Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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8. Sept.

Im »Hochland« ein vortrefflicher Aufsatz Josef Schnippenkötters über die Bedeutung von Einsteins Relativitätstheorie. Klar, übersichtlich, auch Laien zugänglich, ein Muster ruhig in leichten Serpentinen ansteigender Darstellung, das Beste, was ich noch über den wutumheulten Einstein las. Das ganz Genialische seiner Leistung kommt da gut heraus. Ob sie sich behaupten oder wieder verschwinden oder doch Einschränkungen erleiden und was von ihr bleiben, wieviel von ihr vielleicht schon morgen jedem geläufig, ja selbstverständlich sein wird, kann ich nicht mutmaßen, weil es mir im Mathematischen an den einfachsten Kenntnissen und jeder Vorübung fehlt; bei siebenmal acht stock ich schon. Den Haß, dem »der Jud« noch sehr gelegen kommt, kann ich mir erklären, weil seine Theorie ja den Augenschein verletzt. »Was uns so sehr irre macht,« sagt Goethe, »was uns so sehr irre macht, wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist, daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Das Kopernikanische System beruht auf einer Idee, die schwer zu fassen war und noch täglich unseren Sinnen widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen noch begreifen.« Gerade Goethe hätte doch an Einstein übrigens seine helle Freude haben müssen als einem Prachtbeispiel dessen, was Goethe den »kategorischen Imperativ in der Naturforschung« nennt. »In der Naturforschung,« sagt er, »bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen«; und an einer anderen Stelle sagt er resolut: »Eine falsche Hypothese ist besser als gar keine.« Ganz so sagte sich offenbar Einstein auch, als er 1905, fünfundzwanzig Jahre alt, einfach zwei Prinzipien zusammennahm, ohne sich darum zu kümmern, daß die beiden einander widersprachen. Vielleicht nur einem Mathematiker ist ein solches unverschämtes Vertrauen zu jeder seiner Denknotwendigkeiten möglich, zugleich mit einer so grandiosen Verachtung aller Erfahrung. Und vielleicht nur ein Mathematiker imponiert dann der Erfahrung so, daß ihr schließlich nichts übrig bleibt, als ihm nachzugeben, ihm recht zu geben. Der Augenblick, als Einstein dies erlebte, der Augenblick, in dem er den gebeugten Stolz der Erfahrung gleichsam zu seinen Füßen sah, muß schon sehr merkwürdig gewesen sein. Warum aber erschreckt der Gedanke, nun auch die Zeit zu relativieren, wie der Raum es seit Kopernikus ist, eigentlich die braven Leute so, die doch ihren Kant zu kennen meinen? Und sie hätten ihn gar nicht erst nötig, jeder weiß es ja selbst, wie lang einem die Zeit oft wird, um dann auf einmal wieder nur ganz kurz zu weilen, und schon Horaz hat alternd geklagt, daß einem die Jahre dann plötzlich davonzulaufen beginnen. Nikolaus von Cusa war dem Problem schon ganz nah: er wußte, daß die Zeit, das Maß der Bewegung, kein Maß des tätigen Geistes ist, ganz wie er wußte, daß nirgends Gegenwart ist, weil Gegenwart, immer noch Vergangenheit, aber auch immer schon Zukunft, niemals dazukommt, zwischen den beiden zu sein, niemals dazukommt, Gegenwart zu sein, ganz ebenso wie Bewegung immer nur entweder das Ende einer Ruhe oder aber schon wieder der Anfang einer neuen Ruhe, niemals also sie selbst ist, ganz so wie deine Hand in den Fluß getaucht, niemals sagen kann, ob sie das Wasser berührt, das zufließt, oder das Wasser, das abfließt. Auch Leonardo, des Cusaners eifrigster Schüler neben Bruno, war, gerade von seiner starken inneren Gewißheit eines letzten Absoluten aus, immer alles, was uns vielleicht absolut bloß scheint, zu relativieren bemüht. Er ahnte sicherlich auch die Relativität der Zeit, wenn ich das gleich im Augenblick nicht belegen kann. Aber Dostojewski hat sie gewaltig verkündet, in den »Dämonen«, dort, wo Stawrogin mit Kirilow über den Selbstmord spricht (Seite 340 des I. Bandes der Ausgabe Pipers). Da fragt Stawrogin: »So glauben Sie jetzt an ein zukünftiges ewiges Leben?« Kirilow antwortet: »Nein, nicht an ein zukünftiges ewiges Leben, sondern an ein diesseitiges ewiges Leben. Es gibt Minuten, sie kommen zu den Minuten, und die Zeit bleibt plötzlich stehen und wird ewig sein.« Darauf Stawrogin, nachdenklich: »In der Apokalypse schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben wird.« Und Kirilow wieder: »Ich weiß. Das ist sehr richtig und deutlich. Wenn der ganze Mensch das Glück erreicht, so wird es keine Zeit mehr geben, einfach, weil sie nicht mehr nötig ist. Sehr richtig und deutlich.« Stawrogin: »Wo wird man denn die Zeit lassen?« Kirilow: »Nirgendwo wird man sie lassen. Zeit ist kein Gegenstand, sondern ein Gedanke und wird auslöschen im Verstande.« Damit ist Einstein prophezeit, durch den Zeit für uns ja jetzt ein »Gedanke« geworden ist; »und wird auslöschen im Verstande«. Was aber Fromme davon für ihren Glauben befürchten, kann ich eigentlich nicht recht verstehen. Das scheint nur eine Verwechslung: manche meinen stets, wenn Aristoteles in Gefahr gerät, gleich auch unseren Glauben bedroht. Der Geist unseres Glaubens, zunächst in den Evangelien, so, wie die Mitlebenden ihn von den Lippen des Erlösers vernommen hatten, aufbewahrt, nimmt, als er dann unter die Völker der Welt geht, um sich mit ihnen in ihrer Sprache zu verständigen, die Zeichen, sozusagen das Alphabet ihres Denkens: den Aristoteles und den Plotin. Erst die Scholastik wagt es, unseren Glauben immer mehr unmittelbar auszusprechen und ihm allmählich seine eigene Sprache zu schaffen; Oxford und Paris überwinden vielmehr den Aristoteles. Des heiligen Thomas von Aquin ungeheure Tat ist die Christianisierung der Antike. Wir hätten ihm bloß zu folgen und, wie er alles, was vor ihm erdacht worden war, christianisiert hat, mit derselben Kraft nun alles, was seit ihm erdacht worden ist oder noch erdacht werden wird, ebenso zu christianisieren. Es gibt ja vielleicht gar keinen Irrtum, auf dessen Grund nicht die christliche Wahrheit verborgen liegt.


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