Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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4. März

In meiner Arbeit über Pascal, der mir immer mehr zum Stammvater des Bolschewismus wird, geriet ich an sein Gespräch mit Herrn de Sacy, dem er Epiktet und Montaigne gewissermaßen als die beiden Pole des nur die menschliche Vernunft allein gebrauchenden Denkens darstellt, und fand da zu meiner Verwunderung ein Zitat aus Epiktet, in dem eigentlich schon das ganze Barock steckt, und gleich auch noch das Szenarium von Calderons gran teatro del mundo. »Vergiß nicht,« läßt Pascal den Epiktet sagen, »daß du hier wie ein Schauspieler bist und die Person in einem Stück spielst, die dir der Meister nach seinem Belieben zugeteilt hat. Ist es eine kurze Rolle, die er dir gibt, spiel sie kurz, und die lange spiel lang; will er, daß du den Bettler machst, so mußt du's mit aller Naivität, deren du fähig bist; und so durchaus. Deine Sache ist, die Rolle gut zu spielen, die dir zugewiesen worden ist; sie dir auszusuchen, ist nicht deine Sache, sondern eines andern.« Hier mußte doch, dachte ich, auf den Text Epiktets im Munde Pascals stark der barocke Sinn des eigenen Zeitalters (wenn nicht geradezu vielleicht Erinnerung an Calderon) abgefärbt haben und ich erstaunte sehr, als ich, die Stelle nun beim Epiktet selber nachlesend, sie dort unverändert vorfand. Pascal hat sie nur ein wenig abgekürzt, der Sinn stimmt. Mit der deutschen Übersetzung (im 30. Band der Langenscheidtschen Bibliothek) und der lateinischen (in einer alten Ausgabe, in unserer Studienbibliothek, von 1740) sogar durchaus, im griechischen Urtext bis auf einen gelinden, zunächst ganz unauffälligen Unterschied in der Interpunktion: das Wort kalos, das in den Übersetzungen noch in die Funktion des Schauspielers einbezogen wird, wird im Urtext auf das Konto des Meisters gesetzt, so daß es dort heißt: »deine Sache ist, die Rolle gut zu spielen; sie dir auszusuchen, die Sache eines anderen«, während es im Urtext heißt: »deine Sache ist, die Rolle zu spielen, aber die richtige für dich auszusuchen ist eines anderen Sache.« Dies fiel mir auf, nicht bloß weil es immerhin den Sinn des Vergleichs doch leise, wenn auch scheinbar unbeträchtlich, verändert, sondern weil diese Veränderung gerade das berührt, was in mir, vor Jahren schon, einen solchen inneren Widerspruch gegen Calderons Welttheater so heftig erregt hatte, daß ich den Entwurf einer Umdichtung schließlich nur deshalb unausgeführt ließ, weil er doch über meine künstlerischen Mittel ging; denn mein Atem reicht zwar aus, Calderon umzudenken, nicht aber umzuformen, da hätte man doch den Hiatus zu kläglich gespürt. Mein innerer Widerspruch gegen Calderon aber begann dort, wo, nachdem in dem Stück erst die Rollen vom Meister ausgeteilt und jeder mit der seinen ungefragt versehen worden, worüber der Bettler sogleich murrt, weil er, was man ihm nicht verdenken kann, lieber die des Königs hätte, wo zuletzt dann der Prasser vom Meister zur Hölle verdammt wird. Das schien mir gegen die Abrede, hatte doch der Meister anfangs ausdrücklich verheißen, nach geschlossenem Spiel an seine Seite zu setzen, »wer's am besten hat gemacht und getreu und unverdrossen seiner Rolle Geist erschlossen«. Nun hatte doch, der den Prasser gab, so gut gepraßt, als man nur irgend prassen kann, und sollte gerade darum, gerade des Prassens wegen, das er sich ja nicht ausgesucht, das er nur, nachdem es ihm einmal zugeteilt worden, mit aller Kraft recht nach der Kunst durchgeführt, gerade weil er die Rolle des Prassers so vorzüglich gespielt, jetzt statt an die Seite des Meisters gesetzt, vielmehr auf ewig verstoßen sein? Dies empfand ich als ungerecht. Ich erinnerte mich daran erst heute wieder, beim heutigen Evangelium: am Donnerstag nach dem zweiten Fastensonntag ist das Evangelium vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Wie da der reiche Mann in seiner großen Pein der Höllenflammen den Abraham ansieht, ihm doch den Lazarus zu senden, »daß er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und meine Zunge abkühle«, antwortet Abraham: »Gedenke, Sohn, daß du Gutes empfangen hast in deinem Leben und Lazarus hingegen Übles; nun aber wird dieser getröstet, und du wirst gepeinigt.« Das ist einer jener grandiosen Sätze, wie sie nur der Evangelist Lukas hat: gar nicht erzählend, sondern einfach die Sache selbst hinstellend. Aber macht es uns nicht schaudern? Und eigentlich erwarten wir, daß der reiche Mann erwidern wird: »Warum habe ich denn Gutes empfangen in meinem Leben, so daß ich jetzt gepeinigt werden muß, warum wurde mir denn nicht lieber Übles gegeben in meinem Leben, so daß ich jetzt auf ewig getröstet würde dafür? Ich habe mir doch jenes Gute nicht ausgesucht, ich hätte vielleicht das Üble gewählt, wer weiß? Aber ich bin ja gar nicht gefragt worden!« Und so ließ ich in jenem Entwurf einer Umdichtung Calderons den Prasser hadern mit dem Meister und sich aufbäumen gegen das Urteil: »Ich hab mir die Rolle des Prassers nicht ausgesucht, es war nicht meine Wahl, ich bin gar nicht gefragt worden, ich spielte die Rolle, die man mir gab; ich hätte den Bettler geradeso gespielt; gerade so gern und gerade so gut, mit ebensoviel Ergebung und Demut bettelnd, als ich prassend voll Hoffart und Unzucht war. Ich nahm die Rolle, die man mir gab; und wer kann leugnen, daß ich sie gut gespielt?« Da spricht die gewaltige Stimme des Meisters: »Zu gut! Verdächtig gut! Verräterisch gut! Dir ward die Rolle des Prassers zugeteilt, um dein Herz aufzudecken. Wie du sie gespielt, die Freude, mit der du gepraßt, und daß es dir möglich war, in dieser Rolle so ganz aufzugehen, dadurch ist dein böses Herz offenbar geworden. Denn diesen Sinn hat das Spiel der Welt, daß jedem darin eben die Rolle gegeben wird, an der er zeigen kann, was er sinnt: das ist des bunten Weltspiels geheimer Ernst« . . . Diese meine Wendung scheint mir auch heute noch, wo die erste Freude des Einfalls längst verraucht ist, im Grunde mehr Calderon als die Calderons. Auch behält sie durchaus den seltsamen Reiz seiner Erfindung bei, der recht eigentlich darin besteht, daß immerfort zwischen dem Schein des Theaters und dem Ernst des Lebens hin und her gewechselt wird, so daß man lange nicht weiß, ob gemeint ist, dem Theater eine besondere Bedeutung zu geben dadurch, daß es als ein Sinnbild des Lebens gezeigt wird, oder aber dem Leben eine neue Würde dadurch, daß es den Rang des Theaters erhält. So geht das Stück zwischen Symbolischem und Wirklichem immer hin und her, wie denn, wenn der Meister zunächst beim Austeilen der Rollen als Regisseur des Spiels erscheinend, sich dann als Richter der Welt enthüllt, auch dies einen im Grunde durchaus realistischen Zug hat: geschieht es doch Regisseuren auf Proben oft genug, daß ihnen der Schauspieler durch die Geschicklichkeit, mit der er irgend etwas trifft, menschlich mehr von sich verrät, als ihm selber lieb ist, man bewundert dann seine Kunst, nimmt sich aber zugleich im stillen vor, im Leben fortan vor einem Kerl, der derlei so beschämend gut trifft, lieber auf der Hut zu sein, wodurch man denn auf einmal mitten im Spiel unwillkürlich schon aus einem ästhetischen Teilnehmer zum sittlichen Richter wird. Damit hätte nun, daß unser ganzes Leben nichts als ein Spiel ist, worin das Schicksal jedem seine Rolle zuweist, schon noch einen ganz anderen Sinn, es wäre dann ein Spiel von besonderer Art, nämlich ein Probespiel, das aber nicht die Spielkunst des Spielers erproben soll, sondern seinen menschlichen, seinen sittlichen Wert, in dem es also gar nicht so sehr darauf ankäme, gut zu spielen, als vielmehr sich auszuspielen, an seiner Rolle sich aufzutun und was man selber ist, kundzutun, und dies ebensosehr durch das was man von der Rolle trifft, als durch das was man ihr schuldig bleibt. Die Bühne des Lebens wäre dann doch anders gemeint als die des Theaters, auf der, wer den König spielt, um so besser ist, je königlicher er ihn gibt, während ihm auf jener andern nur so weit königlich zu sein erlaubt ist, als das Sittengebot zuläßt. Und so käme denn auch hier die mir seit je so liebe Geschichte Herodots von der schönen Agariste wieder zu neuen Ehren, die mir vor Jahren schon meinen Dialog vom Marsyas eingab. Um Agariste warben viele, aber Hippokleides, der anmutigste der Freier, bekam sie schließlich dennoch nicht, denn er tanzte zu gut, besser als einem freien Manne ziemt. Auch hier wird also schon über den irdischen Vorzügen ein höherer Wert anerkannt, den gerade nun auch in diesem irdischen Leben zu bewähren mehr als jeder irdische Vorzug gilt, ja recht eigentlich der Sinn dieses irdischen Lebens, der Ernst unseres Spiels in der Welt ist. Und so hätte mein griechischer Text des Epiktet mit seiner Interpunktion recht und die der lateinischen wie der deutschen Übersetzung wäre falsch: das »kalos« gehört nicht zum Spieler des Lebens hinüber, sondern zum Regisseur. Du, Mensch, hast deine Rolle zu spielen; sie gut auszusuchen ist nicht deine, sondern eines anderen Sache. Du kannst unbesorgt sein: der andere sucht sie dir gut aus, nämlich so, daß an ihr gerade du, so wie du nun einmal bist, dartun kannst, was du bist, daß du dich an ihr entscheiden kannst, für das Gute oder für das Böse in dir, daß du dir an ihr das ewige Leben oder den ewigen Tod bereiten kannst. Nur wähne nicht, daß es in diesem Spiel das Spiel gilt, es gilt seinen geheimen Ernst! Wenn du dich freilich an den Applaus der Welt hältst, kann's dir übel gehen: der Hippokleides hat zu gut getanzt, der reiche Prasser hat nur zu gut gepraßt. Womit aber gar nicht gesagt ist, daß nicht auch einmal ein Prasser in Abrahams Schoß und nicht auch einmal ein Lazarus in die Hölle gelangt: dies hängt von der inneren Haltung beim Prassen oder Betteln ab. Jedem wird in diesem Spiel der Welt gerade die Rolle zugeteilt, die gerade die Verlockungen enthält, an denen er, je nach dem er widersteht oder unterliegt, erproben kann, was er wert ist. Vergiß nur nicht, daß du daran, wie du die Rolle spielst, nicht weltliche Macht zu zeigen hast, sondern deine Freiheit von der Welt! Mir fehlen hier die Hilfsmittel, um festzustellen, ob Calderon den Epiktet gekannt hat. Doch ich zweifle nicht daran. Ob er aber den griechischen Text gekannt hat? Er wird ihn in der lateinischen Übersetzung gelesen haben, die »kalos« mit bene wiedergibt und dieses bene dann auf das Spiel der Rollen, statt auf ihre Verteilung bezieht, und mag dadurch verlockt worden sein, als er dann den Epiktet zu dramatisieren unternahm, dem Theatersinn des Vergleichs allzustark nachzugeben. Daß aber auch Pascal das bene falsch stellt, damit beweist er nur wieder den Jansenisten, für den ja, bevor noch das Spiel der Welt beginnt, längst schon alles entschieden, der eine schon bei der Geburt auserwählt, der andere verdammt, das ganze Spiel sinnlos ist und uns wirklich nichts anderes übrig bleibt, als daß jeder seine Rolle, der eine die des Auserwählten, der andere die des Verdammten so gut als möglich spielt, wodurch dann aus dem großen Welttheater eine recht erbärmliche Komödie wird, eine Komödie von Automaten.


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