Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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24. Juni

Immer einen der schmiegsamen Inselbände Goethes im Rucksack, erschrak ich gestern auf dem Untersberg bei den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, deren Einleitung ich, so vertraut sie mir sonst sind, lange nicht gelesen und halb vergessen, über die Aehnlichkeit ihrer Situation mit der unseren. »In jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten, als das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach« – könnte nicht ganz ebenso doch auch heute wieder ein Erzähler beginnen und treten uns nicht im Vetter Karl, der sich »von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freiheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbeter zu verschaffen wußte, und, so übel sie auch die einen behandelte, von den andern mit großer Lebhaftigkeit verehrt wurde«, und der nun, obwohl die ihm künftig bestimmten Güter in den Händen des Feindes sind, »der nicht zum besten darauf haust«, dennoch eine Nation zu bewundern nicht lassen kann, »die der Welt so viele Vorteile versprach, und deren Gesinnungen er nach öffentlichen Reden und Aeußerungen einiger Mitglieder beurteilte«, und in seinem Widerpart, dem hochgesinnten Geheimrat von S., der die »Willkür« der Franzosen, den »Unterdrückungsgeist derer, die das Wort Freiheit immer im Munde führten«, kennt und die »Verblendeten« beklagt, die »wähnen, daß eine ungeheure Nation, die mit sich selbst in der größten Verwirrung kämpft und auch in ruhigen Augenblicken nichts als sich selbst zu schätzen weiß, auf sie mit einiger Teilnehmung herunterblicken werde«, treten uns da nicht schon leibhaftig die beiden Haupttypen auch unserer deutschen Gegenwart entgegen? Und betragen sie sich nicht ganz ebenso wie wir? Das ungeheure gemeinsame Leid, statt sie zu einen, treibt sie nur noch mehr auseinander, erbittert sie nur noch mehr gegeneinander, bis schließlich der Geheime Rat hofft, die westlich Gesinnten alle »gehangen« zu sehen und der Vetter Karl den Deutschtümlern die »Guillotine« wünscht. Es ist ein Familienstreit, der fast an den Bruderzwist im Hause Mann erinnert, an diesen Zweikampf zwischen Thomas und Heinrich Mann von einer geradezu symbolischen Größe; die »vornehmste und schicksalhafte Verleiblichung des deutschen Selbsthasses, der alle großen Krisen unseres Volkes begleitet hat,« hat ihn Ernst Bertram genannt (in einem Vortrag zu Bonn in Berthold Litzmanns literarhistorischer Gesellschaft, Verlag Friedrich Cohen in Bonn). Nur mit dem Unterschied, daß München glücklicherweise doch groß genug ist, um Raum für beide feindlichen Brüder zu haben, während dort der Geheime Rat sogleich abreist und seine Freundin, die Tante jenes in all seiner leidenschaftlichen Ungezogenheit doch herzensguten Karl, wehklagend zurückläßt: »O, ihr Menschen, wird die Not, die euch unter ein Dach, in eine enge Hütte zusammendrängt, euch nicht duldsam gegeneinander machen? Ist es an den ungeheuren Begebenheiten nicht genug, die auf euch und die Eurigen unaufhaltsam losdringen? Müssen denn eure Gemüter nur so blind und unaufhaltsam wirken und dreinschlagen, wie die Weltbegebenheiten, ein Gewitter oder ein anderes Naturphänomen? Wenn ich doch nur einen einzigen in meinem Leben gesehen hätte, der auch nur in der geringsten Sache sich zu beherrschen imstande gewesen wäre! Wenn ihnen etwas gleichgültig ist, dann stellen sie sich gewöhnlich sehr ernsthaft, als ob sie es mit Mühe entbehrten, und was sie heftig wünschen, wissen sie sich selbst und anderen als vortrefflich, notwendig, unvermeidlich und unentbehrlich vorzustellen. Ich wüßte auch nicht einen, der auch nur der geringsten Entsagung fähig wäre.« Aber das traurigste daran ist, daß im Grunde doch auch die edle Frau, daß also offenbar Goethe selbst dagegen keinen Rat weiß, auch er nicht, der selbst so furchtbar an der eingeborenen Zwietracht der Deutschen litt, daß er einmal in das grimmige Wort ausbrach: »Sich von einander abzusondern ist die Eigenschaft der Deutschen; ich habe sie noch nie verbunden gesehen als im Haß gegen Napoleon. Ich will nur sehen, was sie anfangen werden, wenn dieser über den Rhein gebannt ist.« Ein einziges Mal hat er hoffen zu dürfen gemeint, damals entstand der Epimenides, dessen Anzeige er mit einem Zitat Klopstocks begleitete:

»Nun erlebt ich, was sich
Ueber Gewünschtes erhob.«

Doch hielten die Deutschen auch diesem »Säkularstück«, wie er es nannte, ja sie hielten ihrem eigenen Gefühl die Treue nicht, er mußte beschämt erkennen:

Ich habe der Deutschen Juni gesungen,
Das hält nicht bis in Oktober.

Wir erlebten dasselbe mit dem August; die Deutschen bleiben sich in allen Monaten gleich. Wer weiß uns dagegen Rat? Mit dem der »Unterhaltungen« ist es nicht eben weit her, wir sind doch eigentlich ein bißchen enttäuscht, wenn uns da zur Kur der unseligen deutschen Selbstgehässigkeit nun schließlich nichts Besseres angeraten wird als die »gesellige Bildung«, als der »gute Ton«, die beide doch, um überhaupt möglich zu sein, eben das schon voraussetzen, was sie hier uns erst bringen sollen. Uebrigens kehrt dieselbe Situation auch im zweiten »Faust« wieder, dort aber freilich aus dem Augenblick der Novelle ins Heroische gehoben, zur Ewigkeit gesteigert. Es ist unmittelbar, bevor die drei Gewaltigen kommen. Das Reich in Anarchie, Burg gegen Burg, Stadt gegen Stadt, Bürgerkrieg, Bruderkrieg, die Blüte deutscher Zwietracht: »was sich nur ansah, waren Feinde«, denn es fehlt der Befehl. »Wer befehlen soll, muß im Befehlen Seligkeit empfinden«; das spüren die Hadernden am Ende selbst und Aufruhr schwillt, Aufruhr nach einem Herrn, nach einem, der diese Seligkeit des Befehlens kennt.

»Ein jeder konnte, jeder wollte gelten.
Der Kleinste selbst, er galt für voll,
Doch war's zuletzt den Besten allzutoll.
Die Tüchtigen, sie standen auf mit Kraft
Und sagten: Herr ist, der uns Ruhe schafft.
Der Kaiser kann's nicht, will's nicht – laßt uns wählen
Den neuen Kaiser, neu das Reich beseelen,
Indem er jeden sicher stellt,
In einer frisch geschaff'nen Welt
Fried und Gerechtigkeit vermählen.«

Wenn die Franzosen sagen, es stehe schon alles im Balzac, so können wir alles schon in Goethe finden, unsere ganze Vergangenheit und auch unsere Zukunft, wenn wir überhaupt noch eine haben, enthält er. Aber es machen die Franzosen ebenso wenig Gebrauch von Balzac wie wir von Goethe.


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