Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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7. Sept.

Über Nacht sind wir zu Wasser worden; der Park ein trüber See, das Gartenhaus schwimmt darin, Hunde heulen. Wir, vom Bürgelstein, der einst eine römische Schanze war, beschützt, sitzen noch trocken, doch abgesperrt: an beiden Enden ist die Straße bespült. Wir gondeln. Salzburg macht sich übrigens als Klein-Venedig sehr gut; es wäre verwässert fast noch schöner. Die Salzburger freilich hätten es doch schwer, sich so rasch in Venetianer zu verwandeln. Nie wurde mir der Unterschied zwischen unserer Art, unserer vielleicht gar nicht so sehr wesentlich angestammten als erst allmählich anerzogenen Art und der welschen so sichtbar! Noch aus der Römerzeit her ist der Welsche gewohnt, öffentlich zu leben: auf der Straße fühlt er sich daheim, sie gehört ihm, jedem gehört sie. Wir aber haben jahrhundertelang nur privat existieren dürfen: draußen, sobald einer aus seinen vier Wänden tritt, untersteht er schon dem Schutzmann, bei uns gehört die Straße der Polizei. Weshalb unsereiner, wenn er eines Morgens keine Straße mehr vorfindet, sondern Wasser, zunächst gebührlich nach der Polzei ruft und auf die Polizei schimpft. Statt selber zuzugreifen, selber anzufassen, sich selber zu helfen, fragt er, warum denn der Bürgermeister nicht schon gestern, wo man doch schon hätte voraussehen können, veranlaßt hat, vorgesorgt hat, und so weiter. Selber vorzusorgen, selber zu veranlassen, selber Bürgermeister zu sein, selber im eigenen Kreise, fällt keinem ein: wir durften es doch noch nie; es ist uns doch auch verboten gewesen, selber zu sein, jahrhundertelang! Rührend wars, mit welcher Geduld die nassen Leute standen, ergeben wartend, ob nicht vielleicht doch ein Schiffl kommen wird, und rührend, in welcher Ordnung sie sich, als dann wirklich doch ein Schiffl kam, gehorsam einschiffen ließen. Es gibt vielleicht in der weiten Welt kein größeres Volk mit soviel Talent, Leid zu tragen! Ich aber malte mir indessen unwillkürlich das Theater aus, zu dem Italienern eine solche Gelegenheit doch sogleich den willkommensten Anlaß gegeben hätte. Denn es liegt ja nicht bloß daran, daß wir seit Jahrhunderten immer nur zur stillen Ergebenheit in alles, was mit uns geschieht, erzogen wurden, niemals aber, selber nach eigenem Sinn mitzutun, niemals, uns selber zu helfen, niemals, selber unser Schicksal zu kommandieren, sondern offenbar schon unserem Blute fehlt die welsche Lust an der Improvisation des Lebens! Auch aus jeder Not selbst holt der Italiener sich im Handumdrehen sogleich ein Fest, in dem selber mitzuspielen, sich zu zeigen und durch seinen Reichtum an eigenen Einfällen vor allen hervorzutun jedem in der Menge soviel Vergnügen macht, daß die Gefahr schnell vergessen und es nur noch ein öffentliches Schauspiel ist, das alle sich selber um die Wette genießen läßt, während wir doch selbst bei Festen noch auf strenge Sondierung der Festspiele vom Publikum dringen. So verhalten wir uns auch öffentlich immer nur als Publikum, das bloß zuzuschauen, nicht aber mitzuspielen hat, während den Italiener auch Theater sogar erst dann wirklich freut, wenn der Zuschauer mitzuspielen beginnt. Ob es uns aber wirklich schon im Blute liegt, öffentlich immer nur Zuschauer zu bleiben, ob wir wirklich geborene Zuschauer des Lebens sind? Ich weiß nicht. Eigentlich kann ichs nicht glauben. Wir hatten doch das Barock. Wir waren doch einst barock. Und ganz wir waren wir doch nur, als wir noch barock waren. Und daß am großen Spiel vom Menschen die ganze Menschheit bis auf den letzten Mann, er sei nun, was er sei, mitzuspielen hat, ist doch der Lebenssinn des Barocks gewesen. Wann aber und wodurch dann der große Bruch kam, unser innerer Knacks, durch den unser Volk zum bloßen Zuschauer des Daseins geworden ist, das habe ich noch immer nicht herausgebracht, weil doch österreichische Geschichte, die innere, die Herzensgeschichte Oesterreichs ja noch niemals geschrieben worden ist.


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