Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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Salzburg 30. Nov.

In Nebel gehüllt durchs Neutor nach der Riedenburg zum Asyl. Eine Schwester öffnet und läßt uns in ein einfenstriges Zimmer. Schmal. Ein runder Tisch, ein Kasten, ein kleiner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Sofa, Heiligenbilder, ein Kreuz und ein Ofen, schön warm. Wie Helene Odilon auf uns zutritt, grau geworden, mühsam am Stocke, sind wir im ersten Augenblick ebenso verlegen wie sie. »Es hat schwer gehalten,« sag ich, »dich endlich aufzustöbern! Ich soll mich nämlich erkundigen, ob es wahr ist. Der Verdacht war entstanden, eine Hochstaplerin hätte deinen Namen mißbraucht.« »Nein,« antwortet sie. »Leider nicht! Die Hochstaplerin bin schon ich selber.« Und wie sie mich anblickt und lacht, wird sie mir auf einmal wieder ganz jung: es ist der arglistige Blick, der einst Berlin und Wien bezaubert hat, es ist das alte Lachen, das guttural gurrende Lachen, das Lachen ihrer Haubenlerche! Und auf einmal sind mir da die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre weg und sie führt mich wieder an der Hand hinaus, um dem meine Josefine frenetisch auszischenden Publikum ein Buckerl zu machen, während wir es uns ins Ohr mit den ausgesuchtesten Insulten verwünschen, und der liebe, dicke, schwitzende Bukovics steht wieder in der Kulisse, vor Aufregung ein Butterbrot essend; und jenes ganze Wien, die merkwürdige Kaiserkleinstadt, in ihren Wutanfällen, die so gutmütig waren, und ihren Begeisterungen, die auch nicht länger dauerten, gleich trügerisch, ist wieder da, nur viel schöner, als es damals war, weil doch alles nur vorher und nachher, in der Erwartung und in der Erinnerung, allein wirklich ist, im Augenblick aber, wo wir es erleben, zerrinnt, weil doch alles Aeußere wesenlos ist, weil wir ja, was immer wir erleben mögen, nichts als immer wieder nur uns erleben, nur uns selbst. Es ist die Helene Odilon, und wenn's um sie herum jetzt ein bißchen enger ist und sie sich auf der einen Seite nicht mehr ganz so flink bewegt, aus ihren Augen schießt, in ihrem Lachen lockt noch immer der anonyme Reiz, durch den einst so viele helle Berliner, so viele gaukelnde Wiener verrückt wurden. Sie hat auch noch ihren alten Stolz. Es wird ihr sichtlich schwer, mir einzugestehen, wie schlecht es ihr eine Zeit ergangen ist, so schlecht, daß sie sich schon wirklich nicht mehr zu helfen wußte. Gute Menschen erbarmten sich und sorgten für sie. Sie leide jetzt nicht mehr Not. »Ich hab's doch eigentlich ganz schön hier, was will ich denn mehr?« sagt sie, mit einem dankbaren Blick auf das Zimmerchen; ich muß unwillkürlich an ihre Wiener Wohnung denken, damals als sie's war, die, jahrelang, die Wiener Mode diktierte. Warum denken eigentlich die Wiener Schneider daran nicht? »In meiner Not«, sagt sie, »hat mir der liebe Gott geholfen, er wird weiter helfen.« Ich glaube das auch. Nur ist es, dächt ich, kein Grund, daß ihr nicht auch jene Wiener Schneider helfen könnten, die damals durch sie reich wurden. Und ich weiß nicht, ob sich das Deutsche Volkstheater noch erinnert, daß es ungefähr zehn Jahre lang von ihr gelebt hat.


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