Otto Ernst
Satiren, Fabeln, Epigramme, Aphorismen
Otto Ernst

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23. Kapitel.

Die Barmherzigkeit riecht unangenehm.

Als die Cherusker und Markomannen, die Langobarden und Semnonen des Stammtisches sich wieder einmal über ihre verschiedenen Vortrefflichkeiten unterhielten, traf ein Extrablatt am Tische ein und verkündete nicht mehr und nicht weniger als die Vernichtung der Russen bei Tannenberg. Diese Nachricht und diese Tat waren nun allerdings so groß, daß man tagelang darüber vergaß, ob Hindenburg ein Preuße oder ein Türke sei. Und als nun gar zwei Wochen darauf derselbe Hindenburg zwei russische Armeen vernichtete, da vollzog sich in unseres Augustus Seele ein gleich gewaltiger Umschwung. Seine »blauen Jungens« traten vollständig in den Hintergrund. »Unser Hindenburg!« – er hatte seine Marine-Anteilscheine verkauft und Hindenburg-Kuxe genommen – »unser Hindenburg, meine Herrn, Junge, Junge, Junge, der bringt den Krieg in vier Wochen zu Ende, das soll'n Sie man mal sehn! Denken Sie mal daran, was ich gesagt habe, meine Herrn!«

Und dann ließ er eine Landkarte kommen und nahm die Teilung der Erde vor.

»Nehmt hin die Welt!« sprach August zu den Deutschen,
»Nehmt, sie soll euer sein!«

Und mit dem Daumennagel zeichnete er nach einem ziemlich geradlinigen Verfahren das künftige Deutschland in die Karte.

»Das nehmen wir,« sagte er schlicht. »Un das. Un das.« Und so weiter. Allerdings: so freigebig er verteilte, was andere Leute erobert hatten – er ließ den Feinden immerhin noch mehr als uns die Franzosen, die uns auf Thüringen beschränkten, und als die Engländer, die von Deutschland nur die Skelette der verhungerten Einwohner übrigließen.

»Unser Hindenburg! Unser Hindenburg!« Wenn es nach unserm August gegangen wäre, dann wären alle andern Heerführer und Offiziere kaltgestellt worden – du lieber Gott, was waren das alles für Nachtlichter gegen seinen Hindenburg! – und alle Soldaten wären nach Hause geschickt worden; nur Hindenburg wäre abwechselnd an der West- und Ostfront erschienen, ohne Kanonen, ohne Säbel, ohne ein Taschenmesser, und der Krieg wäre erledigt gewesen. So war nun diese schlichte, einfache, rechtwinklig gebaute Seele! Wo sie einmal bewunderte, da gab sie sich ganz, gab sie sich schrankenlos hin. Wenn die großen Männer manchmal wüßten, wie sie verehrt werden, von wem sie bewundert werden! Hindenburg schlug seine Schlachten und ahnte nicht, daß er Gutbiers Hindenburg war. Freilich kam eine Zeit, da Hindenburg in der Wertschätzung seines Gönners sank; aber das war später; vorläufig war der Herr der himmlischen Heerscharen nur ein Adjutant des Generals von Hindenburg.

Deutschlands Frauen haben sich immer ihrer Männer würdig gezeigt; niemand wird von Line Gutbier und ihren Töchtern Lulu und Adrienne etwas anderes erwartet haben. Mit genialem Instinkt begriff Line, daß Deutschland wirtschaftlich durchhalten müsse. Sie entließ darum das eine ihrer Dienstmädchen und setzte das andere im Lohn herab. Sie wußte noch aus der Schule, daß Kriege Teuerungen im Gefolge haben, und sie kaufte vom Mobilmachungstage an alles an Mühlenfabrikaten, Teigwaren, Kolonialwaren, Fettwaren, Konserven, Stiefeln, Kleiderstoffen usw., was sich kaufen und ohne Schaden aufheben läßt. Einen Kavalier entehrt es eigentlich, in einen Kramladen zu gehen und Nudeln zu kaufen; aber August Gutbier beugte sich gern der harten Notwendigkeit der Zeit und brachte ohne falsche Scham unter dem Schleier der Nacht zehn Pfund Nudeln und zehn Pfund Hafergrütze ins Haus.

Lulu und Adrienne inzwischen weihten ihr jungfräuliches Fühlen dem Dienste der Barmherzigkeit. Sie meldeten sich als freiwillige Krankenschwestern und suchten gemeinsam mit ihrer Mutter vier Stunden lang in sieben Geschäften gewissenhaft nach den kleidsamsten und dennoch billigsten Kleidern und Schwesternhäubchen.

»Es steht ihnen reizend,« sagten August und Line.

»Ja, meine Töchter haben sich natürlich als freiwillige Krankenschwestern gemeldet,« sagte August am Stammtisch, »natürlich nur bei Offizieren.«

Ja, selbstverständlich nur bei Offizieren wollten sie Pflege tun. Aber Lulu, die relativ Hübschere, kam gerade an jenen launigen Oberarzt, der die Damen beim Antritt ihres Dienstes versammelte und also anhub:

»Diejenigen unter Ihnen, meine Damen, die nur Offiziere pflegen wollen, bitte ich, auf die rechte Seite zu treten, die anderen auf die linke.«

Da war Lulu Gutbier zur Rechten gegangen, und dann hatte der Mann zu den Damen auf der Rechten gesagt: »Sie können wieder nach Hause gehen; denn Sie kann ich nicht brauchen.«

»Der alte Kerl!« hatte Lulu gesagt; aber im Grunde war ihr dieser schlichte Abschied gar nicht unrecht; die Barmherzigkeit hatte schon am Eingang schrecklich nach Jodoform gerochen, und dies Parfüm liebte sie nicht.

Adrienne, die Ältere, hielt viel länger aus, mindestens vier Wochen. Sie sagte am ersten Tage, als sie heimkam, es sei »furchbar intresant«; am zweiten Tage sagte sie, es sei »intresant«; vom dritten Tage an sagte sie nichts mehr. Ei ja, Krieg ist schwer. Sie erhielt verschiedene Anschnauzer, weil sie der Ansicht war, daß Töchter höherer Stände die Umschläge nicht so oft zu erneuern brauchen wie Töchter niederer Stände. Die schlimmste Erfahrung aber lag anderswo. Der Thermophor ihres Herzens verströmte seine Gluten umsonst. Sie hatte das heiße Herz ihres Vaters und die Nasenwarze der Mutter. Aber diese Männer, obwohl durch Wunden und Krankheit körperlich und seelisch herabgedrückt und geschwächt, obwohl des Umgangs mit Frauen schmerzlich entbehrend und obwohl zum Teil so übel zugerichtet, daß sie, allzu große Ansprüche erheben zu dürfen, nicht mehr hoffen konnten – für Adrienne wollten sie sich nicht entscheiden. Nicht nur, daß kein Offizier sich von ihr zum Gefreiten befördern lassen wollte – auch kein Gemeiner wollte ihr Premier werden. In bitterem Weh über den Undank der Welt zog sie sich ins Privatleben zurück, klappte den Klavierdeckel auf und spielte: »Emil, mach mir mal die Bluse zu.«

Mutter Line hatte indessen eine andere Betätigung ihrer Vaterlandsliebe gefunden und entwickelte auf diesem Felde Ausdauer und Heftigkeit. Es war das Feld der Frauenmode. Sie bekämpfte die französische Mode, und das war brav von ihr; aber sie verwechselte standhaft »deutsch« und »Line« miteinander, und das war unbrav. Ganz zufällig hatte die Mode mal einen guten Einfall gehabt und hatte die Frauenröcke kürzer gemacht, damit man die Füße sehe. Es gibt ja kaum etwas Reizenderes als ein paar zierlicher, hübsch beschuhter und bestrumpfter Frauenfüße. Line fand das nicht. Sie fand diese Mode überflüssig; sie verlangte lange Kleider, bis auf den Fußboden; denn ihre Füße sah man immer. Sie fand diese Mode aber auch bodenlos schamlos, und wenn sie auf der Straße solch einem verlorenen Geschöpf begegnete, dann –

Hast du's, lieber Leser, einmal gehört und gesehen, wenn der Maschinist einen Hahn öffnet und überschüssigen Dampf abläßt, damit der Kessel nicht platze?

»Tschschschschschschsch ...« macht es, nicht wahr? Nun, so – mußt du dir denken – so zischte Line Gutbier mit Zwölfatmosphärendruck: »Frchs Gschpf!!!« vor sich hin, wenn sie solch einer begegnete.

»Frchs Gschpf!!!«

Das sollte eigentlich heißen: »Freches Geschöpf!«, aber die Konsonanten drängten mit so sittlicher Wucht nach vorn, daß die Vokale nicht zur Entwicklung kamen. Line brachte denn auch die Damen des Vororts Fuhlenbek zu einer geharnischten Protestversammlung gegen fremde und einheimische Frivolität in der Mode zusammen. Dem Ernst der Sache entsprechend, ergriffen nur Frauen zwischen vierzig und neunzig das Wort und vertraten mehr oder minder heftig die wohlbegründete Anschauung, der menschliche Körper, besonders der weibliche, sei etwas so Niederträchtiges, daß man ihn auf jede Weise verbergen müsse. Dieses lichtscheue Treiben fand, wie begreiflich, die wohlwollendste Unterstützung der Polizei. Line Gutbier war sozusagen die Rosa Luxemburg dieser Bewegung; ihre Anschauungen blieben richtunggebend, Anschauungen, die wir, nach ihrem Namen, zusammenfassend als Linealismus bezeichnen können.

 


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