Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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1. Mai

Dreißig Jahre sind's am heutigen Tag, daß ich im Sonnenschein durchs Böhmerland neugierig nach Berlin fuhr. Ich war im Herbst von Paris fort, Spanien hinab, hatte Velasquez erlebt, in Toledos vernichtendem Gelb und Tangers betörendem Weiß geschwelgt, nebenher mir meinen ersten Roman halb wie nachtwandlerisch erlungert, halb wieder der stockenden Kraft erbittert abgetrotzt und stand, nachdem ich in einer Nacht alles bis auf die letzte Peseta verspielt, eben davor, marokkanischer Journalist zu werden, als mir ein wildfremder Spanier bloß auf mein offenbar doch auffallend ehrliches Gesicht hin so viel lieh, daß ich über Algier, Marseille und Avignon nach Paris heimkehren konnte, mitten in den Frühling des ergrünenden Luxemburger Gartens hinein. Aus dieser Seligkeit riß mich ein Ruf nach Berlin. Ich sei nötig, schrieb mir Arno Holz, es gehe jetzt dort los, ich würde ja die Stadt kaum wiedererkennen! Und für Unterkunft sei gesorgt, die neue Wochenschrift der Jugend, von einem kühnen Verleger namens Fischer begründet, sei bereit, meinen Roman aufzunehmen, und mich selber in Person dazu. Wunderlich klang mir's. Berlin? Wie weit lag das jetzt von mir! Als Student war ich dort gewesen. Und ich hatte nicht vergessen, was ich diesen drei Jahren verdankte. Die Stadt war freilich anders, als sie sich der junge Burschenschafter geträumt hatte. Immerhin befand sie sich doch eher in Europa als das Wien jener Zeit. Auch die schärfere Luft ihrer Menschen tat mir gut; besonders das, was der alte Fontane »Unredensartlichkeit« zu nennen pflegte. Und wenn Ibsen, seiner Heimat entflohen, schrieb: »Ich mußte heraus aus der Schweinerei da oben, um einigermaßen sauber zu werden«, so kann ich sagen, daß ich erst in Berlin von unserer Schweinerei daheim einigermaßen sauber geworden bin; das werd ich dieser Stadt niemals vergessen können, so wenig als den Anblick Bismarcks, als ich im Fackelzug an seinem siebzigsten Geburtstag vor dem Fenster des Gewaltigen stand. Dieser preußische Junker ist doch seit Goethe wieder der erste deutsche Fall einer durchaus genialen Existenz gewesen, dabei von einer Freiheit, ja Willkür der Erscheinung, einem so spannenden romantischen, mitunter geradezu kolportageromantischen Reiz, dann aber auch wieder so furchtbar in sein Schicksal eingefangen, sich wie seinem Volke gleichsam selber das Schicksal in Person, daß aus diesem größten politischen zugleich auch ein ungeheures menschliches Ereignis wurde, ja ein elementares, ein Naturereignis, gleichsam als hätte die Natur damit einmal zeigen wollen, wie hoch sie mit dem Entwurf des Menschen eigentlich gezielt hat. Nein, was mir damals Berlin für ein ganzes Leben gab, das war auch in Paris nicht verblaßt! Aber jetzt, was sollte mir Berlin jetzt noch? Was konnte mir Berlin noch geben nach Paris? Augen und Ohren und die Seele hatte mir Paris eröffnet: das war der Ertrag des Pariser Jahres. Impressionisten lehrten mich sehen, Baudelaire, Flaubert und Barrès ließen mich, was Nietzsche die »Kammermusik der Literatur« nennt, hören und Paris selber, die Stadt, ihre Daseinsart, das Erlebnis von Paris gab mir zu verstehen, was deutscher Sinn immer dann erst begreift, wenn es sich, wie nur in den lateinischen Ländern, ergreifen, wenn es sich wirklich mit Händen greifen läßt: erst in Paris ging mir das Geheimnis der Form auf. Ich konnte mir dort anfangs lange gar nicht erklären, was denn mit der »Vollkommenheit«, dieser unerbittlichen Forderung der Pariser »Artisten«, eigentlich gemeint war, warum man Tage lang, Nächte lang in solchen Qualen nach dem einen Wort, nach der einen Farbe, nach dem einen einzigen unersetzlichen letzten vollkommenen Ausdruck rang, sich blutig rang, sich blöde rang! War's nicht Wahn? Und erst als ich selber davon angesteckt war, kam ich zur Erkenntnis, zu der mein ganzes Leben entscheidenden und fortan bestimmenden Erkenntnis, daß Wahn umgekehrt alle Kunst ist, die nicht ein Zeichen jenes Letzten, Einen, Einzigen, Unersetzlichen, des Vollkommenen will, daß jede Kunst, die von vorherein es auch billiger gibt, Wahn und Trug und Nichts ist, daß der Sinn aller Kunst Anerkennung eines ewigen, menschlicher Willkür entrückten, menschlicher Kraft unerreichbaren Seins ist, Anerkennung und der unmögliche, dennoch aber immer wieder mit dem heroischen Trotz, der allein den Künstler ausmacht, unternommene Versuch, sich dieses Unerreichbaren mit unserer menschlichen Ohnmacht zu bemächtigen. Was Deutschen, eben weil ihre Nation selber noch im Werden ist, am schwersten wird, den Glauben an ein ewiges, über allem Fluß des Werdens ruhendes Sein gab mir Paris. Es gab mir eine Religion, zunächst freilich eine bloß ästhetische; ich habe dann noch fast zwanzig Jahre gebraucht, bis ich vom Sein des Schönen auch auf das Sein des Guten schloß und erfuhr, daß uns die Wahrheit erreichbar ist . . . Ich fragte mich also damals, was ich denn eigentlich in Berlin jetzt noch sollte. Wenn ich, zögernd, zuletzt dennoch der Einladung gehorchte, war's hauptsächlich meinem armen Vater zu Liebe, der sich des immer noch zigeunernden Sohns vergrämt zu schämen keinen Grund mehr hatte, wenn er endlich die guten Linzer durch die Nachricht meiner »festen Anstellung« enttäuschen konnte. Das bestimmte mich. Auch erfuhr ich jetzt erst, daß inzwischen in Berlin wirklich doch allerhand Staunenswertes vorgegangen war. Sie hatten dort nach dem Beispiel Antoines eine Freie Bühne gegründet und am 29. September 1889 mit den »Gespenstern« eröffnet. In ihrer zweiten Vorstellung war ein unbekannter, aber, wie Brahm schon einen Monat vor der Aufführung vorausgesagt hatte, »in kürzerer oder längerer Frist vermutlich allgemein bekannter Autor«, Gerhart Hauptmann, im Feuer des schönsten Theaterskandals getauft worden. Daß man sein Stück, »Vor Sonnenaufgang«, johlend, auf Hausschlüsseln pfeifend, trommelnd, kaum ausspielen hatte lassen, bezeugte doch immerhin ein literarisches Interesse von einer bisher in Berlin nicht üblichen Entschiedenheit; man konnte hoffen. Und in eben demselben Lessing- Theater war ein paar Wochen später noch ein zweiter neuer Dichter aufgetaucht, Hermann Sudermann, in dem aber das Publikum gleich den richtigen erkannte: Graf Traft und Alma führten den Siegeszug der »Ehre« durch ganz Deutschland und im Café »Kaiserhof« prügelten sich Hauptmannianer und Sudermannianer – was also wollt ich denn noch? Theater schien wirklich wieder einmal eine deutsche Lebensmacht zu werden, wie doch seit der Wilhelm-Meister-Zeit nicht mehr. Und im Dezember hatte die Jugend den siebzigsten Geburtstag Fontanes, des einzigen unter den Alten, den sie gelten ließ (die meisten von den Alten erfuhren bei dieser Gelegenheit erst, daß es Fontane gab; und gerade den besten Fontane, »Unwiederbringlich«, »Effi Briest« und den »Stechlin«, gab es ja doch auch erst nachher!), benutzt, um sich in der Huldigung für ihn zum erstenmal sozusagen öffentlich zu konstituieren; sie trat seitdem geschlossen auf und erzwang sich in Reih und Glied sogar den Eintritt zur »Literarischen Gesellschaft«, worüber auch Fontane selbst einen gelinden Schrecken kaum verbergen konnte, so hierarchisch war unser geistiges Leben damals noch aufgebaut! Dies gab auch dem guten Sami Fischer, der zunächst als Sortimenter, zwischen der Behrenstraße und den Linden, durch die Verwegenheit, mit der er sich erdreistete, den neuesten Ibsen im Schaufenster auszulegen, Aufsehen erregt hatte, den Mut zu jener Wochenschrift ein, der »Freien Bühne für modernes Leben«, deren erstes Heft im Januar erschienen war, hoffnungsvoll grün verheißend, daß »einer Kunst, die vor dem Tage auswich«, hier nun »die Kunst der Heutigen« entgegnen sollte, die »mit klammernden Organen alles was lebt, Natur und Gesellschaft, umfaßt« und deren »Bannerspruch, mit goldenen Lettern von den führenden Geistern aufgezeichnet, Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit ist.« Bannerspruch, goldene Lettern, führende Geister – derlei ging damals noch, unsere ganze »Revolution der Literatur« hatte was von einem Männergesangverein. Und »dem Werdenden gilt unser Streben«, hieß es im Programm der neuen Zeitschrift weiter, »wir wollen mit freiem Sinn, der ersessenen Autorität nicht untertan, für die Forderungen unserer Generation streiten«. Und indem sie gelobte, »sich dem Lebenden zu geben, dem was wird und vorwärtsschreitet zu unbekannten Zielen«, versicherte sie sich für alle Fälle gleich aller Freiheit, mit der ganzen schon den geborenen Theatermann ankündigenden Klugheit des bedächtigen Brahm erklärend: »Dem Naturalismus Freund, wollen wir eine gute Strecke Weges mit ihm schreiten, aber es soll uns nicht erstaunen, wenn im Verlaufe der Wanderschaft an einem Punkt, den wir heute noch nicht überschauen, die Straße plötzlich sich biegt und überraschend neue Blicke in Kunst und Leben sich auftun. Denn an keine Formel, auch an die jüngste nicht, ist die unendliche Entwicklung menschlicher Kultur gebunden.« Vor solchen plötzlichen Biegungen der Straße niemals zu scheuen, aber dabei doch immer eingedenk zu sein, daß es dennoch, wie sie sich auch biegen, abbiegen, umbiegen mag, stets dieselbe Straße nach dem gleichen Ziel bleibt, darin bestand recht eigentlich die Kraft Brahms, des leise tretenden Umstürzlers . . . Dies alles klang mir so seltsam, versprach mir ein so neues unvermutetes Berlin, daß ich mich, wie grausam schwer mir das auch fiel, am Ende doch meinem geliebten Paris entriß, zwei Tage noch in Zürich beim guten alten Schabelitz blieb, dessen Verlag damals das Asyl aller unterstandslosen Dichtung, auch meiner ersten Werke war, dann in Wien im Volkstheater eine höchst merkwürdige Vorstellung von Björnsons »Handschuh« sah (mit Mitterwurzer, der, als er merkte, daß das Publikum nicht mehr mit dem Dichter ging, in einem seiner Anfälle treuloser Ironie mitten im Spiel plötzlich umsprang, den Dichter, das Stück, die Rolle, ja sich selber ans Publikum verratend) und zuletzt an jenem ersten Mai 1890 also fröhlich neugierig nach Berlin fuhr. Am vierten saß ich zum erstenmal in einer Aufführung der Freien Bühne: Fitgers »Von Gottes Gnaden« fiel durch. Aber in der nächsten hatte Hauptmann mit dem »Friedensfest« seinen ersten Erfolg. Und rings drang nun dieses neue Berlin auf mich ein! Denn die Stadt war in den drei Jahren, seit ich sie zuletzt gesehen, wirklich ganz anders geworden. Sie hatte damals, selbst für einen, der aus Wien, aus einer sich doch auch nicht gerade überstürzenden Stadt kam, eine merkwürdige Ruhe, sie schien still zu stehen. Jetzt hatte sie, selbst für einen, der aus Paris kam, eine werkwürdige Hast; sie war in den drei Jahren auf einmal nervös geworden. Wenn ich als Student mittags gern vor Rauchs Denkmal Friedrichs des Großen stand, um die Wache klingend ausziehen und den alten Kaiser ans Eckfenster treten zu sehen, das war in der Stimmung eigentlich alles noch ganz Rokoko, es war Potsdam, und wäre da plötzlich aus dem ehrfürchtig lauschenden Gedränge Zelter getreten, es hätte mich kaum verwundert, so durchaus stimmte damals noch alles mit dem wackeren Maurer und Musikus. Rokoko, nur mit einem leisen Schatten von Romantik darauf, einer nordischen Romantik, die sich sozusagen nur bei Mondschein erst hervortraut, die sich noch nicht an den Tag wagt, war Berlin damals gewesen. Bei Mondschein stahl man sich dann auch allenfalls in Embergs Tanzsalon (aus dem später dann die Kammerspiele wurden). Doch auch dieser Venusberg selbst bewahrte noch irgendwie die Nähe Potsdams. Die langen Mädchen, der Fabrik entlaufen, hatten in ihrer ungeschlachten dumpfen Schönheit, besonders wenn's dann schon gegen Morgen ging, eine fast tierisch wilde Leidenschaft, die gerade dadurch aber erst recht unheimlich wurde, daß sie niemals ausbrach, daß sie noch immer sozusagen kaserniert blieb. Auch wenn sie heiß wurden, schlug noch der Hohenfriedberger Marsch in ihren langen Beinen. In jenem Berlin gehorchte selbst die Nacht noch der bindenden Gewalt einer festen, durch und durch dringenden, ja zur zweiten Natur gewordenen Kultur, die nur dem Berliner viel weniger bewußt war als dem Wiener die seine, gerade weil der Berliner noch ganz darin stak, während der Wiener ja seiner zergehenden schon gegenüber stand und sie sich nur noch als ein schönes Schauspiel schmecken ließ. Jetzt aber, kaum drei Jahre später, fand ich auch die der Berliner zergehend, und wenn ich heute jener Zeit und ihrer plötzlich ungestüm alles auflockernden, aufweichenden, auflösenden Kraft gedenke, die kaum zehn Jahre gebraucht hat, um Berlin so zu amerikanisieren, daß von der weiland preußischen Stadt eigentlich nur noch im Messelstil ihr wehmütiges Epitaph übrig blieb, muß ich mich am meisten darüber wundern, daß Denker und Dichter, die Künstler, die Geistigen, gerade diejenigen also, die der »Betrieb« an der Wurzel ihres Lebens traf, diese Verwandlung ins Amerikanische, statt sich ihr zu widersetzen, als Erlösung empfanden. Daß damals niemand aufstand, der uns gesagt hätte: Kinder, ihr seid verrückt, ihr meint, Deutschland erwacht, und dabei merkt ihr gar nicht, daß Deutschland, euer Deutschland, gerade das Goethe-Deutschland ausstirbt, wenn ihr es kommerzialisieren laßt, daß niemand warnte, niemand unter den Alten, niemand von den Jungen, daß wir alle, vom Lärm, von der Lust an der Bewegung, vom Wohlgefühl ausbrechender Kraft betört, fröhlich auf den »Betrieb« los mit vollen Segeln fuhren, kann ich mir heute gar nicht erklären. Und fuhr doch selber damals jauchzend mit! Jetzt aber muß ich oft denken, was aus mir hätte werden können, wenn ich damals, statt nach Berlin zurück, lieber nach der Normandie, nach Umbrien oder nach Oberösterreich in ein einsames Dorf gegangen wäre, wo man damals noch mit hundert Franken, mit dreißig Gulden im Monat auskam, die ich mir schon irgendwie recht und schlecht erschreiben hätte können, sonst aber frei, nur mir gehörend, nur mich erlebend. Ich hätte dann kaum ein Fünftel meiner Bücher geschrieben, und das wäre vielleicht mehr. Aber man soll nicht mit dem Schicksal hadern, ich will ihm lieber danken, daß es mir überhaupt gewährt hat, mich doch noch zu finden.


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