Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Zweites Kapitel.

Der Held dieser großen Geschichte erscheint unter sehr schlimmen Anzeichen. Eine kleine Erzählung von so gemeiner Art, daß Viele dieselbe ihrer Beachtung unwerth halten werden. Ein paar Worte über einen Herrn und mehr über einen Jäger und einen Schulmeister.

Da wir uns vornahmen, als wir uns hinsetzten, um diese Geschichte zu schreiben, Niemandem zu schmeicheln, sondern unsere Feder gänzlich durch die Wahrheit leiten zu 101 lassen, so müssen wir unsern Helden in einer weit unvortheilhaftern Weise, als wir es wohl wünschten, auf die Bühne bringen und ehrlich, gleich bei seinem ersten Auftreten erklären, daß man in der Familie Allworthy's allgemein der Meinung war, er würde sicherlich einmal gehangen werden. Und wirklich, wie ich leider gestehen muß, diese Vermuthung hatte nur zu viel für sich, da der Junge von seinen ersten Jahren an eine Neigung zu vielen Lastern zeigte, namentlich zu einem, das so direct als irgend ein anderes zu dem Schicksale zu führen pflegt, das man ihm, wie erwähnt, voraus verkündigt hatte; er war nämlich bereits eines dreifachen Raubes überführt worden; er hatte einen Obstgarten geplündert, eine Ente aus einem Pächterhofe gestohlen und dem kleinen Blifil einen Ball aus der Tasche stibizt.

Die Laster des Knaben wurden überdies durch das unvortheilhafte Licht gesteigert, in welchem sie im Gegensatze zu den Tugenden des kleinen Blifil, seines Spielgenossen, erschienen, der so ganz verschieden von dem kleinen Jones war, daß nicht blos die Familie, sondern auch die ganze Nachbarschaft von seinem Lobe wiederhallte. Er war wirklich ein Knabe von vortrefflichem Character: mäßig, verschwiegen und fromm über sein Alter, welche Eigenschaften ihm denn auch die Liebe eines Jeden gewannen, der ihn kannte, während Tom Jones bei Niemanden gern gelitten war und viele laut ihre Verwunderung darüber äußerten, daß Herr Allworthy einen solchen Knaben zugleich mit seinem Neffen erziehen lasse, weil die guten Sitten desselben durch das böse Beispiel des erstern doch nothwendig verdorben werden müßten.

Ein Vorfall, der sich um diese Zeit zutrug, wird den Character der beiden Knaben dem Leser deutlicher erscheinen lassen, als es die längste Auseinandersetzung vermag.

102 Tom Jones, der, so schlecht er auch ist, doch der Held dieser Geschichte sein muß, hatte nur einen Freund unter den Dienstleuten im Hause, denn Jungfer Wilkins hatte ihn längst schon aufgegeben und war vollkommen mit ihrer Gebieterin wieder ausgesöhnt. Dieser Freund war der Jäger, ein lockerer Zeisig, der, wie man meinte, keine strengern Begriffe von mein und dein hatte, als der junge Herr selbst. Deshalb gab denn auch diese Freundschaft zu manchen beißenden Bemerkungen unter den Dienstleuten Anlaß, von denen die meisten entweder vorher schon Sprüchwörter waren oder dergleichen wurden und deren Witz in dem Satze liegt, man könne auf den Character eines Menschen nach dem Umgange schließen, den er habe.

Einige der schlechten Streiche, von denen wir oben drei Beispiele angeführt haben, mögen allerdings durch die Aufmunterungen von jenem Manne sich erklären lassen, der in einem Paar Fällen den Raub getheilt hatte, da der Jäger mit seiner Familie den Genuß der ganzen Ente und eines großen Theiles der Aepfel erhielt; da indeß Jones allein betroffen worden war, so mußte der arme Junge auch die Strafe und die Schande allein tragen, die ihm auch bei der folgenden Gelegenheit wieder zufielen.

An die Besitzung des Herrn Allworthy stieß das Gut eines ächten Wildhegers. Nach der großen Strenge, mit welcher Leute dieser Art die Tödtung eines Hasen oder eines Rebhuhns bestrafen, könnte man glauben, sie theilten den Aberglauben der Banianen in Indien, von denen viele, wie man sagt, ihr ganzes Leben der Pflege und Wartung gewisser Thiere widmen. Unsere englischen Banianen unterscheiden sich indeß von jenen dadurch, daß sie wohl das Wild vor andern Feinden schützen, selbst aber unbarmherzig dasselbe in Menge niederschießen, so daß man sie also jenes heidnischen Aberglaubens nicht wohl beschuldigen kann.

103 Ich habe indeß eine weit bessere Meinung von Leuten dieser Art als manche andere, da ich glaube, sie folgen der Ordnung der Natur und den guten Zwecken, die sie erreichen sollen, in umfassenderer Weise als viele andere. Wie Horaz sagt, daß es eine Art Menschen gäbe, fruges consumere nati, die dazu geboren wären, die Früchte der Erde zu genießen, so zweifle ich nicht, daß es andere giebt, feras consumere nati, die geboren und bestimmt sind, das Wild des Feldes zu verzehren, und ich glaube, Niemand wird läugnen, daß jene Gutsbesitzer diesen Zweck ihres Daseins erfüllen.

Der kleine Tom ging eines Tages mit dem Jäger zum Schießen aus und sie trieben dicht an der Grenze der Besitzung, welche das Schicksal, zur Erfüllung der weisen Absichten der Natur, einem der Wildverzehrer gegeben hatte, ein Volk Rebhühner auf, die hinüber flogen und von unsern beiden Jägern in einem Ginstergebüsch, etwa zwei- bis dreihundert Schritte von Herrn Allworthy's Eigenthum, bemerkt wurden.

Herr Allworthy hatte seinem Jäger streng, bei Verlust seiner Stelle, verboten, irgend einem seiner Nachbarn zu nahe zu treten, eben so wenig denen, welche in solchen Dingen weniger streng waren, als dem Besitzer jenes Gutes. In Hinsicht auf andere war dieses Verbot nicht immer genau befolgt worden; das Gebiet des Herrn aber, bei welchem die Rebhühner jetzt eine Zuflucht gesucht, hatte der Jäger nie zu betreten gewagt, weil der Character desselben bekannt genug war. Auch jetzt würde er es nicht gethan haben, hätte ihn nicht der junge Jagdlustige überredet, der durchaus die entflohenen Hühner verfolgen wollte. Da nun Tom inständig in ihn drang und der andere selbst ein leidenschaftlicher Jagdfreund war, so ließ er sich überreden, ging über die Grenze und schoß eins der Rebhühner.

104 Der Besitzer befand sich zu Pferde in geringer Entfernung von ihnen und als er den Schuß hörte, ritt er sofort dahin und traf den armen Tom, denn der Jäger selbst war in den dichtesten Theil des Ginsterdickichtes gesprungen, das ihn glücklich verbarg.

Der Mann durchsuchte den Knaben, fand das Rebhuhn bei ihm, wurde höchst aufgebracht und drohete, die Sache dem Herrn Allworthy anzuzeigen. Er hielt auch sein Wort, denn er ritt sofort nach Allworthy's Hause und beschwerte sich über dieses Verbrechen auf seinem Grund und Boden in so starken Ausdrücken und so bitterer Art, als wäre ein Einbruch in sein Haus geschehen und das werthvollste Geräthe aus demselben entwendet worden. Er setzte hinzu: es sei noch eine andere Person dabei gewesen, ob er gleich dieselbe nicht habe entdecken können, denn es wären zwei Schüsse fast in demselben Augenblicke gefallen. »Wir haben zwar nur dieses eine Rebhuhn gefunden, aber Gott weiß, welcher Schaden sonst angerichtet worden ist!«

Nach seiner Zurückkunft wurde Tom sogleich zu dem Herrn Allworthy beschieden. Er gestand die Sache ein und führte keine andere Entschuldigung an als das, was wirklich wahr war, nämlich daß das Rebhühnervolk ursprünglich auf Herrn Allworthy's Grund und Boden aufgeflogen sei.

Tom wurde darauf befragt, wer noch bei ihm gewesen wäre, was Herr Allworthy durchaus erfahren zu müssen erklärte, der den Schuldigen auf den Umstand mit den zwei Schüssen aufmerksam machte; Tom aber blieb bei der Behauptung, er sei ganz allein gewesen, wenn er auch im Anfange etwas zögerte, was Herrn Allworthy in seinem Glauben bestärkt haben würde, hätte die Angabe des Nachbars und dessen Dieners noch eine Bestätigung bedurft.

Es wurde nun nach dem Jäger geschickt, da dieser eine verdächtige Person war, und derselbe ebenfalls befragt; er 105 verließ sich indeß auf das Versprechen, das ihm Tom gegeben hatte, Alles auf sich zu nehmen und läugnete beharrlich, bei dem jungen Herrn gewesen zu sein oder denselben überhaupt an dem ganzen Nachmittage gesehen zu haben.

Herr Allworthy wendete sich darauf mit mehr als gewöhnlichem Zorne im Gesichte von Neuem an Tom, rieth ihm zu gestehen, wer bei ihm gewesen sei und wiederholte, er sei fest entschlossen, die Wahrheit zu ermitteln. Der Knabe blieb indeß bei seinem Vorsatze und wurde in hohem Zorne von Allworthy entlassen, der ihm sagte, es solle ihm bis den nächsten Morgen Bedenkzeit gegeben werden; dann würde eine andere Person und auf andere Weise fragen.

Der arme Jones verbrachte eine traurige Nacht, um so mehr, da ihm sein gewöhnlicher Gefährte fehlte, denn der kleine Blifil war mit seiner Mutter zum Besuche auswärts. Die Furcht vor der Strafe, die er zu erleiden haben würde, war in diesem Falle sein geringstes Uebel; seine hauptsächlichste Angst beruhete darin, daß seine Beständigkeit ihn verlassen und er verleitet werden könnte, den Jäger zu verrathen, dessen Unglück die Folge davon sein müßte.

Der Jäger selbst befand sich in keiner bessern Lage. Er hegte dieselben Besorgnisse wie der Knabe, dessen Ehre ihm mehr am Herzen lag als die Haut.

Am andern Morgen, als Tom zu dem Herrn Thwackum kam, dem Manne, welchem Herr Allworthy die Erziehung der beiden Knaben anvertrauet hatte, wurden ihm von demselben eben die Fragen vorgelegt, welche er schon am Abende vorher gehört hatte und er gab darauf gleiche Antwort. Die Folge davon war eine so derbe Züchtigung, daß sie wahrscheinlich wenig der Tortur nachstand, durch welche man in manchen Ländern Verbrecher zum Geständnisse bringt.

Tom ertrug diese Strafe mit großer Fassung, und obgleich ihn sein Lehrer nach jedem Streiche fragte, ob er 106 nicht gestehen wollte, so hätte er sich doch lieber blutig schlagen lassen, als daß er seinen Freund verrieth und sein gegebenes Versprechen brach.

Der Jäger war nun seiner Angst ledig und Herr Allworthy fing an, sich die Leiden Toms zu Herzen zu nehmen; denn ungerechnet, daß Thwackum im höchsten Unwillen darüber, daß er den Knaben nicht dahin bringen konnte, das zu sagen, was er gern gehört hätte, in der Strenge weit über die Absichten des guten Mannes hinausgegangen war, fing der letztere auch an, die Meinung zu hegen, sein Nachbar könne sich doch wohl geirrt haben, was der Eifer und der Zorn desselben wahrscheinlich zu machen schien. Auf das, was die Dienstleute zur Bestätigung der Angaben ihres Herrn sagten, legte er kein großes Gewicht. Da nun aber Grausamkeit und Ungerechtigkeit zwei Dinge waren, deren sich schuldig gemacht zu haben Herr Allworthy keinen Augenblick sich bewußt sein konnte, so ließ er Tom zu sich rufen und sagte nach vielen gütigen und freundlichen Ermahnungen: »ich bin überzeugt, mein liebes Kind, daß ich Dir durch meinen Argwohn Unrecht gethan habe.« Zuletzt gab er ihm zur Entschädigung ein kleines Pferd und wiederholte nochmals, daß ihm das Geschehene leid sei.

Die Röthe der Schuld stieg Tom erkennbarer in das Gesicht als es bei Anwendung der Strenge der Fall sein konnte. Er hatte leichter die Schläge Thwackum's ertragen, als den Edelmuth Allworthy's. Die Thränen stürzten ihm aus den Augen, er fiel auf seine Knie nieder und sprach: »ach, Herr, Sie sind zu gütig gegen mich. Wahrhaftig Sie sind es und ich verdiene es nicht.« Sein Herz war ihm so voll, daß er in diesem Augenblicke sein Geheimniß beinahe verrathen hätte, aber der gute Genius des Jägers flüsterte ihm zu, welche Folgen dies für den armen Mann haben möchte und diese Rücksicht verschloß ihm den Mund.

107 Thwackum bot alles auf, um Allworthy davon abzubringen, Mitleid oder Freundlichkeit gegen den Knaben zu zeigen, sagte, derselbe sei bei einer Unwahrheit geblieben und deutete darauf hin, eine Wiederholung der Züchtigung dürfte die Sache wahrscheinlich an das Licht bringen. Herr Allworthy weigerte sich jedoch, seine Zustimmung zu diesem Versuche zu geben und sagte, der Knabe habe bereits genug gelitten für die Verheimlichung der Wahrheit, selbst wenn er schuldig sei, zumal da er keinen andern Beweggrund dazu haben könnte, als mißverstandenes Ehrgefühl.

»Ehrgefühl!« wiederholte Thwackum mit einiger Wärme, »bloß Hartnäckigkeit und verstockter Sinn. Kann Ehrgefühl Jemanden veranlassen, eine Lüge zu sagen oder kann Ehrgefühl unabhängig von Religion bestehen?«

Dieses Gespräch wurde bei Tische zu Ende der Mahlzeit geführt. Gegenwärtig waren Herr Allworthy, Herr Thwackum und ein dritter Herr, der jetzt an der Erörterung Antheil nahm und mit welchem wir, ehe wir weiter gehen, den Leser bekannt machen wollen.


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