Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Viertes Kapitel.

Der Hals des Lesers kommt durch eine Beschreibung in Gefahr; sein Entrinnen und die große Herablassung der Miß Brigitte Allworthy.

Der gothische Baustyl kann nichts edleres hervorbringen, als das Haus des Herrn Allworthy. Es lag etwas Großartiges in demselben, das die Seele mit ehrfurchtsvollem Schauer erfüllte, und glich den Schönheiten der besten griechischen Bauwerke. Auch war es innen so bequem als außen ehrwürdig.

Es stand an der Südostseite eines Hügels, näher am Fuße als am Gipfel desselben und war vor dem Nordostwinde durch einen Hain alter Eichen geschützt, die fast eine halbe englische Meile weit am Hügel hinauf wuchsen, doch hoch genug, daß es eine reizende Aussicht auf das Thal unten gewährte.

In der Mitte des Haines führte ein schöner Gang sanft abschüssig nach dem Hause hinunter und oben am Ende sprudelte ein wasserreicher Quell aus einem von Fichten bewachsenen Felsen hervor und bildete einen etwa dreißig Fuß hohen Fall, der nicht auf regelmäßigen Stufen herabgeleitet wurde, sondern natürlich über zerbrochene, moosbewachsene Steine bis an den Fuß des Felsens stürzte; dann floß er in einem Kieselbette mit vielen kleinern Fällen fort, 12 bis er in einen Teich am Fuße des Hügels, unfern dem Hause an der Südseite, gelangte, den man aus jedem Zimmer von der Vorderseite sah. Aus diesem kleinen See, der in der Mitte einer schönen, mit Buchen und Erlen geschmückten und von Schafen belebten Ebene lag, kam ein Fluß heraus, der sich mehrere (engl.) Meilen weit durch eine unendliche Menge von Wiesen und Waldungen schlängelte, bis er in das Meer sich ergoß. Ein Arm desselben und eine Insel darüber hinaus begrenzten die Aussicht.

Rechts von diesem Thale öffnete sich ein kleineres, das mit mehrern Dörfern geschmückt war und in einem epheuumrankten Thurme einer alten verfallenen Abtei, so wie einem Theile der Frontseite derselben endigte.

Links zeigte sich ein sehr schöner Park mit Thal und Hügel, Durchsichten und Wasser, der äußerst geschmackvoll angelegt war, aber mehr noch der Natur als der Kunst verdankte. Jenseits erhob sich das Land allmälig in eine Kette rauher wildschöner Berge, deren Gipfel über die Wolken ragten.

Es war eben die Mitte des Mai und der Morgen wunderschön, als Herr Allworthy auf die Terrasse trat, wo das beginnende Tageslicht jene reizende Aussicht, die wir eben beschrieben haben, seinem Auge mit jeder Minute mehr und mehr enthüllte. Und jetzt ging die Sonne, nachdem sie Ströme von Licht entsendet, die an dem blauen Firmamente vor ihr emporstiegen als Boten ihrer Herrlichkeit, in der ganzen Strahlenpracht ihrer Majestät auf. Nur ein Wesen in dieser niedern Schöpfung konnte herrlicher sein als sie und dies war Herr Allworthy, ein Mann mit dem wohlwollendsten Herzen, der sich eben mit dem Gedanken beschäftigte, in welcher Weise er sich seinem Schöpfer angenehmer mache, indem er den Geschöpfen desselben des meiste Gute erzeige. Leser sieh Dich vor. Ich habe Dich 13 unvorsichtig auf eine Höhe geführt, gleich dem Gipfel des Hügels Allworthy's, und ich weiß nun nicht, wie ich Dich wieder herunterbringe, ohne daß Du den Hals brichst. Wir wollen versuchen, neben einander hinabzugleiten, denn die Klingel der Miß Brigitte ertönt und Herr Allworthy wird zum Frühstück gerufen, bei dem ich zugegen sein muß und zu welchem Du mich begleiten magst, wenn es Dir gefällig ist.

Nachdem die gewöhnlichen Complimente zwischen Herrn Allworthy und Brigitten vorüber waren und sie den Thee eingeschenkt hatte, rief er die Jungfer Wilkins und sagte seiner Schwester, er habe ein Geschenk für sie. Sie dankte ihm dafür, denn sie meinte wohl, es sei ein Kleid oder irgend ein Schmuck. Er machte ihr öfters solche Geschenke und sie verwendete, ihm zu Gefallen, ziemlich viel Zeit auf ihren Putz. Ich sage, »ihm zu Gefallen«, weil sie selbst sich immer sehr verächtlich über den Putz und die Frauenzimmer äußerte, welche sich viel damit beschäftigten.

Wie sehr wurde ihre Erwartung getäuscht, wenn sie wirklich einen Schmuck zu erhalten hoffte, als die Jungfer Wilkins in Folge des Befehls, den sie von ihrem Herrn erhalten hatte, das kleine Kind brachte! Bei großen Ueberraschungen pflegt der Mensch zu schweigen; so schwieg auch Brigitte, bis ihr Bruder das Wort nahm und ihr den ganzen Hergang erzählte, den wir nicht wiederholen wollen, da er dem Leser bereits bekannt ist.

Miß Brigitte hatte immer so große Stücke auf das gehalten, was die Frauen Tugend zu nennen belieben und dieselbe stets so streng geübt, daß man, namentlich Jungfer Wilkins, erwartete, sie würde sich bei dieser Gelegenheit sehr bitter aussprechen und dafür stimmen, das Kind, als sei dasselbe ein schädliches Geschöpf, aus dem Hause fortzuschaffen; indeß sie faßte die gute Seite der Sache auf, äußerte Theilnahme und Mitleid mit dem hilflosen kleinen 14 Wesen und rühmte ihres Bruders Gutmüthigkeit in dem, was er gethan.

Der Leser kann sich dies Benehmen vielleicht aus ihrem Gehorsam gegen den Herrn Allworthy erklären, wenn wir hinzugesetzt haben, daß der gute Mann seine Erzählung mit dem Ausspruch beschloß, er sei entschlossen, sich des Kindes anzunehmen und dasselbe zu erziehen, als sei es sein eigenes. Wir müssen die Wahrheit gestehen und sagen, daß sie immer bereitwillig war, ihrem Bruder gefällig zu sein und ihm selten, wenn jemals, entgegentrat. Sie machte zwar bisweilen einige Bemerkungen und Einwendungen, z. B. die Männer wären nun einmal eigensinnig und wollten immer ihren eigenen Weg gehen, oder sie wünsche, sie sei unabhängig, aber sie äußerte dies immer ganz leise und brachte es dabei höchstens bis zum Murmeln.

Was sie indeß dem Kinde nicht entgelten ließ, mußte die arme unbekannte Mutter desselben im reichlichen Maße leiden, denn sie nannte dieselbe einen unverschämten Nickel, ein schlechtes Mensch, eine gemeine Hure und mit ähnlichen Namen, welche die Zunge der Tugend stets gegen die schleudert, welche dem Geschlechte Schande gemacht haben.

Zuletzt wurde eine Berathung gehalten, wie man es anfange, um die Mutter ausfindig zu machen. Zuerst ging man die Dienerinnen im Hause durch, welche sämmtlich von der Jungfer Wilkins freigesprochen wurden und zwar etwas selbstgefällig, denn sie hatte dieselben ins Haus gebracht und es dürfte schwer sein, eine zweite ähnliche Sammlung von Vogelscheuchen zusammenzubringen. Darauf sah man sich unter den Mädchen in dem Kirchspiele um; die nähere Untersuchung dieses Punktes wurde indeß der Jungfer Wilkins überlassen, die versprach, am Nachmittage Bericht abzustatten.

Nachdem die Sache so geordnet war, begab sich Herr 15 Allworthy in sein Studirzimmer, wie gewöhnlich, und überließ das Kind seiner Schwester, welche die Pflege desselben auf seinen Wunsch über sich genommen hatte.


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