Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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8. Juli

Keynes, »The economic consequences of the peace«, im Augenblick das berühmteste Buch Europas, ist jetzt auch deutsch erschienen (bei Duncker und Humblot in München und Leipzig). John Maynard Keynes, Kings College Cambridge, noch nicht vierzig, seit 1912 Editor des »Economic Journal«, zunächst durch ein Werk über »Indian Currency and Finance« bekannt geworden, zu Beginn des Krieges ins Schatzamt berufen, als Mitglied des Obersten Wirtschaftsrats an der Pariser Konferenz teilnehmend, ist einer der richtigen Engländer, die der Größe, Macht und Wohlfahrt ihres eigenen Volkes am besten durch Weltblick, Weltsinn und Weltsorge zu dienen glauben, die nicht aus irgend welchen aufwallenden Gefühlen, für ein imaginäres Kosmopolis schwärmen, aber wissen, daß man auch im Weltgeschäft durch Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Anständigkeit und durch eine gewisse Schonung nicht bloß der Bedürfnisse, sondern auch der Eigenheiten, ja gelegentlich selbst der Launen des Partners noch am weitesten kommt, und die zwar durchaus national gesinnt und im Grunde nur auf den eigenen Vorteil bedacht, dennoch, ja gerade darum auch den anderen Luft und Raum, Freiheit und Sicherheit, ja Lust und Laune gönnen: es ist ihnen klar, daß am längsten, am sichersten, am bequemsten herrschen wird, wer es sich am wenigsten merken läßt. Bei dem frommen Wunsch, es möge die Selbstsucht der Völker doch endlich einmal überwunden werden, nicht erst viel Zeit verlierend, bemühen sie sich lieber von Fall zu Fall, jede Selbstsucht nicht weiter gewähren zu lassen, als es die der anderen gerade noch ertragen kann. Sie belügen sich über die Wirklichkeiten nicht, sind aber erfreut, wenn darin gelegentlich auch einmal etwas Ideales sich unterbringen läßt. Brands »Alles oder nichts!« ist ihnen unverständlich und selbst die Ideologen unter ihnen vergessen nie, daß eben, wie Schopenhauer sagt, daß eben die Unredlichkeit tief im menschlichen Wesen liegt. Sie sind die einzigen, die vielleicht sogar heute noch das Abendland retten könnten, aber sie haben dabei freilich alle Völker gegen sich. Das schönste Beispiel eines solchen richtigen Engländers, der ja niemals aus Affekten, sondern an Realitäten politisiert, ist Lloyd George, dessen unbestechlichen Blick Keynes erreicht, dessen Gefühl für die Gemeinsamkeit aller abendländischen Interessen er vielleicht noch übertrifft, vielleicht nur deshalb, weil er so glücklich ist, kein Politiker zu sein; jedenfalls hat er im Krieg noch schneller umgelernt als Lloyd George, er hat noch schneller sein Auge den ungeheuren Weiten der neuen Situation angepaßt. Daher sieht er auch mit einer fast zärtlichen Rührung auf die beiden Pole der alten Politik herab, auf den vollkommenen, aber doch jetzt unbrauchbar gewordenen Realpolitiker Clémenceau, und auf den ebenso vollkommenen, aber ebenso von der Zeit überholten Ideologen Wilson. Meisterhaft zeichnet er sie: den Tiger in feinem, dicken, schwarzen Tuchrock mit viereckigen Schößen, die Hände stets in grauen, schwedischen Handschuhen, mit ländlichen Stiefeln von dickem schwarzem Leder, auf dem schweren Brokatsessel vor dem Kamin, einsilbig, meistens mit geschlossenen Augen, nur zuweilen einmal auffahrend, in einem plötzlichen Ausbruch von Eigensinn, dem sein pikantes Englisch noch eine besondere Farbe gibt; »er fühlte für Frankreich wie Perikles für Athen, aber seine politische Theorie war die Bismarcks«, und wenn ihm seine Klugheit zuweilen einen gewissen »Lippendienst vor dem Ideal närrischer Amerikaner und heuchlerischer Engländer« riet, so ließ er sich doch dadurch keinen Augenblick in der Ansicht stören, daß Krieg auch künftig der normale Zustand Europas sein wird; und ihm gegenüber nun der feine, doch geistig langsame, hilflose Wilson, weder ein Held noch ein Prophet, nicht einmal ein Philosoph, mit nichts als seinen edlen Absichten, ohne jeden Sinn für die Atmosphäre um ihn, wehrlos gegen Lloyd Georges »unfehlbare, fast mediumartige Empfindlichkeit für jedermann und seinen telepathischen Instinkt«, also von vorneherein verloren, ein »blinder, tauber Don Quichotte«. Mit ebenbürtiger Kraft wird nun auch die Wandlung Lloyd Georges zur Zeit der englischen Wahlen von 1918, die capitis deminutio seiner Politik dargetan, ein »dramatisches Beispiel der fundamentalen Schwäche eines Menschen, der seine hauptsächlichen Eingebungen nicht aus seinen eigenen wahren Antrieben, sondern aus den gröberen Niederschlägen der Atmosphäre nimmt, die ihn jeweils umgibt«; eigentlich ging Deutschland an diesen englischen Wahlen zugrunde (freilich auch daran, daß es bei den Verhandlungen nicht einen einzigen Mann einzusetzen hatte, der geistig und sittlich oder auch nur taktisch oder wenigstens an Temperament oder der Geste davon den Gegnern wenn schon nicht überlegen, so doch halbwegs gewachsen und nicht noch dazu schon in seiner ganzen Erscheinung ihren Gewohnheiten unerträglich gewesen wäre). Das Ergebnis des Friedensvertrages aber faßt er dann so zusammen: Europa so dicht bevölkert wie niemals zuvor, an eine hohe Lebenshaltung gewöhnt, unfähig sich selbst zu ernähren, vom Hungertod bedroht, ohne Kaufkraft zur Beschaffung der gewohnten Waren von Uebersee, das Verkehrswesen zerstört; im Juli 1919 fünfzehn Millionen Familien auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen, überall also Zwang zur Ausgabe neuer Noten, zur Inflation, zur Vernichtung der Währung, ganz nach dem Rezept Lenins, folglich aus Not oder Unfähigkeit der Regierungen ein allgemeiner Bolschewismus; »in Deutschland werden die Gesamtausgaben des Reiches, der Länder und der Gemeinden 1919 bis 1920 auf 25 Milliarden Mark veranschlagt«, von denen nicht mehr als zehn durch bereits bestehende Steuern aufgebracht werden, und dabei sind die Kriegsentschädigungszahlungen noch nicht einmal eingerechnet: in Rußland, Polen, Ungarn und Oesterreich gibt es im Ernst überhaupt nicht so etwas wie einen Staatshaushaltsplan.« Was also soll geschehen? Können wir überhaupt noch hoffen, »die grundlegenden wirtschaftlichen Kräfte wieder in Gang zu setzen«? Dazu wäre zunächst eine Revision des Friedensvertrags notwendig, die man sich freilich von der Völkerbundsversammlung kaum erhoffen könne, von diesem »unhandlichen vielsprachigen Debattierklub, in dem selbst die größte Entschlossenheit und die beste Taktik nicht ausreichen dürfte, irgendeine Frage gegen den Willen der Anhänger des bestehenden Zustandes durchzusetzen.« Zur »Wiedergutmachung« legt er Deutschland, in dreißig Jahresraten, dreißig Milliarden Gold auf; Oesterreich nichts. Oberschlesiens Kohlengebiete teilt er, wofern nicht die Volksabstimmung geradezu widerspricht, Deutschland zu. Einem »Freihandelsverband« unter der Aufsicht des Völkerbundes sollen Deutschland, Polen, die aus Oesterreich-Ungarn und dem türkischen Reich neugeschaffenen Staaten und die einem Mandat unterstellten Staaten zehn Jahre angehören müssen, später angehören dürfen. Ein »Freihandelsverband, der ganz Mittel-, Ost- und Südeuropa, Sibirien und die Türkei und hoffentlich die Vereinigten Staaten, Aegypten und Indien umfassen könnte, würde für den Frieden und Wohlstand der Welt soviel leisten wie der Völkerbund selbst. Belgien, Holland, Skandinavien und die Schweiz würden sich, so ist zu erwarten, ihm in kurzer Zeit anschließen und die Freunde Frankreichs und Italiens hätten den großen Wunsch, daß auch diese Staaten sich zum Beitritt entschließen möchten.« Das Schwerste bleibt aber dann freilich immer noch die Verrechnung der Schulden unter den Verbündeten. Es heißt einem Sieger viel zumuten, daß er durch seinen Sieg schließlich noch verarmen soll. Keynes schlägt im Grunde vor, daß Amerika die Kosten auf sich nimmt, um Europa zu retten. Dies setzt eine Großmut, soviel Weltgewissen, einen so hohen Sinn für die Schicksalsgemeinschaft aller Völker voraus, daß man sich eigentlich eine größere Huldigung an Amerika gar nicht denken kann. Es hätte dann von selbst die sittliche Weltherrschaft auf Jahrhunderte hinaus.


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