Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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23. Sept.

Der Glanz dieser herrlich manikürten Sätze Karl Sternheims, des elegantesten Stilturners unserer Zeit, macht mir so viel Freude, der selbstgewisse Stolz, mit dem er, niemals sich zum Publikum herablassend, jahrelang ruhig gewartet hat, bis es ihm nachlaufen wird, und nun, seit es ihm nachläuft, spöttisch ausprobiert, wie weit es sich treiben läßt, bezaubert mich so, die Form nicht blos seiner höchst persönlichen Syntax sondern vor allem auch seiner seit Jahren scheinbar unachtsam vorbereiteten, jetzt scheinbar verächtlich genossenen Diktatur über den deutschen Geschmack hat einen solchen Reiz für mich, daß ich meistens gar nicht dazu komme, mich auch einmal zu fragen, was er denn eigentlich sagt und ob ich zustimmen kann oder widersprechen muß. So las ich auch seine Schrift, »Berlin oder Juste milieu« (Kurt Wolff Verlag, München 1920), zunächst nur mit dem reinsten Vergnügen an den glitzernden Kristallen einer lange gut in Eis eingekühlten Bosheit. Dann aber fiel mir doch ein: wenn jetzt in den immer alles sogleich eilfertig abfingernden Händen nichts kristallisierender Nachschreiber Straß aus seinem Edelschmuck wird, ja das wird dann wieder entsetzlich sein! Gar bei der ohnedies schon von Tag zu Tag anwachsenden Berlinfeindlichkeit ganz Deutschlands! Wärs da nicht eher Zeit, Berlin, das viel gescholtene, nun einmal zu loben? Uns einmal darauf zu besinnen, wie viel wir anderen, wie viel alle deutschen Stämme Berlin schulden? Und auch uns zu besinnen, wie wir doch alle, alle begeistert mitgesündigt haben an den Berliner Sünden? Gewiß hat in Berlin der letzten dreißig Jahre, wie Sternheim ausführt, durchaus der Begriff gefehlt, »daß viel nicht groß ist«, aber wo sonst im übrigen Deutschland war denn dieser Begriff noch tätig am Leben? Gewiß ist die Berliner »Vergottung des Kolossalen« scheußlich, aber welches deutsche Land vergottete denn nicht um die Wette mit? Gewiß hat der Berliner »Betrieb« alle deutschen Städte der Reihe nach verseucht, aber sie konnten es ja gar nicht erwarten, angesteckt zu werden, sie drängten sich doch dazu! Sternheim schreibt: »Auch dort, wo man in der Provinz nicht unmittelbar unter des Weichtiers Berlin eiternden Drüsen gelegen hatte, war man im klebrigen Schleim, der Kanäle durch das ganze Land geätzt hatte, so verstrickt, daß durch Sekrete, die den Blick verschmiert hielten, keiner ein Ziel sah.« Da muß ich, der doch das auch miterlebt hat, der schaudernd Zeuge, ja der immerhin unter den ersten war, die den verruchten Berliner Betrieb durchschauten und öffentlich vor ihm warnten, da muß ich aber doch widersprechen: nein, so war das nicht, daß Berlin etwa seine Macht über Deutschland dazu mißbraucht hätte, den Widerstand der anderen zu brechen und ihnen den Berliner Betrieb gegen ihren Willen aufzuzwingen, sondern umgekehrt erst dadurch, daß Berlin vor den anderen den Betrieb, das Bedürfnis auch der anderen, das Bedürfnis aller, einzuführen und auszuführen verstand, dadurch ist es, den von den anderen nur dumpf empfundenen Wunsch bewußt erfüllend, dadurch ist es erst zur Macht über alle, zur geistigen Herrschaft gelangt. Daß, was alle wollten, Berlin früher und besser konnte, scheint mir noch kein sittlicher Vorzug der anderen, es war nur ihre Schwäche. Das Schicksal seiner Generation hat Heinrich Mann (in »Macht und Mensch«, Kurt Wolff Verlag, München) geschildert: »Wir wollten nur genießen, und weder bessern noch uns bessern. Die geistig Lebenden waren keines anderen Wesens als jene, die wirtschaftlich und politisch obenauf waren, oder als selbst die Unterlegenen und Armen. Für Ideen leben anstatt für Erwerb und Genuß – vom Ende des Jahrhunderts bis 1914 schien es unmöglich, es würde ausgesehen haben wie Selbstbetrug oder Spaß. Sogar die Armen samt ihren Führern verloren stückweise ihren Glauben und kämpften blos noch um Pfennige, um ein weniges mehr an Wohlleben. Die Lebensgier war bei allen und auch bei uns«. So war überall in Deutschland der neue Geist, der um die Mitte der neunziger Jahre begann und auch den Weltkrieg noch wohlgemut überstand. Er ist durchaus kein geborener Berliner; ganz Deutschland hat da mitgekreißt. Und Berlin ist durch ihn ganz ebenso sich selber und seinem eigenen Sinn entfremdet worden wie die anderen ihrem. Er stammt weder aus Berlin noch aus Deutschland, und er stammt auch gar nicht aus den neunziger Jahren. Damals erschien blos in Berlin, die Welt aufregend, eben das, worüber sich die westliche Welt daheim schon längst wieder beruhigt, womit sie sich durch die Gewohnheit eines halben Jahrhunderts längst abgefunden hatte. Nur der Berliner Anstrich war noch so gräßlich neu; der Pariser, der Londoner Betrieb hatte indessen schon Zeit gehabt, angenehm nachzudunkeln. Bei Balzac, unter dessen Augen Paris schon in den letzten zehn Jahren vor, vollends aber gar nach der Julirevolution neuberlinisch wurde, schreien die Farben noch ganz ebenso schrill. Sein Werk ist das ungeheure Grundbuch einer durchaus dem Geld verfallenen, Geist und Herz verzehrenden, immer rapider um Erwerb allein rotierenden Welt, und wenn man darin nicht immer gleich Berlin W erkennt, so doch nur, weil durch den Prachtmantel einer alten höfischen Kultur, in den dieses klappernde Skelett sich hüllt, der Blick noch geblendet wird. Aber man kann fast zu jeder Gestalt, der Illusions perdues etwa, getrost an den Rand einen Berliner oder Wiener Namen schreiben. Es ist schon ganz unsere Situation: wer Ehren oder Freuden, Ruhm, Macht oder Genuß will, muß seiner Seele, muß dem Gewissen entsagen, ihn holt der Betrieb; wer dieser Versuchung widersteht, bleibt zur Hölle vergessener, verachteter, verhöhnter Not verdammt. Wenn Balzac überall l'intéret accroupi dans tous les coins sieht, wenn er immer wieder l'envers des consciences, le jeu des rouages de la vie parisienne, le mécanisme de toute chose aufzeigt, wenn ihn ce mélange de hauts et de bas, de compromis avec la conscience, de suprématies et de lachetés, de trahisons et de plaisirs, de grandeurs et de servitudes stets von neuem entsetzt, hat in dieses furchtbare Schauspiel der Berliner Betrieb oder irgend ein anderer, selbst der Amerikas mit seinen noch viel gewaltigeren Dimensionen, auch nur einen einzigen noch so leisen neuen Zug gebracht? Die paar jungen Leute, die dem Geist nicht untreu wurden, die jeunes hommes graves et sérieux, les esprits solitaires hielten sich schon damals in irgendeinem cénacle versteckt, relégués comme des saints dans leur niche, ganz wie heute noch die Gefährten Stephan Georges, wo Betrieb herrscht, flüchtet der Geist stets zu den gens de gloire posthume. So hat Paris den Berliner Betrieb schon um 1830 gehabt und es hat ihn sich unversehrt bewahrt bis auf den heutigen Tag. Rollands Olivier sagt einmal zu Jean Christophe: »Combien de Parisiens as-tu connu, qui habitaient au-dessus du second ou du troisième étage? Si tu ne les connais pas, tu ne connais pas la France . . . C'est à peine si la France est connue des Français«. Frankreich, das wahre Frankreich, ist auch noch nur in Dachkammern vorhanden. Die Wahrheit aller Länder ist nur in Dachkammern vorhanden. Und in Dachkammern ist auch ein Berlin vorhanden, von dem Sternheims Schrift nichts weiß: das wahre; sie sieht Berlin doch zu sehr aus der Nähe, da merkt man Höhen und Tiefen nicht. Durch den Grunewald schreitet einsam Konrad Burdach, der tiefste Kenner, Erkenner deutschen Wesens, mit dem feinsten Ohr für das letzte lautlose Geheimnis in den Abgründen unserer Sprache, mit dem weitesten goethescher Kunst des Zusammensehens von Vergangenheit und Gegenwart in eins mächtigen Blick, es waltet Troeltsch seines überall angeregt anregenden, zugleich frauenhaft empfänglichen wie männlich tätigen Geistes, es waltet Ernst Cassirers wirklich die ganze güldene Kette des abendländischen Denkens vom Cusaner zu Kant, von Luther und Leibnitz bis auf Schelling und Hegel ehrfürchtig bewahrender Sinn, es fänden sich der reinen Geister noch andere genug, das Berliner Cénacle ist ganz stattlich, und einer davon hat ungestraft sogar das Kunststück wagen dürfen, mit beiden Füßen im Betriebe doch den Scheitel im Aether zu haben: Rathenau führt auch im Auto seine heimliche Dachkammer mit. Nein, es gibt schon unter dem Betriebs-Berlin noch ein verborgenes zweites Berlin, in dem das alte, das Berlin Lessings und Mendelssohns, das Berlin Zelters und Schinkels, das Berlin E. T. A. Hoffmanns, Ludwig Devrients und der Rahel, das Berlin des Tunnels, das Berlin Menzels und Fontanes unversehrt lebendig geblieben ist bis auf den heutigen Tag. Ueber ihm macht nur das neueste, das ganz unberlinische Berlin einen so rasenden Lärm, daß darin die liebe leise Stimme des Echten fast erstickt. Aber derlei geschieht auch anderwärts, das bin ich gerade jetzt wieder inne geworden, beim Lesen einer bemerkenswerten Schrift: »Die Isolierung Japans« (Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Charlottenburg 1920; Verfasser ein »früherer Legationsrat im fernen Osten«, der ungenannt bleibt). Hier steht das neue Japan in seiner imperialistischen Beutesucht, Ländergier und Ruchlosigkeit des Erwerbssinns wie Gewissenlosigkeit der Mittel als ein ins Ungeheure phantastisch gesteigertes Preußen des fernen Ostens da, nicht blos das arme China, sondern auch England und die Vereinigten Staaten so gewaltig bedrohend, daß ein neuer Weltkrieg von noch weit gigantischeren Massen unvermeidlich scheint. Indem ich die Geschichte dieses von einer rauhen Soldatenoligarchie befehligten japanischen Betriebes las, da fragte plötzlich in mir eine Stimme leise: Aber Lafcadio Hearn? Und vor mir stand mit einem Male Lafcadio Hearns unvergeßliches Japan auf, in seiner märchenhaften Durchseeltheit des ganzen Lebens bis in den leisesten Atemzug hinein, in seiner Herzensinnigkeit, in seiner treuen Uebung von Pflicht, Geduld, Wohlwollen, Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung! Welches Japan ist nun das echte? Vielleicht ist in allen Völkern das Echte gerade das, was in dieser Zeit ein jedes mit Leidenschaft geheimhält.


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