Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil I
Henry Fielding

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Neuntes Kapitel.

Ein Beweis von der Unfehlbarkeit des vorstehenden Receptes in den Klagen der Witwe, nebst ähnlichen passenden Leichendecorationen, z. B. Aerzten, und einer Grabschrift in ächtem Style.

Herr Allworthy, seine Schwester und eine andere Dame befanden sich zu der gewöhnlichen Stunde in dem Speisezimmer, und als sie ansehnlich länger gewartet hatten als gewöhnlich, meinte Allworthy, er fange an, wegen des Ausbleibens des Capitains besorgt zu werden (der sich bei Tische immer sehr pünctlich einfand), und befahl die 92 Glocke draußen vor der Thüre und namentlich nach den Gängen hin zu läuten, welche der Capitain zu besuchen pflegte.

Da alle diese Aufforderungen vergeblich blieben (denn der Capitain war zufällig diesen Abend einen andern Weg gegangen), so erklärte seine Frau, sie sei ernstlich besorgt. Die andere Dame, eine vertraute Freundin, welche den eigentlichen Zustand der Liebe der Mad. Blifil genau kannte, bot darauf alles auf, um sie zu beruhigen und sagte, sie fürchte allerdings auch etwas Schlimmes, man müsse aber immer das Beste hoffen. Der schöne Abend habe vielleicht den Capitain verleitet, weiter als gewöhnlich zu gehen, auch werde er vielleicht von einem Nachbar zurückgehalten. Madame Blifil entgegnete, nein, sie sei überzeugt, es sei ihm ein Unfall zugestoßen, denn er bleibe nie aus, ohne ihr Nachricht zu geben, da er wisse, wie besorgt sie seinetwegen sei. Die andere Dame, die keine andern Gründe aufzuwenden hatte, nahm ihre Zuflucht nun zu den bei solchen Gelegenheiten gebräuchlichen Bitten, ersuchte sie, sie möge sich doch nicht ängstigen, denn es könne dies ihr selbst nachtheilig sein, schenkte ihr ein großes Glas voll Wein ein und rieth ihr, sie möge dies austrinken, wozu sie die Freundin denn endlich auch vermochte. Allworthy, der selbst hinausgegangen war, um den Capitain zu suchen, kam jetzt zurück. In seinen Zügen sprach sich deutlich genug seine Bestürzung aus, die ihm fast die Sprache geraubt hatte; da aber der Kummer auf verschiedene Gemüther verschieden wirkt, so gab das, was seine Stimme gedämpft hatte, jener der Madame Blifil noch mehr Kraft. Sie fing an, sich in den bittersten Ausdrücken zu beklagen und Thränenströme begleiteten ihren Jammer. Die Dame, ihre Freundin, meinte, sie könne sie darum nicht tadeln, rieth ihr aber doch gleichzeitig davon ab und versuchte, den Gram ihrer Freundin durch philosophische Betrachtungen über die vielfachen 93 Täuschungen und Widerwärtigkeiten zu mäßigen, denen das menschliche Leben täglich ausgesetzt sei und die uns veranlassen müßten, uns gegen jeden Unfall zu stärken, wie plötzlich er kommen und wie schrecklich er sein möge. Sie sagte, ihres Bruders Beispiel müsse sie Geduld lehren, denn wenn er auch nicht so sehr berührt werde, als sie selbst, so fühle er doch gewiß auch Besorgniß, aber sein Vertrauen auf die göttliche Weisheit halte seinen Gram in den gehörigen Schranken.

»Erwähnen Sie meinen Bruder nicht,« fiel Mad. Blifil ein; »ich allein bin der Gegenstand Ihres Mitleides. Was sind die Besorgnisse der Freundschaft gegen das, was eine Gattin in solchen Fällen fühlt? Ach, er ist verunglückt! Er ist ermordet worden, – ich werde ihn nicht wiedersehen!« Ein Thränenstrom bewirkte jetzt dasselbe bei ihr, was das Vertrauen auf die göttliche Vorsehung bei Allworthy gethan hatte, – sie schwieg.

Während dieser Pause kam ein Diener athemlos herein und sagte: »Der Herr Capitain ist gefunden worden!« Ehe er weiter sprechen konnte, folgten ihm zwei andere, welche den todten Körper trugen.

Hier kann der aufmerksame Leser eine andere Verschiedenheit in den Wirkungen des Grames beobachten; wie vorher Allworthy um der Sache willen still gewesen war, die seine Schwester zu lautem Jammer gebracht hatte, so preßte der gegenwärtige Anblick Thränen in die Augen des trefflichen Mannes, während er die der Dame vertrocknete, die zuerst einen Schrei ausstieß und dann in Ohnmacht fiel.

Das Zimmer war bald voll von Dienstleuten, von denen einige nebst der Freundin sich um die Gattin des Verstorbenen bemüheten, während andere mit Allworthy den todten Körper in ein warmes Bett trugen und alles versuchten, um ihn wieder ins Leben zu rufen.

94 Wir würden uns freuen, könnten wir dem Leser berichten, daß sich bei beiden Gatten gleicher Erfolg gezeigt hätte. Diejenigen, welche sich um die Dame bemüheten, thaten dies mit solchem Glücke, daß dieselbe nach einer schicklichen Zeit wieder zu sich kam; bei dem Capitain aber blieb alles Aderlassen, Wärmen, Reiben u. s. w. ohne Wirkung. Der Tod, der unerbittliche Richter, hatte sein Urthel gesprochen und weigerte sich, dasselbe zurückzunehmen, obgleich bald zwei Aerzte ankamen.

Diese zwei Aerzte, die wir Dr. Y. und Dr. Z. nennen wollen, fühlten nach dem Pulse, nämlich Dr. Y. am rechten und Dr. Z. am linken Arme, und gaben darauf einstimmig die Erklärung, der Capitain sei vollkommen todt. Wegen der Krankheit aber, oder der Todesursache stimmten sie nicht überein, denn Dr. Y. meinte, er sei an Apoplexie gestorben, Dr. Z. dagegen behauptete, an Epilepsie.

Daraus folgte ein Streit zwischen den Gelehrten, in welchem jeder die Gründe seiner Meinung angab. Diese waren von so ganz gleichem Gewichte, daß sie nur dazu dienten, jeden Arzt in seiner Ansicht zu bestärken und nicht den geringsten Eindruck auf den Gegner machten.

Es ist ja bekannt, daß fast jeder Arzt seine Lieblingskrankheit hat, welcher er alle Siege über die menschliche Natur zuschreibt. Die Gicht, der Rheumatismus, der Blasenstein, die Auszehrung haben ihre verschiedenen Freunde in der Facultät; die meisten aber hat wohl das Nervenfieber, und das ist vielleicht auch die Ursache der verschiedenen Meinung über die Veranlassung des Todes eines Patienten, welche sich bisweilen unter den gelehrtesten Aerzten kund giebt und diejenigen sehr in Verwunderung setzt, welchen der oben angegebene Umstand unbekannt ist.

Der Leser wundert sich vielleicht, daß die gelehrten Herren, statt Versuche zu machen, den Patienten wieder zu 95 beleben, sogleich in Streit geriethen über die Veranlassung zu seinem Tode; aber alle jene Versuche waren bereits vor ihrer Ankunft gemacht worden und sie wußten nicht, wie sie die Zeit hinbringen sollten, die sie für das Geld, das sie erhielten, nothwendiger Weise dableiben mußten; sie sahen sich also genöthiget, irgend einen Gesprächsgegenstand ausfindig zu machen, und was konnte natürlicher sein, als daß sie über die Todesursache sprachen?

Die Aerzte wollten sich eben wieder entfernen, als Herr Allworthy, der den Capitain aufgegeben und sich in den göttlichen Willen ergeben hatte, nach seiner Schwester fragte und die Aerzte aufforderte, dieselbe vor ihrer Abreise zu besuchen.

Die Dame war aus ihrer Ohnmacht wieder zu sich gekommen und befand sich, um eine gewöhnliche Redensart zu gebrauchen, nach den Umständen ganz wohl. Die Aerzte begaben sich nach Allworthy's Wunsche zu ihr und jeder ergriff einen Arm, wie sie es bei der Leiche gethan hatten.

Die Dame befand sich in dem andern extremen Falle; denn sie bedurfte keiner ärztlichen Hilfe, wie ihrem Manne keine mehr nützen konnte.

Nichts kann unrichtiger sein, als die gewöhnliche Meinung, die Aerzte wären Freunde des Todes. Im Gegentheil, ich glaube, wenn man die Zahl derer, welche durch Arzneien wieder genesen, jener gegenüberstellen könnte, die ihr zum Opfer fallen, so würde die erstere überwiegen. Ja, manche Aerzte sind so vorsichtig und gewissenhaft, daß sie, um der Möglichkeit zu entgehen, den Patienten umzubringen, nur Dinge verschreiben und anwenden, die weder schaden noch nützen können. Einige von diesen habe ich in allem Ernste behaupten hören, »man müsse es der Natur überlassen, das Ihrige zu thun, während der Arzt dabei stehe und sie gleichsam auf die Achsel klopfe und sie ermuntere, wenn sie es gut mache.«

96 Unsere Aerzte liebten den Tod so wenig, daß sie um den Todten sich gar nicht weiter kümmerten; weniger unangenehm aber war ihnen der lebendige Patient, über dessen Fall sie sogleich übereinstimmten.

Ob, wie die Dame im Anfange die Aerzte verleitet hatte, sie für krank zu halten, diese sie nun überredeten, sich selbst wirklich für krank zu halten, will ich nicht entscheiden, aber sie behielt einen ganzen Monat lang die Decorationen der Krankheit bei. Sie wurde diese Zeit hindurch von Aerzten besucht und von Wärterinnen gepflegt und erhielt fortwährend Anfragen von ihren Bekannten, die sich nach ihrem Befinden erkundigten.

Als endlich die schickliche Zeit des Krankseins und des unmäßigen Grames vorüber war, wurden die Aerzte entlassen und die Dame fing an, Gesellschaft zu suchen; auch war sie gegen sonst nur durch die Farbe der Trauer verändert, in die sie ihre Person und ihr Gesicht gekleidet hatte.

Der Capitain war begraben und hätte vielleicht schon einen großen Schritt nach der Vergessenheit hin gethan, wäre nicht Allworthy aus Freundschaft bewogen worden, das Andenken desselben durch die nachstehende Grabschrift zu erhalten, die ein höchst geistreicher und wahrheitliebender Mann verfaßte, der den Capitain genau kannte.

Hier liegt

in Erwartung einer fröhlichen Auferstehung

der Körper des

Capitain John Blifil.

In London
war er geboren;
in Oxford
wurde er gebildet.
97 Seine Talente
ehrten seinen Stand
und sein Vaterland;
sein Leben
war würdig der Religion
und der Menschheit.
Er war ein gehorsamer Sohn,
ein zärtlicher Gatte,
ein liebevoller Vater,
ein treuer Bruder,
ein wahrer Freund,
ein frommer Christ
und ein guter Mensch
Seine untröstliche Wittwe
errichtete diesen Grabstein
als ein Zeugniß
seiner Tugend
und ihrer Liebe.

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