungfer Deborah nahm den Ernst eines Richters und etwas mehr als die Strenge desselben an und begann eine Rede mit den Worten: »Du freche Hure!« in welcher sie eigentlich schon das Urtheil sprach, nicht aber das Mädchen erst beschuldigte.

Obgleich Deborah aus den oben angeführten Gründen von der Schuld Jenny's vollkommen überzeugt war, so hätte Herr Allworthy doch vielleicht stärkere Beweise dafür verlangt; sie ersparte indeß ihren Anklägern manche 21 Verlegenheit dadurch, daß sie Alles, was man ihr zur Last legte, freiwillig gestand.

Dieses Geständniß besänftigte die Jungfer Deborah keineswegs, ob es gleich offenbar in Ausdrücken der Reue gegeben wurde; sie sprach vielmehr darauf ein zweites Urtheil gegen sie in noch beleidigenderen Worten als vorher aus. Auch auf die Anwesenden, die ziemlich zahlreich geworden waren, machte das Geständniß keinen günstigen Eindruck. Viele sagten, sie möchten wissen, was nun mit dem seidenen Kleide werden würde und andere äußerten sich spottend über des Mädchens Gelehrsamkeit. Jedes anwesende Frauenzimmer fand Gelegenheit, Abscheu von der armen Jenny auszusprechen, die alles geduldig ertrug, nur nicht die Bemerkung der einen, welche die Nase rümpfte und sagte: »Der Mann muß einen guten Magen haben, der für solche Waare ein seidenes Kleid giebt.« Jenny antwortete darauf mit einer Bitterkeit, welche denjenigen wohl in Erstaunen setzen konnte, der ihre Ruhe bei allen Schmähungen ihres Fehltrittes beobachtet hatte; aber ihre Geduld war wahrscheinlich erschöpft, denn diese Tugend wird durch Uebung leicht ermüdet.

Jungfer Deborah, der ihre Nachforschungen über alle Hoffnung gelungen waren, kehrte triumphirend zurück und stattete zur festgesetzten Stunde dem Herrn Allworthy einen treuen Bericht ab.. Er war davon sehr überrascht, denn er hatte auch von den außerordentlichen Anlagen und der Bildung des Mädchens gehört, die er, mit einer kleinen Pfründe, einem benachbarten Geistlichen hatte geben wollen.

Miß Brigitte bekreuzigte sich und sagte, sie für ihren Theil könne von nun an von keinem Frauenzimmer mehr eine gute Meinung haben; denn Jenny hatte vorher das Glück gehabt, bei ihr in großer Gunst zu stehen.

Die kluge Haushälterin wurde darauf wiederum abgeschickt, um die unglückliche Sünderin zu dem Herrn 22 Allworthy zu holen, damit sie, nicht wie Einige hofften und Alle erwarteten, in das Zuchthaus gesteckt werde, sondern eine zuträgliche Ermahnung und einen Verweis erhalte, wie diejenigen, welchen eine dergleichen nützliche Lectüre behagt, in dem nächsten Kapitel lesen können.


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