Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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14. Sept.

Im zweiten Buch der von Alfred Wolfenstein bei S. Fischer herausgegebenen »Erhebung«, ein mir höchst willkommener Aufsatz Adrien Turels über »Jedermanns Recht auf Genialität«. Da mag mancher schon bei der Ueberschrift auflachen, besonders wer sich selbst ein »Genie« und über die Masse der profanen Menschheit erhaben dünkt. Mir aber war aller Geniekult, der von den Stürmern und Drängern stammt, dann aber von Jean Paul, Schlegel und Schopenhauer gar bis ins Absurde gesteigert wird, denen das Genie ja geradezu, wie Chamberlain sagt, ein »bestimmtes anatomisch physiologisch ausgezeichnetes Individuum, eine höchste Potenz der Monade als Monade« ist, immer ein Greuel. Ich hielt mich an einen anderen Geniebegriff, an den Lavaters, der sagt: »Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut, empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, als wenn's ihm ein Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte, der hat Genie.« Ganz ebenso spricht auch Herder in der »Kalligone« von der »genialischen Stunde«: da werden wir »mitgenialisch mit dem Genius, fühlen uns seiner Art«. Und Rudolf Hildebrand, der treueste Gehilfe Grimms, hat im Deutschen Wörterbuch prachtvoll dargetan, wie Goethe, der selber in der Wildnis seiner Jugend vom Geniebegriff der Stürmer angesteckt gewesen, ihn bald als »Unwesen« erkennen und überwinden lernte. »Doch leugne ich nicht,« schreibt Goethe an Schiller, »daß wir den Creator spiritus wohl zum Freunde haben müssen, wenn wir das nächste Jahr nicht zurück, sondern vorwärts treten wollen.« Damit war, wie Hildebrand sagt, »das Genie wieder als schaffender Geist für sich, auch außer und über dem Menschengeist gedacht, nicht in diesem mit allen Mängeln aufgehend wie in der Genieperiode, nicht als unverantwortlicher Gott, sondern als verantwortlicher Vertreter Gottes«. Mir sind auch in meinen ärgsten Zeiten, als sonst mein Geist gern irre ging, Genies immer Abbreviaturen der Menschheit von besonders auffälliger oder besonders mitteilsamer Art geblieben. Genie, schrieb ich voriges Jahr über Edgar Zilsels »Geniereligion«, dieses beißende Pasquill auf sie, Genie scheint mir gar nicht etwas, was irgendein Mensch ist, sondern etwas was der Mensch hat, was jeder Mensch hat, nur der eine mehr, der andere weniger, etwas was über den Menschen kommt, über den einen oft, über den anderen selten, über manche sichtbar, über andere geheim, nämlich das Rauschen Gottes, das jedes Geschöpf vernimmt in den erhabenen Stunden, von denen keines je ganz unberührt bleibt. (Mehr darüber in meiner jetzt bei E. P. Tal erschienenen Schrift »1919«.) Ich würde nun freilich, wenn mir Genie gleich etwas scheint, das jedermann haben kann, deshalb noch nicht ein »Recht« jedermanns darauf ansprechen; ein Recht auf Gnaden kann ich mir nicht denken. Aber daß wir uns besser auf den Besuch des Genius vorbereiten, daß wir vor allem schon die Kinder zu seinem Empfang rüsten sollten, darin kann ich ihm von Herzen zustimmen, wenn er mir auch zuweilen der doch etwas boschen Meinung verdächtig wird, Genie lasse sich kommandieren, Seele drillen: »Innerliche Meisterung des Entwicklungsganges, das ist Genialität. Auf diese Genialität hat jeder ein Anrecht, muß jeder ein Anrecht haben können, wenn die Mitregierung aller mehr sein soll als eine Phrase . . . Wenn uns etwas nachahmenswert erscheint in den Bewußtseinsfunktionen eines Kopernikus, eines Marx, so werden wir den Mechanismus dieses Denkens, seine Kausalität ergründen, und wir werden sie allmählich, soweit es für die Struktur der Gesellschaft wünschenswert ist, jedem anerziehen lernen. Das ist, was wir unter Demokratisierung des Genies verstehen. Nicht Nivellierung nach unten, sondern Nivellierung nach oben. Hirne wie Kants, wenn nötig, in Serien erzeugt . . . Ebenso wie das Recht auf Existenzminimum und Bildung, wird die künftige Gesellschaft jedem das Recht auf die Denkfunktionen garantieren können, die wir als schöpferische bezeichnen. Sie kann's, weil alles genial ist, was da als Mensch lebt und leidet. Der neidvoll verzichtende Aesthet mag mit den Schultern zucken bei dem Gedanken, daß jeder Arbeiter, Bauer sogar (ich sage nicht jedes Weib, weil doch des Weibes Schöpfertum anders geartet ist), sich zur Selbsterlösung eines Goethe sollte heben lassen. Wir behaupten: Ja! Und noch darüber hinaus, weil doch beim alten Geheimrat alles platonisch blieb, dünkelhaft in sich selbst gefällig, ohne Willen nur Vortrab zu sein zur Selbsterlösung jedermanns, ohne Sinn für die Tragödie des Banausentums, für den Adel der Schande . . . Der Weimarer Minister hat das einzig entscheidende nicht mehr gefühlt, daß noch in jedem Pfahlbürger dieselbe furchtbare, tragisch-geniale Zwiespältigkeit zuckt und leidet, die während seiner großen Zeit in ihm selbst lebte; als er Mephistopheles war und Gretchen, Heinrich, Faust und Wagner zugleich . . . Er selbst hat sich nicht auf der gewaltigen Höhe des Bewußtseins zu behaupten vermocht, daß er jedermanns Bruder sei; ihm nicht nur in der Verdauung, sondern auch in der seelischen Struktur so gleich wie ein Lindenblatt dem anderen.« Dies sind Wahrheiten, doch mit vorschnellen praktischen Schlüssen. Gewiß bestand Erziehung bisher meistens hauptsächlich darin, dem Kinde sein Genie auszutreiben. Ob es sich aber deshalb auch eintreiben läßt? Auch was wir Konversionen zu nennen pflegen, ist doch immer im Grunde nur Selbstbesinnung auf das Genie. Kann aber Konversion zu sich selbst erzwungen werden? Uebrigens trotzt gegen jedermanns Recht auf Genialität insgeheim noch etwas anderes in uns auf: unsere Persönlichkeit scheint dadurch bedroht, das Gefühl unserer Einzigkeit gekränkt, der Einzigkeit jedes Individuums: denn jene »Demokratisierung des Genies« setzt etwas Unerträgliches voraus, sie setzt die Gleichheit aller Seelen voraus. Aber gerade da kann Turell sich auf den heiligen Thomas berufen, der jene Einzigkeit nicht unserer Seele, sondern der Materie zuteilt: die Seelen sind gleich und unterscheiden sich nur nach ihrer verschiedenen Kommensuration zu den Körpern, alia est substantia huius animae et illius, non tamen ista diversitas procedit ex diversitate principiorum essentialium ipsius animae, nec est secundum diversam rationem ipsius animae, sed est secundum diversam commensurationem animarum ad corpora; haec enim anima est commensurata huic corpori et non illi, illa autem alii, et sic de omnibus. Auch Josef Mausbach (im ersten seiner fünf Freiburger Vorträge über »Grundlage und Ausbildung des Charakters nach dem heiligen Thomas von Aquin«, in den »Moralproblemen« abgedruckt, bei Herder, Freiburg 1911), der ausdrücklich darauf hinweist: »daß die geistige Seele als solche nach Thomas nur die Züge der Art, nicht die des Individuums an sich trägt, und daß er von den Vorzügen des Einzelmenschen regelmäßig nur die allgemeine Vernünftigkeit, die Ausstattung mit den ersten Denkprinzipien usw. auf das Konto der Geistigkeit schreibt: danach würden die Seelen als solche für vollkommen gleich zu halten sein«, auch er muß doch eingestehen, wie furchtbar schwer es uns wird, anzunehmen, »wirklich anzunehmen, die Seelen eines Augustin und Goethe seien von denen gewöhnlicher Dutzendmenschen innerlich gar nicht verschieden, die besondere Kraft und Fülle ihres Geisteslebens erkläre sich nur aus der Lebendigkeit und Fruchtbarkeit ihrer sinnlichen Vermögen und aus ihrer körperlichen Vortrefflichkeit«.


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