Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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6. Nov.

»Geschichte der deutschen Musik« von Hans Joachim Moser. Erster Band: Von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges. (J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin, 1920.) Da haben auf mich das zweite Buch, über »Die Tonkunst der deutschen Klöster«, das dritte Kapitel des fünften mit der Schilderung Hofhaimers und im zweiten Kapitel des siebenten das prachtvolle Bildnis des Orlando di Lassos am stärksten gewirkt. Den cantus gregorianus, von dem Moser sagt, daß ohne diese »melodische Hochkultur die rein germanische Melodik wohl nie über die Ausdrucksgrenzen des Tiroler Jodlers und des Schweizer Kuhreigens hinausgelangt wäre«, kann man auf deutscher Erde heute nirgends mehr in so strahlender Reinheit hören, wie von den Lippen der Benediktinerinnen in unserem alten, von der heiligen Ehrentrudis, Ruperts frommer Nichte, begründeten Stift Nonnberg. Was ich dort in seligen Augenblicken einfach mit der Empfindung auffing, mir doch auch einmal erklären, vor dem Verstande rechtfertigen zu lassen, nahm ich nun gern die Gelegenheit wahr. Indem der »Kirchengesang der Mittelmeerrasse« zu Franken und Alemannen dringt und die christliche Tonsprache jetzt ihre besänftigende Gewalt an Ohren zeigen soll, in denen es noch heidnisch nachklingt, geschieht zum erstenmal das Wunder, das sich dann in der Geschichte des Abendlandes immer wiederholt, bis zur Vollendung im Barock, dasselbe Wunder, das in allen Künsten immer wieder geschieht und einmal Grünewald, ein anderes Mal Goethe heißt; in der Musik hieß es zuletzt Hugo Wolf. Die Formel ist: Form und Freiheit finden sich, Form löst sich und Freiheit bindet sich, einen gewaltigen Augenblick lang fallen die beiden Pole zusammen; im nächsten müßte das Leben stillstehen . . . Sehr merkwürdig war mir auch, endlich einmal mehr über meinen Namenspatron zu hören, Hermann Contractus, Grafen von Behringen, den größten unter den drei berühmten Meistern der Sequenz im XI. Jahrhundert: Dichter, Komponist, Astronom, Mathematiker, Rhetor, Polyhistor, Philosoph, Uhrmacher und Instrumentenmacher in einer Person, der mir schon viel lieber, meinem Herzen näher ist als Hermann der Cherusker, an den mein guter Vater wohl eigentlich gedacht hat, als er mich auf diesen Namen taufen ließ. Und auch noch ein anderer Name, mir vertraut, weil ich ja so oft an seinem Hause vorüberkomm, wird mir hier erst lebendig: Paul Hofhaimer, 1459 zu Radstadt geboren, erst Innsbrucker Hoforganist, vom König Ladislaus zum Ritter geschlagen, nach Maximilians Tod als Virtuose herumzigeunernd, seit 1526 Organist in Salzburg; hier ist er 1537 gestorben und liegt in St. Peter begraben. Lukas Cranach hat ihn gemalt, Dürer hat ihn gezeichnet, Musicorum princeps ward er geheißen, eine ganze Schule musikalischer Humanisten wuchs in seiner Zucht auf. Glänzend auch die Schilderung der Prager Hofmusik zur Zeit Keplers, die damals »ein Hauptzentrum der Ausländerei« war, wie ja Prag überhaupt vom Ausgang des Mittelalters bis ins Barocke hinein, um die Wette mit Padua, Paris, Avignon, Oxford und Nürnberg den Europäer ausgekocht hat. An Orlando di Lasso, der mich schon, als ich, ganz jung, zum erstenmal nach München kam, beim ersten Anblick seines Standbildes auf dem Promenadeplatz gleich instinktiv so geheimnisvoll bezaubert hat, kann man den Europäer entstehen und sich vollenden sehen: zu Mons im Hennegau geboren, als Singknabe von Ferdinand Gonzaga nach Sizilien, dann nach Mailand gebracht, später in Rom Rivale Palestrinas, auf einmal in London auftauchend, von da nach München geholt, wo der »belgische Orpheus« nun als Hofkapellmeister, mit einem Ehrenfräulein der Herzogin vermählt, fast fünfzig Jahre lang wirkt, an zweitausend Werke, darunter fünfzig Messen, schafft, aber »niemals zum Deutschen wird, obwohl ihm Deutschland stärkste künstlerische Impulse zu verdanken hat«. Das eigentliche Geheimnis seiner verschwenderisch aussäenden Kraft sieht Moser in »seiner stilistischen Zwitterstellung zwischen Gotik und Renaissance«: er nimmt musikalisch schon das Barock vorweg . . . Mir ist das Buch Hans Joachim Mosers vor allem durch seinen Wahrheitssinn so wert. Es zeigt wieder einmal, daß es, bei reiner Empfindung für Wahrheit, im Grund ziemlich gleichgültig ist, zu welcher Partei sich einer bekennt. Moser hebt ganz nationalistisch an: der deutschen Musik Geschichte will er schreiben, und ausdrücklich versichert er, dies sei »nicht eine solche aller je in Deutschland erklungenen, sondern eine der deutschgearteten Musik«, eine, die »sich grundsätzlich bemüht, unsere Musik in all ihren Aeußerungen aus dem Wesen des deutschen Volkstums heraus zu entwickeln«. Das kommt mir vor, als spräche mir einer vom deutschen Frühling, das Blühen der Veilchen als Eigentümlichkeit unserer Rasse beweisend. Moser leugnet, daß die Tonkunst die internationalste unter den Künsten ist, er hält »das gerade Gegenteil für richtig«. Ich bin doch sehr froh, daß ich dennoch weiter las. Denn nirgends ist sein Buch von reinerer Schönheit als gerade dort, wo es die deutsche Musik vom Hauch fremder Volksart berührt, ja dadurch eben gleichsam erst wachgeküßt zeigt. Das beweist wieder einmal, daß es gar nicht darauf ankommt, was einer denkt, was einer will, sondern immer nur darauf, wer er ist, Gott sei Dank!


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