Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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... Oktober

Seltsam klingt durch die Nacht dieser Zeit die klagende Stimme Ludwig Schemanns. Ein Getreuer Wahnfrieds, Gobineaus Apostel in Deutschland, das Erbe Lagardes hütend, hat er, während rings Deutschland eben anfing, ein großes Geschäft zu werden, sein ganzes Leben im Glauben an eine sittliche Wiedergeburt der Menschheit aus dem deutschen Geiste verbracht. Nun steht er, an die Siebzig, auf dem Leichenfeld aller Hoffnungen. Zwar sind Männer seiner tragischen Weltanschauung, die, den Trug des Irdischen durchschauend, Trost nur in der eigenen Not, in der nicht die Welt, aber den Täter von der Welt befreienden Tat finden, stärker gewaffnet als die leichtgläubigen Optimisten, die jetzt aus ihrem Wahn, der Mensch sei menschlich, aufgeschreckt erwachen. Aber geht jene Kraft bis zur Zuversicht, Deutschland, sein Deutschland, irgendein Deutschland des deutschen Geistes noch jemals wieder für möglich zu halten? Er will's, er wagt's, er versucht's, und dieser Versuch, zunächst vor allem vielleicht eigener Ueberredung, ist seine Schrift »Von deutscher Zukunft; Gedanken Eines, der auszog, das Hoffen zu lernen« (Theodor Weicher Verlag, Leipzig). Hat er's gelernt, das Hoffen? Vermag er's uns zu lehren? Es ist jedenfalls ein Hoffen dunkler Art, ein ungläubiges Hoffen, ein Hoffen zum Trotz, ein »Handeln jedenfalls, als ob noch Hoffnung vorhanden wäre«, dessen wir aber, meint er, nicht fähig werden, bevor wir erkannt haben, »wie gründlich wir verloren sind«. Uns daran zu mahnen, tritt er »als bewußter Störenfried unter das nur allzu leicht beschwichtigte Geschlecht«. Also: Verzweiflung, aber keine feig ergebene, sondern eine heroische, die mit Entschlossenheit nach der Tat, und wenn sie gleich unmöglich wäre, greift. Und man erwartet, nun wird er seinen Schmerz zusammenbeißen und die Tat nennen, der er die Kraft zutraut, uns zu einen, zum letzten gewaltigen Entschluß, und wäre das auch nur einer, von dem wir uns selber neues Leben gar nicht mehr erhoffen, aber Tod in Ehren. Doch dies fehlt, er kommt über Klagen und Anklagen nicht hinaus. In einer »Herrschaft der Mindestwertigen« sieht er das Ideal des neuen Geschlechts und den »Fluch des Goldes gerade beim Deutschen am schlimmsten«, denn »der reiche Deutsche hängt weit mehr als der reiche Jude an seinen Millionen«. An die Monarchie wagt er nicht mehr zu glauben: »In den drei Jahrzehnten seiner Regierung hat der letzte Hohenzoller all das von monarchischem Nimbus, was seine Ahnen in drei Jahrhunderten aufgesammelt, zu vergeuden gewußt.« Aber auch die Junker hätten versagt, weil ihnen im entscheidenden Augenblick, bei den »demokratischen Staatsstreichen«, der Mut zum Bürgerkrieg oder doch zu, wie er es ausdrückt, »einer Portion Bürgerkrieg« gefehlt. Was also, wer soll uns zur »deutschen Einigkeit« helfen, die doch überhaupt »im Grunde noch nie bestanden hat, außer auf Augenblicke, in denen katastrophale Blitze, wie 1813, 1870, 1914, die deutsche Welt durchzuckten?« Wo kann noch, nachdem »der höhere Mensch jetzt entwurzelt und entblättert« worden, unsere Zukunft sein? »Einige Brahmanenreste werden wohl auch bei uns bleiben wie in Indien. Im übrigen aber wird China Motto werden und eine ungeheure Mittelmäßigkeit dem deutschen Leben das Gepräge geben«. Wohin wir blicken, nirgends ist Trost, aber »ein Volk setzt sich zusammen aus seinen Toten, seinen Lebenden und seinen Kommenden. In unseren Toten ruht unsere Größe. Unsere Lebenden sind »ein anderes Volk«, ein entartetes Geschlecht. Nur in dem Maße, als wir uns auf die Ahnen besinnen, als vor allem die Kommenden sich ihrer wert erweisen, kann uns vor dem Spruche: »Gewesen, für immer gewesen!« noch Rettung winken. »Einen Hymnus trotzigen Hoffens anzustimmen hat der edle teure Mann gemeint und es ist eine Nänie auf Deutschland daraus worden. Wie ganz zerschlagen im Gemüt bin ich davon und frag mich wieder, wie schon oft in dieser Zeit, ob es nicht wirklich besser wäre, das Lesen aller dieser Schriften von der deutschen Not ein für allemal zu verschwören, die nichts helfen, ja vielleicht sogar eine Gefahr für den Deutschen sind: er meint am Ende sein Elend damit erledigt, wenn er es schreibend oder lesend »abreagiert«; der Brunnen, aus dem er noch Kraft schöpfen könnte, wird zu Wasserkünsten mißbraucht. Mir wird überhaupt bang vor dieser zunehmenden Gewohnheit, daß jetzt jedermann in Deutschland öffentlich laut denkt und jeden seiner Einfälle sogleich brühwarm der Nation vorlegt! Nicht bloß die Schamlosigkeit dieser Entblößungen widert mich an, sondern zum Mißtrauen gegen das Geschäft öffentlichen Verhandelns von Geheimnissen kommt noch die Furcht, ob nicht überhaupt Wahrheiten, jedenfalls die höchsten Ranges, durch Mitteilung immer schon denaturiert werden. Favete linguis! heischt der Dichter, und das ist mir schon sprachlich sehr merkwürdig: Favere heißt einem günstig sein, ihn beschützen, ihm helfen, hier aber ist mit dem Zuruf, daß wir unseren Zungen eine rechte Gunst erweisen sollen, einfach gemeint, daß wir zu schweigen haben, also gerade, als würde die Sprache, sobald sie nur überhaupt gebraucht wird, eben dadurch immer schon mißbraucht. Wer in unserem Geschäft älter wird, kann sich des Verdachtes am Ende kaum mehr erwehren, ob nicht mit dem Reden immer schon das Lügen beginnt. Lästige Wahrheiten, vor denen man zuerst erschrickt, wird man am besten los, indem man sie gelassen ausspricht. Daher auch der alte Brauch, Gefahren, Schäden, Uebel jeder Art zu »besprechen«. Was wir nennen, ist schon halb gebannt: das Wort hat die Kraft, Böses abzuschwächen. Vielleicht aber schwächt das Wort nicht nur Böses ab, sondern mit ebenderselben Kraft auch das Gute. Indem wir etwas beim Namen nennen, verliert es an Macht über uns. Durch die Sprache hat sich der Urmensch von den Schrecken der Erscheinungen befreit; sobald das Wort sie fixiert hatte, waren sie gleich nicht mehr so fürchterlich. Und je mehr nun allmählich das Ungeheuer von äußerer Welt in Worten fixiert wird, desto mehr verschwinden ihre Drohungen, bis zuletzt unserem deutschen Volke, das wie kein anderes von der Leidenschaft, ja von einer wahren Wut für solches Fixieren der Welt, der sichtbaren wie der unsichtbaren, besessen ist, darüber sie selber überhaupt verschwand. Wir sind ein Volk extremer Nominalisten, das schließlich von der ganzen Schöpfung nichts als die Nomenklatur in der Hand behielt; sobald wir etwas benannt haben, ist es für uns erledigt und alle Metaphysik, deren sich die anderen immer im Grunde doch nur zum besseren Gebrauch der Wirklichkeit bedienen, dient uns bloß zur Abschaffung der Wirklichkeit. So glauben wir auch jetzt in unserer Not, wenn es uns nur gelänge, festzustellen, was oder wer an ihr schuld war, sie damit auch schon los zu sein: wir schreiben Bücher und meinen etwas getan. Das ist die furchtbare Gefahr des »Verredens«, vor der Keyserling in seiner letzten Schrift »Philosophie als Kunst« (Otto Reichel Verlag, Darmstadt 1920) warnt: »Ueber ausgesprochene Dinge«, sagt er da, »verlieren wir leicht die Macht, weshalb schöpferische Geister sich instinktiv davor scheuen, das zu besprechen, was organisch werden soll. Nun während der letzten Jahrzehnte hat das ganze deutsche Volk seine mögliche Bedeutung gewissermaßen ›verredet‹, indem es durch Herausstellen seines gesamten Geisteslebens den Zusammenhang mit seinem schöpferischen Wesen fortschreitend aufhob. So besaß es zuletzt überhaupt nur äußeren, keinen inneren Halt. Die Demoralisation dieser Tage beweist durch ihre bloße Möglichkeit – denn sie, nicht die Tatsache ist das Entscheidende –, daß das deutsche Leben schon lange rein äußerlich zusammengehalten war. Hiezu aber konnte es – und dies ist das Bedeutsame – nur deshalb kommen, weil es in der Macht des Geistes liegt, den Nachdruck auf diese oder jene Seite der Wirklichkeit zu legen, weil er also wesentlich frei ist und der Deutsche seine Freiheit dazu benutzt hat, sich selbst seines höchsten Gutes zu entäußern. Auch auf geistig seelischem Gebiete ist Selbstmord, so unsinnig er scheint, nicht allein eine Möglichkeit, sondern für viele eine Wünschbarkeit. Wenn ein Geist immer nur in der Welt der Erscheinung als solcher weilt, dann wird er unwirklich und spiegelhaft wie sie; das Wesenhafte wird ihm zuletzt ganz unzugänglich, sein Leben wird mechanisch wie das eines abschnurrenden Räderwerks. Und damit wird es vollkommen unfähig, Bedeutendes hervorzubringen; es versinkt in unentrinnbarer Subalternität. Wenn ein Mensch immer nur bemerkt, was da ist, und nie das Werdende, so kann er nicht einmal ein leidlicher Politiker sein. Wenn er sich immer nur auf den Boden gegebener Tatsachen stellt, so kann er durch keine neuen, selbstgeschaffenen das Antlitz der Erde verändern. Wenn er sich immer nur darüber klar zu werden versucht, was außer ihm geschieht, so muß die innere Klärung ausbleiben. Daher das unwahrscheinlich Barbarische bei überaus vielen äußerlich oft gut gebildeten und jedenfalls häufig sogar gelehrten Gliedern des deutschen Volkes. Ja, wenn einer als Geist fortlaufend in der Vorstellungswelt als solcher lebt, so wird er schließlich vollkommen irreell. Er verliert jeden bewußten Zusammenhang mit dem Geschehen, sein Denken wird unverantwortlich sowohl als wirkungslos, und so täuscht er sich immerdar nicht allein über den wahren Charakter alles außer ihm Werdenden, sondern vor allem über sich selbst. Daher die ungeheure, dem Außenstehenden ganz unverständliche Selbsttäuschung, der die Deutschen durch Jahrzehnte erlagen. Sie hielten sich für etwas ganz anderes, als was sie sind. So stehen sie heute erschüttert vor einem zertrümmerten Götzenbild ihrer selbst. Dieses ganze Verhängnis ist wesentlich der Erfolg eines philosophischen Fehlers. Deutschland hatte Jahrzehnte lang sein Bewußtsein in der Erscheinungswelt, die ein äußeres Spiegelbild ist, zentriert und damit seinen eben doch vorhandenen Willen, seine Kraft in den Dienst des Aeußerlichen gestellt. Es hätte ihm aber von jeher freigestanden, den Akzent auf die Geistesmacht in sich zu legen. Sollen die Deutschen je wieder hochkommen, so muß dies jetzt geschehen. Aus der Aeußerlichkeit müssen sie sich zum Innerlichen zurückwenden, bewußten, unmittelbaren Anschluß wiedergewinnen an den schöpferisch-lebendigen Mittelpunkt ihrer selbst. Die angelsächsischen Völker haben nie bei dem Gedanken Halt gemacht, daß die Welt aus Erscheinungen besteht: für sie besteht sie in erster Linie aus Entscheidungen.« Diese Wahrheit von den Erscheinungen als unseren eigenen Entscheidungen, gleich unentbehrlich für das Leben des einzelnen wie der Völker, begreifen und ergreifen zu lernen hätten aber die Deutschen wahrhaftig nicht erst das Beispiel der Angelsachsen not, wären sie nicht Goethen, den sie nur im Munde führen, längst entfremdet, denn Goethes Wissenschaft wie seine Kunst, ja sein ganzes Leben, ruht auf der Erkenntnis, daß alles getan sein will. Immer wieder hat er es als das letzte Geheimnis aller Kreatur wiederholt, »daß man auf diesen höheren Stufen nicht wissen kann, sondern tun muß: so wie an einem Spiel wenig zu wissen und alles zu leisten ist. Die Natur hat uns das Schachbrett gegeben, aus dem wir nicht hinaus wirken können, noch wollen; sie hat uns die Steine geschnitzt, deren Wert, Bewegung und Vermögen nach und nach bekannt werden; nun ist es an uns, Züge zu tun, von denen wir uns Gewinn versprechen.« So war's immer, so wird's immer sein: auch unser Erkennen bleibt ohnmächtig, ohne einen kategorischen Imperativ, der es tätig macht. Daher jenes favete linguis, das alle tiefen Religionen umgibt: es hütet das heilige Schweigen, das allein uns die Stimme des Gewissens vernehmen läßt, das Gebot der Tat, durch die wir die Wahrheit bezeugen, aber eben dadurch auch selber nun erst von Angesicht erkennen lernen. Der Geist allein ohne die guten Werke genügt zur ganzen Wahrheit nicht; sie kann nicht erredet werden, sie muß getan sein. Als die Franzosen erlitten, was wir jetzt erleiden, wußten sie das und sie sagten sich: Niemals davon reden, immer daran denken! Fänden auch wir jetzt doch endlich die Kraft zum heiligen Schweigen, in dem allein die großen Entscheidungen reifen, sonst kanns geschehen, daß bald auch die letzte Spur deutschen Wesens »verredet« sein wird. Die großen Völker haben in ihren größten Zeiten das Wort immer an die Fläche des Daseins verwiesen: Tiefen sind stumm.


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