Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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30. März

Wie seit Jahren in der Karwoche lese ich auch heuer wieder das bittere Leiden unseres Herrn nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich in der Niederschrift Brentanos. Daß die fromme Magd durch den Mund des innigsten Dichters spricht, gibt dem seltsamen Buch seinen so ganz eigenen Reiz. »Ein frommes, Andacht, mitunter auch Graus und wieder Lächeln erregendes altdeutsches Bild« hat es Diepenbrock genannt, und in eben diesem Brief an Görres (ich zitiere nach der Einleitung Oehls zum vierzehnten Band der schönen, leider nun seit Jahren stockenden, von Schüddekopf geführten Gesamtausgabe Brentanos bei Georg Müller in München 1912) fährt er fort: »Aus vielen Gesichtern und Gesichten schaut mir der Clemens gar so leibhaftig hervor.« Clemens hat das selber gar nicht geleugnet, er gab zu, daß er »nach Pater Kochem und Aehnlichen die Gesichte verbunden«. So sehr es nun aber ein Glück ist, daß die Gehilfen, denen die heilige Angela von Foligno, denen die heilige Theresa ihre Gesichte diktierte, bloß redliche Schreiber waren und keine Dichter, den »Fastenbetrachtungen« der guten Emmerich, die selbst »ihren Anschauungen nie einen wirklichen historischen Wert« zuschrieb, hat die steigernde, wenn auch zuweilen unwillkürlich leise fälschende Nachhilfe des bald von ihr emporgezogenen, bald wieder selber sie beflügelnden Dichters weiter kein Leid getan. Es ist der schönste Fall einer Gebetsfreundschaft, wo die beiden in Gott verbundenen einander so viel geben, daß zuletzt keins mehr sagen kann, was davon ihm, was dem anderen und was der Gnade von oben gehört. Das Landmädchen selber, wenn es so bei der Arbeit im Garten steht und es kommen die Vögel geflogen, setzen sich auf den Kopf und die Schultern der Magd und sie lobsingen dann zusammen Gott, ist ja schon lebende Legende; der Clemens macht nun nur noch ein Volkslied daraus. Aber wenn er an Verstandeskraft und Wortgewalt über ihr steht, wie weit bleibt er menschlich hinter einem Wesen zurück, das sagen durfte: »Ruhig leiden zu können ist mir immer als der beneidenswerteste Zustand des Menschen erschienen.« Und sie lag im Sterben, als sie, noch einmal zurückblickend, mit der Wahrhaftigkeit der letzten Stunde beteuern konnte: »Es ist kein Mensch auf Erden, gegen den ich etwas hätte.« . . . Sie wurde 1774 geboren, drei Monate bevor Susanna Katharina von Klettenberg starb, die Freundin Goethes, die »schöne Seele« der Lehrjahre, das Urbild Makariens in den Wanderjahren. Diese beiden Katharinen, der Zeit und dem Ort nach einander so nah, an äußerem und innerem Stand einander so fern und doch in ihrer letzten Sehnsucht wieder einander höchst geheimnisvoll verwandt, zu vergleichen, das Bauernkind mit dem Stadtfräulein, die Augustinerin mit der Herrnhuterin, die Gefährtin Brentanos mit der Freundin Lavaters, eigentlich also die beiden Enden jener deutschen Welt, wie muß das meinem eingebornen Sinn für Polarität behagen! Die Klettenberg ist, in ihren Briefen und ihren eigenen Schriften vielleicht noch mehr als in der Darstellung Goethes, die reinste Gestalt protestantischer Seelenkultur im XVIII. Jahrhundert, ja vielleicht die reinste Gestalt, deren protestantische Seelenkultur überhaupt fähig ist. Die katholische Gegenfigur dazu wäre die Fürstin Galitzin, Hemsterhuis' Diotima (ich vermute, daß sich Goethe von ihr Züge Nataliens geborgt hat). Die Emmerich dagegen, die holde Blüte katholischer Natur, ist an katholischer Kultur ganz arm. Den Drang zu Gott hat die westfälische Bauernmagd mit dem Frankfurter Edelfräulein gemein, und wenn Schiller »den eigentümlichen Charakterzug des Christentums in der Aufhebung des Gesetzes oder kantischen Imperativs« sieht, »an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will« (was im Grunde nicht ganz stimmt, aber eine Wirkung, ein Ergebnis des Lebens unter dem christlichen Gesetze gut ausdrückt), so sind beide, die Klettenberg wie die Emmerich, dieser Verwandlung des sittlich Gebotenen in eigenen Affekt, des mahnenden Gewissens in eine zweite Natur sehr nahe gekommen. Aber wenn sie darin einander gleichen, scheidet sie, daß in der Klettenberg jedes Erlebnis zunächst zur Reflexion und erst in der Verdünnung durch Reflexion zum inneren Besitz wird, während jedes innere Erlebnis der Emmerich von selbst sogleich Gestalt annimmt: sie kann gar nichts empfinden, so wird es ihr schon zum Gesicht; was sie denkt, fühlt oder will, erscheint ihr sogleich. Die Klettenberg aber ist von einer innerlich augenlosen Rasse, die selbst, was sie mit den Augen des Leibes sieht, dann immer erst, um es sich auch innerlich aneignen zu können, sozusagen abblenden, immer von allem Gesehenen erst wieder absehen muß, um es bedenken zu können, um es sich vor dem Verstand rechtfertigen zu lassen, der allein erst den Erscheinungen, äußeren oder inneren, dann auch zu erscheinen erlaubt, während für den angebornen inneren Augenschein der Emmerich alles, was ihr gewiß ist, sich von selbst auch schon Gestalt gibt oder nimmt: sie kann überhaupt gar nichts denken, ohne daß es sich ihr sogleich zeigt, und es ist sehr schade, daß Goethe sie nicht gekannt hat, der ganz von derselben Geistesart war, der auch, sobald er sich zum Gedanken der Urpflanze genötigt fand, diese gleich mit Augen sah und gar nicht begreifen konnte, was der innerlich augenlose Schiller mit seiner reinlichen Scheidung der Erfahrung und der Idee denn überhaupt eigentlich von ihm wollte. Diese Begabung mit inneren Augen, mit dem »dritten Auge«, wie man es genannt hat, in Städten so selten, gar dem Bürgertum ganz fremd, ist im Landvolk noch unverkümmert, besonders dort, wo katholische Tradition noch stark genug ist, der entbildenden Wirkung bürgerlichen, bloß den Verstand pflegenden und sich mit Wortdressur begnügenden Unterrichts entgegenzuwirken; nur soweit wir Bauernvolk geblieben sind, sind wir noch Griechen. (Damit ist nur eine Wirklichkeit ausgesprochen, aber eine freilich, die Schulmeister rasend machen kann.) Natürlich müssen diese beiden Rassen, die der zwiefachen Augenmenschen und die der innerlich Augenlosen, einander durchaus mißverstehen, ja es gibt im Grunde nichts, worüber sich jene, die nur in Gestalten denkt, sich irgendwie mit dieser, die durch Gedanken erst sieht, im mindesten verständigen könnte, da jeder dasselbe Wort doch einen ganz anderen Sinn ergibt. Hier wurzelt auch der ewige Vorwurf des protestantischen Bürgers, es fehle dem Katholiken an »Innerlichkeit«. Denn die Katholiken, die der protestantische Bürger kennt, sind meistens Landvolk, durch dessen angeborene Sehkraft alles Innere sogleich Gestalt annimmt und zum Bilde wird. Dem protestantischen Städter aber ist Sehen immer schon Aeußeres und wer einwärts kein Auge hat, ahnt ja nicht, daß es, so paradox ihm das klingen mag, in uns ja noch eine zweite Sinnlichkeit gibt, nämlich, wenn auch seit dem Ende des Barocks durch Ungebrauch verkümmernd (in Goethe noch ganz lebendig: was er »wissenschaftliches Beschauen«, was er »die Region, wo Metaphysik und Naturgeschichte übereinandergreifen, also wo der ernste treue Forscher am liebsten verweilt«, nennt, und sein Begriff einer Naturwissenschaft »mit Geist und Gemüt«, ja »mit allen liebenden verehrenden frommen Kräften« beruht darauf, und auch noch Francis Galton, der Eugeniker, hat sie gerade so bezeugt wie schon Johannes Müller, der Vater der Histologie, der Lehrer Virchows und Haeckels) eine Sinnlichkeit des Geistes, daß es eine sozusagen metaphysische Sinnlichkeit gibt, mit Organen für unser inneres Geheimnis, ja für das Uebernatürliche selbst, die nur freilich das Uebernatürliche nicht nach ihrer eigenen Willkür berühren können, sondern dazu seine Hilfe brauchen: wie das Auge des Leibes, nach Goethes Wort, »sich am Licht fürs Licht bildet«, wie das Auge des Leibes, damit das in ihm ruhende Licht erwache, durch das Licht von außen erst geweckt werden muß, so das Auge der Seele durch das Licht von oben. Aber nicht bloß ihre Sehkraft hat die Seele, sondern auch ihren eigenen Hörsinn und ihren eigenen Tastsinn . . . Der Beuroner Pater Alois Mager hat jüngst in einem seiner prachtvollen Aufsätze der »Benediktinischen Monatsschrift«, in welchen zum erstenmal versucht wird, das Wesen mystischen Erlebens wissenschaftlich zu bestimmen, seine sämtlichen Erscheinungen zu beschreiben, die derselben Art zu verbinden, die einander fremden zu sondern und so die Vorarbeit zu tun, durch die eine »Wissenschaft der Mystik« überhaupt erst möglich wird (die dann ihr Material etwa von dem trotz seiner Freundschaft mit Strindberg auch den »Gebildeten« unverdächtigen Karl Ludwig Schleich, den Entdecker der lokalen Anästhesie, verhören lassen könnte), auf die Schriften des Johannes vom heiligen Thomas hingewiesen, eines Spaniers, der von 1589 bis 1644 gelebt, also die heilige Theresa nicht mehr von Angesicht, natürlich aber ihre Werke, das höchste Beispiel katholischer Mystik und vielleicht überhaupt den reinsten Ausdruck der Liebe, gekannt und nun mit dem unerbittlichen Verlangen des Aristotelikers nach reiner Ordnung und strenger Konsequenz, was denn nun eigentlich mystisch zu heißen verdiene, gefragt hat. Er scheidet es vom einfachen Tugendleben dadurch, daß, während er dieses »in einer aus inwendiger Ursächlichkeit quellender Bewegung«, einer Bewegung also, die wir selber aus eigener Kraft vermögen, sieht, jenes nicht aus uns selbst, sondern von oben bewegt wird. Und er schränkt mystisches Erleben wesentlich auf eine »fühlbare Berührung« ein: es bringt »in Kontakt« mit der Ewigkeit. Wer es erlebt, ist fortan der Uebernatur unmittelbar gewiß, doch ohne von ihr mehr als eben diese Gewißheit aussagen zu können, er hat Erfahrung von ihr, aber nicht Erkenntnis. Daher kann mystisches Erleben den Glauben nur bestätigen, nicht aber ersetzen, noch entbehren. Es gibt uns nur die Gewähr für die »Tatsache« dieser uns sonst verschlossenen Welt; und vielleicht doch auch eine Verheißung, fortan von ihr berührt zu bleiben, und manchen vielleicht auch die Kraft, diese »Tatsache« der von ihnen ganz unmittelbar erlebten Uebernatur zu bezeugen durch Gleichnisse von ihr im Natürlichen, Gleichnisse der eigenen Tat, wie die Heiligen, oder Gleichnisse des eigenen Werkes, wie jene ganz seltsamen Künstler, die von allem, was sonst Kunst heißt, unbegreiflich weit wegstehen, obwohl sie ja dieselben Ausdrucksmittel gebrauchen. Der Gewaltigste dieser hohen Kunst, den wir Deutschen haben, ist Matthias Grünewald, und erst wenn man annimmt, daß ihm der Isenheimer Altar geradezu sozusagen in die Hand diktiert worden ist, kann man auch die Vermessenheit begreifen, mit der der Meister sich getrost seiner Subjektivität durchaus überlassen konnte: nur im sichersten Gefühl vollkommener innerer Bindung. Nur der innerlich ganz Gebundene darf sich ja völliger Freiheit von dieser Welt erkühnen, sie hat keine Gewalt mehr über ihn. Niemals ist diese Freiheit des Gläubigen mächtiger den Augen verkündet worden als von Grünewald. Im Genter Altar ist die Empfindung des Malers noch Uebernatur, gleichsam ganz Natur; sie halten zu jener Zeit noch Eintracht. Aber dem Isenheimer fühlt man an, daß die Wahrheit schon insgeheim bedroht wird: da rafft dieser Allemanne noch einmal ihre ganze Kraft in sich zusammen. Höher ist deutsche Kunst niemals gelangt. Ich habe mich in diesen dunklen Tagen der Karwoche wieder ganz dem Isenheimer ergeben. Da steht er vor mir, in den meisterhaften Reproduktionen, die Piper in München zunächst für Oskar Hagens wegweisendes Buch aufnehmen ließ und dann, während sie für dieses Buch verkleinert worden waren, in voller Größe noch als eigene Mappe herausgab. Kein schöneres Geschenk hat unserer Nation jemals ein Verleger gemacht, ein Abschiedsgeschenk, denn auch den Isenheimer Altar haben wir ja jetzt verloren.


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