Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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20. Januar

Zwei Tage blies schon Märzwind ins tauende Land, ja Sonnenuntergang trug die kitschigsten Sommerfarben auf, in einem welk verblassenden, zerschmachtet irisierenden Rosenblattrot von einer unerlaubt zuckersüßen Unwahrscheinlichkeit schwelgend, doch über Nacht ist alles wieder in Eis erstarrt. Winter hängt mit finsterem Wolkengrau die Fernen zu, das sich immer enger, immer schwärzer, immer schwülstiger zusammenzieht, in einen einzigen ungeheuren, von oben und von unten und von beiden Seiten her unaufhaltsam gegen uns einschrumpfenden Turm, der uns gefangen hält, und nichts regt sich, nur ganz insgeheim schneit's, nicht in Flocken, sondern ganz dünn perlend, in den zartesten, fast unsichtbaren Glasblüten, ein gefrorenes Rieseln ist's, das man eher zu hören meint als erblicken kann, und so schneit's nun und schneit und schneit verstohlen fort, als hätte der Weltgeist gar keinen anderen Gedanken mehr als Schnee, man gibt die Hoffnung auf, jemals den Watz wiederzusehen, ja man kann sich eigentlich gar nicht mehr recht entsinnen, daß da drüben wirklich einst so was wie der alte Watzmann seinen schlecht plombierten Zahn zum Himmel aufgereckt haben soll, denn der Himmel selber ist auch schon höchst unglaublich geworden. Ich aber, vom Ski, welchen Sport ich in jedem Sinne »fallweise« treibe, heimgekehrt, den zerknirschten Leib dehnend (»Singen müssen S' die Knie hören!« sagt mein wackerer Professor, der Bergführer Joseph Huber, wenn er mir das Bogenfahren demonstriert; aber meine sind offenbar unmusikalisch) und so gut von der Winterkälte durchglüht, träumle dann in das eisgraue Schweigen hinaus: in solchen Stunden liebkosender Müdigkeit gerät der Geist, von den entschlafenden Sinnen nicht mehr behelligt, gern in ein holdes Schwärmen, das äußere Leben ist auf ein Minimum abgestellt, so darf das innere nach Laune gaukeln. Schad, daß dem Erwachenden davon meistens nichts übrig bleibt als der leise Klang eines wunderlich lieben Nachgefühls, sich allerhand Märchen vorgetanzt zu haben. Meine schönsten Bücher hab ich nicht geschrieben! klagt schon der Ulrik Brendel, und so geht's doch allen: was sich davon niederschreiben läßt, von den gesegneten Stunden, enthält des Segens ach! so wenig und dieses Wenige so verblaßt, daß es zu wundern ist, wenn man ihn uns überhaupt glaubt. Und abends las ich dann gern noch eine Stunde Walter Scott. Hier muß man nämlich sehr vorsichtig mit Büchern sein: dieser großen Landschaft halten die wenigsten stand. Doch Scott kann's: er erzählt so naturnotwendig aus sich los, als der Wald wächst und der Fluß fließt. Ist es Kunst? Ich weiß nicht. Zuweilen kommt mir vor, als wär's viel mehr als Kunst. Und es macht einen für eine Weile wieder ganz jung. Und wenn es mich wieder ganz jung gemacht hat, dann bin ich in der rechten Stimmung und lese, bevor ich das Licht auslösche, noch zwei, drei von unseren wunderschönen alten kirchlichen Hymnen, in der handlichen Ausgabe von Professor Hellinghaus (Volksvereinsverlag in München-GladbachMünchen-Gladbach war der Name einer Stadt von 1888 bis 1950, welche 1950 in Mönchen Gladbach und 1960 in Mönchengladbach umbenannt wurde., 1919), die neben dem lateinischen Urtext auch immer eine deutsche Nachdichtung setzt. Welche herzstärkende Geisteskraft strahlt aus der Liebesglut dieser gottestrunkenen Lieder! Wie sie mit Adlerflug still im Erhabenen kreisen, um sich dann zuweilen wieder mit einem zutraulichen Amselruf auf Lust und Leid unseres irdischen Lebens gelinde herabzusenken! Wie die strenge Gesetzlichkeit edler Latinität sich am Tageslaut volkstümlicher Empfindung erregt, erwärmt, erneut! Mit welcher Freiheit entwächst das überquellende Gefühl da jeder Norm, um sogleich, indem es die Form sprengt, schon selber wieder Form zu werden! Denn melius est, reprehendant nos grammatici, quam non intellegant populi, hat schon der heilige Augustin gesagt, recht nach dem Herzen aller Stürmer und Dränger. Woran sich übrigens unsere Jüngsten ein Beispiel nehmen sollten: ihr Expressionismus droht aus echtestem Erleben doch auch wieder nur bloße »Literatur« und ganz alexandrinisch zu werden, wenn er nicht den Weg ins Volk zu finden weiß! Wie sich in diesen Hymnen was Gundolf das »Urerlebnis« nennt, mit der überlieferten Form ins Gleichgewicht setzt, wie das ausbalanciert ist, wie der Aufschrei ganz individuellen Verlangens sich mit dem Typischen auszugleichen und dabei doch im Typischen sich selber noch immer zu behaupten vermag, das dennoch unversehrt bleibt, wie das Gedicht ganz zum unmittelbaren Augenblick wird, auf dem aber doch der Nachglanz von Jahrhunderten ruht, wie der Dichter ganz nur der eigenen Seligkeit von Lust und Leid hingegeben scheint, aber in ihr doch Lust und Leid der ganzen Menschheit vernimmt, dies ist von einer überwältigenden Schönheit! »Wohltäter der armen Menschheit« hat Herder diese heiligen Hymnen genannt: »Sie gingen mit dem Einsamen in sein Grab. Da er sie sang, vergaß er seine Mühe: der ermattete traurige Geist bekam Schwingen in eine andere Welt zur Himmelsfreude. Er kehrte stärker zurück auf die Erde, fuhr fort, litt, duldete, wirkte im stillen und überwand: was reicht an den Lohn, an die Wirkung dieser Lieder?« Dieser Satz: »er kehrte stärker zurück auf die Erde« spricht aus, was sie mich gewaltig erleben lassen: sie geben so viel Kraft, sie machen so froh, sie lassen uns erst unser irdisches Leben recht empfinden, das, von drüben her gesehen, doch erst seine ganze Schönheit zeigt. Sie sind ein Brunnen edelster Lebenslust, stählender Lebensmacht! Sie sind Anweisungen zur ewigen Seligkeit, und nicht etwa bloß drüben erst, sondern hier auf Erden schon; denn wer glaubend, hoffend, liebend erst des andern Reichs einmal gewiß worden ist, der hat auch in diesem hier schon den Vorgeschmack davon. Wieviel Freude, Kraft und Tapferkeit der Sonnenstrahl demütiger Andacht ausströmt, lassen mich diese frommen Lieder beglückt empfinden! Aber wer kennt sie denn? Sie sind vergessen, wie die alten Legenden in ihrer schlichten ermutigenden Weisheit vergessen sind. Auch sie hat der Volksvereinsverlag zu München-Gladbach in einer Auswahl aus der Legenda aurea jetzt ediert (übersetzt von R. Breuer, mit einer Einführung von Dr. Heinrich Saedler). Bibliophilen legen die von Richard Benz für Eugen Diedrichs in Jena besorgte Ausgabe der Legenda aurea (1916 erschienen) gern auf einen Prunktisch und durch das von blauem Grunde leuchtende Gold und die Wohlgestalt des Drugulindrucks angelockt, blättert dann im Gespräch der Gast gelegentlich darin, erstaunt, wieviel Gegenwart der Erzählerton des Bruders Jacobus de Voragine vom Orden der Predigermönche, des achten Erzbischofs von Genua, der diese Chronik der Heiligen in den Jahren 1263 bis 1273 niederschrieb, heute noch hat. Aber es scheint schon einmal das Schicksal von »Prachtwerken« zu sein, daß man vor lauter Augenlust gar nicht daran denkt, sie zu lesen. Vielleicht wird also dieser Auszug in dem schlanken Bande des Volksvereins, von den vielen hundert Geschichten nur ein paar Dutzend, aber der schönsten, wählend, jetzt manchen zu Benz hinführen, der uns die Tat des Genuesers erst in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigt: denn hier ist ja das Wunder geschehen, daß der Stoff von tausend Jahren in die gestaltende Hand eines Dichters von dantesker Bildkraft kam. Ja, Benz hat recht, wenn er diesem Epos in Prosa einen Reiz zuspricht, den weder Virgil noch Dante, den auch der Hexameter Klopstocks, Vossens und Goethes nicht hat: denn derselben höchsten Kunstgesinnung, die durchaus fugierend alles in Einem zusammenhält, ist hier noch ein Märchenton beigesellt, jeder glaubt hier seine Mundart zu hören, hier spricht einmal ganz große Kunst zu jedermann aus dem Volke! Wirklich als hätte der Heilige Geist dieses Buch diktiert: es redet in allen Zungen! Benz erklärt dies daraus, daß das Latein des Mittelalters überhaupt gar kein Latein mehr war, daß es international und in Wahrheit ein verkappter germanischer Dialekt war, daß es »ein latentes Deutsch« war, ganz wie der Italiener selber, der diese goldene Legende schuf, gar nicht mehr national, sondern übernational christlich-germanisch empfand: »er konnte volkstümlich schreiben und volkstümlich mit seinem Werk wirken, ohne daß er sich an ein spezielles Volkstum wandte, die bürgerliche Stadtkultur, aus der die Gotik erwuchs, war ein Volkstum über den Nationen, und zwar ein germanisch fühlendes und denkendes Volkstum.« Nur so hat ein in Genua lateinisch geschriebenes Werk ein wahres Volksbuch allen Nationen des Abendlandes werden können, für Deutsche, Böhmen und Spanier, bei Schweden, Engländern und Provençalen, in jedem katholischen Land. Aber indem sie's sich dann übersetzten, ist es wieder nationalisiert worden und sein hoher Bau zerfiel. Die Renaissance, den Nationalismus erschaffend, zerstört die Welt. Erst das XVII. Jahrhundert hat dann, wenigstens für einen Teil des Abendlands, noch einmal eine gemeinsame Lebensform hergestellt: im Barock. Wir suchen sie vergebens. Die heutigen »Weltbürger« meinen sie zu finden durch Austritt aus der eigenen Nation. Aber wer aus seiner Nation austritt, tritt damit nur in sich selbst zurück; so gibt er nur auch noch den letzten Rest von Gemeinsamkeit auf. Denn wohin soll er dafür eintreten? In die Welt! sagen sie. Wo ist denn aber eine? Das Mittelalter und noch wieder das Barock konnten der Gemeinsamkeit des Bluts entraten, denn sie hatten die höhere des Geistes. Indem wir die Nationen verneinen, entsteht nichts. Wer aber hat den Mut zum Gemeinsamkeit schaffenden Ja? Das kann uns kein Aufruf, keine Volksabstimmung erbringen, das kann nur der Glaube. Das Abendland wird erst wieder möglich, wenn wir die Kraft zum Glauben finden. Unsere Zukunft ist eine Glaubensfrage.


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