Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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23. Februar

Seltsam: von Pascal aus, an den mich das Barock als an seinen größten Widersacher, da doch jede Sache der Widersacher erst ganz verstehen lehrt, wies, ist mir jetzt erst der volle Sinn der Karamasoff Dostojewskis aufgegangen. Denn so wenig man dies anzunehmen zunächst geneigt sein wird, sie behandeln beide dasselbe Thema. Das Urerlebnis beider muß dasselbe gewesen sein. Schon Voltaire gibt zu, daß im Grunde Pascal sachlich unrecht hatte, aber es hätte sich ihm auch gar nicht darum gehandelt, recht zu haben, sondern darum allein de divertir le public; und sein Sieg über die Jesuiten sei dadurch entschieden worden, daß es ihm gelang, aus dem ganzen Streit ein sujet des plaisanteries zu machen. Weshalb er ihn auch geradezu mit Molière vergleicht. Das überrascht auf den ersten Blick, doch näher sieht man, daß Pascal ja wirklich ganz wie der Komödiendichter verfährt. Das Verfahren der Komödie besteht darin, jeden an seiner Idee zu messen: dem, was einer sein sollte, stellt sie entgegen, was er wirklich ist, und da muß man lachen. Denn gemessen an dem, was einer in sich ist, und nun verglichen mit dem, was er von sich realisiert, wird jeder komisch. »Erfahrung fast immer eine Parodie auf die Idee«, hat Goethe gesagt, und Dostojewski drückt das nur derber aus, wenn er im »Jüngling« sagt: »Uebrigens haftet der Wirklichkeit immer etwas von Schusterhaftigkeit an, selbst wenn sie aus einem noch so reinen Streben nach dem Ideal hervorgeht.« Ob man es Parodie nennt oder Schusterhaftigkeit, gemeint ist dasselbe, nämlich daß, sei das Streben des Geistes noch so rein, es dennoch, sobald es verwirklicht wird, eben durch diesen Eintritt in die Welt, eben durch diesen Wandel in Erscheinung anders wird. Diese Differenz zwischen Idee und Erfahrung, diese leise Läsion, Deklination oder Deviation, die das Geistige stets erleidet, sobald es sich zu realisieren versucht, ist das Urerlebnis Pascals wie Dostojewskis: an ihm werden sie beide recht eigentlich erst produktiv. Es empört sie zunächst, sie hassen es und geben beide diesem Haß zunächst dasselbe Ziel: die Jesuiten (was an dem Russen wunderlich genug ist). Die Pascal so verhaßte morale facile der Jesuiten, die sich übrigens bei den Dominikanern ganz ebenso, ja schon beim heiligen Augustinus findet, ist im Grunde ja nichts als Anerkennung jener Deklination; sie nimmt zur Kenntnis, daß alles Geistige, gar alles Sittliche bei der Umschaltung in die Wirklichkeit stets ein wenig von sich abgelenkt wird und einen unreinen Zusatz erhält; und sie nimmt nicht bloß Kenntnis davon, sie nimmt auch Rücksicht darauf, sie zieht die Deklination mit in den menschlichen Kalkül. Das ist Pascal und Dostojewski zunächst unerträglich, doch unterscheiden die beiden sich dadurch, daß Pascal, was immer er auch berührt, der geborne Mathematiker bleibt (eigentlich geht's zwischen Pascal, dem Port-Royal und dem Jansenius auf der einen und den Jesuiten, den Kasuisten, ja dem ganzen Barock auf der anderen Seite um eben dasselbe, wie zwischen Goethe und Newton, nämlich darum allein, ob die Erscheinung in ihrer Formel, der mathematischen oder der sittlichen, aufgehen muß, ja auch nur überhaupt jemals rein aufgehen kann, es geht um Anerkennung der Wirklichkeit). Dostojewski dagegen ist ein geborner Dichter und als Dichter lernt er das Grauen vor der Wirklichkeit überwinden, mit der als Denker (darum vor allem auch als Politiker) auch er sich niemals aussöhnen kann. Diese Versöhnung mit der Wirklichkeit, mit der Deklination des Geistes in der Erscheinung, mit der »Schusterhaftigkelt« unseres Lebens ist das Thema der Karamasoffs. Aljoscha, der Held, beginnt durchaus als Pascal. Auch ihn quält das Entsetzen vor der Entstellung des Geistigen und gar des Sittlichen in der Wirklichkeit. Auch er ist, sobald er an Gott und Unsterblichkeit glaubt, sofort entschlossen, nur noch der Unsterblichkeit zu leben: »einen halben Kompromiß nehm ich nicht an!« und da geschrieben steht: Verteile dein Gut und folge mir nach! sagt auch er: da kann ich doch nicht statt mein Gut dann bloß zwei Rubel geben und statt Ihm nachzufolgen, mich begnügen, in die Kirche zu gehen. So scheint auch ihm Weltflucht die einzige Rettung, er will ins Kloster. Und alles, womit die Welt sein Gewissen bedroht, weshalb er sie fürchtet, weshalb er sie flieht, nennt auch er jesuitisch, das Wort kehrt immer wieder, er hat immer Angst, »auf den Jesuitenweg zu geraten«. Und es ist nun seltsam, aber von der tiefsten Wahrheit, daß er gerade darin in diesem Jesuitenhaß mit seinem sonst ganz anders gestimmten, ganz anders gesinnten Bruder Iwan übereinstimmt, dem Westler, dem Freigeist, dem Skitaletz, der die Erzählung des »Großinquisitors« ersinnt (das wird immer übersehen, daß Dostojewski den Großinquisitor als ein »Poem« Iwans einführt: erdacht ist es natürlich von Dostojewski, doch im Charakter des Iwan, als Ausdruck Iwans also, nicht Dostojewskis, oder doch nur eines Teils Dostojewskis, jenes Teils Dostojewskis, dem er sich eben durch die Karamasoff entrungen hat). Dann rollt das grauenhafte Schicksal Dmitris, des dritten Bruders, ab, bis der als Mörder seines Vaters verurteilt ist, zu zwanzig Jahren Sibirien. Aljoscha weiß, daß der Bruder unschuldig ist, er weiß auch, daß der Bruder innerlich noch lange nicht reif ist, dieses ungeheure Kreuz zu tragen, daß es für ihn, so wie er nun jetzt einmal noch ist, gar nicht ein Kreuz, das er auf sich nimmt, daß es also gar nicht »sein« Kreuz wäre. Wenn aber Dmitri Gelegenheit hat, auf dem sibirischen Transport zu flüchten, so glaubt Aljoscha zu wissen, daß der unglückliche Bruder in sich gehen, bereuen, innerlich umkehren und die Kraft seines Schuldbewußtseins (denn wenn er auch nicht der Mörder ist, so trifft doch auch ihn die Schuld an dem Mord mit; hier wirkt das russische Gefühl der Allverschuldung ein) ihm zur Wiedergeburt verhelfen wird. Und so rät ihm Aljoscha zur Flucht, die aber doch nur durch Bestechung, durch allerhand »Unehrenhaftes«, durch Gebrauch unsittlicher Mittel möglich ist. Und Aljoscha, sonst so rein, rät ihm, ja drängt ihm diesen Gebrauch unsittlicher Mittel auf, ja Aljoscha gibt sich selbst dazu her. Der Bruder, als er ihn so argumentieren hört, sagt: »So sprechen eigentlich Jesuiten, nicht? Sieh mal, wie weit wir beide gekommen sind, was?« Und jetzt heißt es im Roman weiter: »Ja, so reden Jesuiten,« sagte Aljoscha lächelnd. »Darum liebe ich dich auch so, Aljoscha, weil du immer die ganze Wahrheit sagst und nichts verheimlichst,« rief Mitjä froh aus. »Sieh mal, jetzt hab ich dich auf dem Jesuitenweg ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, aber kräftig, weißt du das auch, Junge?« . . . Niemals war Dostojewski Tolstoi so fern wie hier an der höchsten Stelle seines größten Werkes, ein Abgrund tut sich hier zwischen den beiden auf: die ganze Welt der Wirklichkeit, eben der Abgrund, der Pascal von den Jesuiten trennt, und nicht bloß von den Jesuiten, sondern auch überhaupt von der Kirche mit ihrem großen reinen Sinn für die Wirklichkeit, die wir überwinden sollen, zuweilen erleiden müssen und niemals ableugnen können. Tolstoi ist ein Abkömmling Pascals, und Dostojewski ist, hier wenigstens, durchaus der Abkömmling des Barock, des ihm ganz unbekannten Barock, dessen tiefsten Sinn er aus seiner eigenen Not wiederentdeckt . . . Eigentlich gibt's im Augenblick gar kein »aktuelleres« Buch als die Karamasoff, denn was da verhandelt wird, ist der Bolschewismus, die letzte Konsequenz Pascals, eine andere freilich, als Pascal selber zog, der vor jener Deklination, die der Geist erleiden muß, sobald ihn die Wirklichkeit berührt, aus der Welt floh, während der Bolschewik mit der allem mathematischen Denken eingeborenen inneren Gewaltsamkeit auch noch die äußere verbindend, sozusagen ein Mathematiker in Waffen, den grandiosen Versuch wagt, in der Welt selbst die Deklination des Geistigen auszutilgen, an der Wirklichkeit selbst die Macht der Wirklichkeit zu brechen. Und vielleicht hängt alle Zukunft des Abendlands davon ab, ob es noch gelingen wird, Lenin »auf den Jesuitenweg« zu bringen: zur Anerkennung der Wirklichkeit.


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