Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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5. April

Am 20. März waren es hundertfünfzig Jahre, daß Hölderlin geboren wurde. Man hat in Deutschland nicht viel Aufhebens davon gemacht. Novalis und Hölderlin, unsere beiden tiefsten Dichterdenker nach Goethe, die einzigen seiner voraussehenden und voraussagenden Art, sind heute noch ganz ebenso unbekannt, wie sie zeitlebens unbemerkt blieben. Der Deutsche macht von Goethes Farbenlehre, Novalis' Fragmenten und Hölderlins Hyperion, den weisesten Büchern der letzten zweihundert Jahre, Büchern, die das Geheimnis deutschen Weltgefühls enthalten, keinen Gebrauch; es bleibt in ihnen begraben. Was seitdem unter uns erschien, ist immer nur genau soviel wert, als es sich, der Form oder dem Gehalt nach, bewußt oder unbewußt ihnen nähert: am reinsten Stifter im »Nachsommer«, aufs tiefste Wagner im »Tristan«, in den »Meistersingern« und im »Parsifal«, sehnsüchtigst zuweilen Hugo Wolf und Gustav Mahler. Denn es ist das Geheimnis der großen Form, das in diesen weisesten Büchern ruht; und das Geheimnis der großen Form schließt sich keiner Erkenntnis auf, sondern nur der Liebe: »Liebend gibt der Sterbliche vom Besten«, sagt Hölderlin und vielleicht kann überhaupt nur wer liebt, erst geben; lieben ist geben, sich geben, sich ergeben (und dies in jedem erdenklichen Sinne von Ergebung). Auch Nietzsche, der jenes Hölderlin-Wort in einem Jugendbrief an Rhode zitiert, hat später selber ganz ebenso gesagt: »Nur aus Liebe entstehen die tiefsten Einsichten.« Auch er hat das Geheimnis der Liebe gekannt, er hat es nur nicht üben können, weil er sein ganzes Leben in der Haft des dunklen Werdens blieb und niemals die reine Freiheit sicheren Glaubens an das ewige Sein gewann, in der allein das Wunder der Liebe blüht. Ihm hat, wie Pascal, zu höchsten Gaben des Geistes die doch alles erst belebende, verklärende, beseelende Kraft: die Demut des Herzens gefehlt; darum ist aus ihm nur ein brüchiger Hölderlin geworden, ein qualmender Hölderlin, glühend und sich verzehrend wie jener auch, doch ohne jemals, mit welcher Gier er es sich auch verhieß, rein aufzuflammen. Es gehört zu den verruchten Unfällen, durch die der deutsche Geist immer wieder aus seiner Bahn geschleudert wird, daß Hölderlin erst in dieser Karikatur, die Nietzsche von ihm ist, auf die Deutschen zu wirken begann. Wenn nach dem heroischen Nietzsche-Roman, der Ernst Bertrams edles Buch über ihn ist (den »Versuch einer Mythologie« nennt er es selbst; bei Georg Bondi in Berlin 1919) nächstens einmal ein Pedant, von der ungeheuren Persönlichkeit Nietzsches, der vielleicht das mächtigste Schauspielergenie deutscher Nation, im höchsten Sinn, im Sinn des Barock, war, absehend, einfach seinen Gehalt an eigenen oder doch eigens erlebten Gedanken eruiert, wird sich vielleicht nicht viel mehr als eine freilich schon durch das unerschrockene Wagnis der Verbindung, durch ihre gotische Spannung beglückende Summe von Wagner und Hölderlin und dem uralten deutschen Ultramontanismus, der schon unseren Humanismus wie unser Barock gezeitigt hat, ergeben. Nietzsche kam in seinem Weltgefühl doch eigentlich nirgends über Hölderlin hinaus. In der Jenenser Fassung des Hyperion heißt es:

»Der leidensfreie, reine Geist befaßt
Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch
Sich keines Dings und seiner nicht bewußt,
Für ihn ist keine Welt; denn außer ihm
Ist nichts . . .
Nun fühlen wir die Schranken unsres Wesens,
Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig
Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist
Zum ungetrübten Aether sich zurück.
Doch ist in uns auch wieder etwas, das
Die Fesseln gern behält; denn würd' in uns
Das Göttliche von keinem Widerstande
Beschränkt – wir fühlten uns und andere nicht.
Sich aber nicht zu fühlen ist der Tod . . .«

In diesem stillen Ja zu Leid wie Lust der Individuation, womit Hölderlin sich von Fichte befreit, steckt eigentlich auch schon die tragische Wendung zu seinem Empedokles, aber steckt nicht, sobald man den Akzent der Ergebung mit dem des Trotzes vertauscht, auch schon der ganze Zarathustra darin? In einem wundervoll gedankenreichen Aufsatz über »Hölderlin und den deutschen Idealismus« (im Logos, Band VII, Heft 3, bei Mohr in Tübingen) hat Ernst Cassirer zum erstenmal gezeigt, wie frei Hölderlin nicht bloß Fichte, sondern auch Schelling gegenübersteht, ja daß er, statt, wie man bisher immer meinte, von Schelling beherrscht oder doch geführt zu werden, gerade umgekehrt selber Schelling, den »mit einer schlechthin unvergleichlichen Empfänglichkeit Begabten, das eigentliche Genie der Rezeptivität«, befruchtet hat. Im Jahre 1913 erwarb die Berliner königliche Bibliothek ein Folioblatt, das auf zwei Seiten die entscheidenden Gedanken Schellings enthält. Es beginnt damit, daß alle Metaphysik künftig in die Moral falle, ein Gedanke Kants, den er nur bei weitem noch nicht erschöpft habe. Mit der Vorstellung des absolut selbständigen Ich tritt zugleich eine ganze Welt aus dem Nichts hervor. Zunächst: Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Eine Frage, die der Physik »endlich einmal wieder Flügel gibt«. Und von der Natur geht es dann zum Staat, über den wir aber, als etwas Mechanisches, noch hinaus müssen. Es thront die Idee, die alle vereinigt, die Idee der in sich Wahrheit und Güte verschwisternden Schönheit. So wird der Philosoph zum Dichter, die Poesie wird am Ende wieder das, was sie am Anfang war: Lehrerin der Menschheit. Eine neue Mythologie im Dienste der Ideen: die Mythologie muß philosophisch werden und die Philosophie mythologisch. Dieses grandios gedrängt Kant überschreitende Blatt, das auch schon gleichsam mit dem Finger auf Nietzsche zeigt, ist von Hegels Hand, nach einem Konzept Schellings, das, wie nun Cassirer überzeugend dartut, den Ertrag der Begegnung Hölderlins mit Schelling im Sommer 1795 enthält. Und gewiß hat Cassirer auch darin recht, wenn er meint, daß in diesen so denkwürdigen Gesprächen, die sich an Fruchtbarkeit für die Geschichte des deutschen Geistes nur etwa noch mit den Disputationen Lessings und Jacobis zu Wolfenbüttel und Braunschweig im Juli und August 1780 und mit der Wagnertaufe Nietzsches im Goldglanz der Tribschener Tage vergleichen lassen, daß da Schelling es ist, der empfängt, Hölderlin aber, der aussät: »Schelling hat dem, was damals als Forderung in Hölderlins Geiste bereit lag, nur erst die bewußte systematische Formulierung gegeben. Was bei diesem eine Notwendigkeit seiner künstlerischen Natur war, das verwandelt er in eine programmatische Notwendigkeit. Mit der ganzen Schärfe seines Geistes – einer Schärfe, die sich gerade in dem Uebergange der Gebiete und Probleme und gleichsam in ihrem Helldunkel immer wieder bewährte – stellte er mit einem Schlage den Inhalt und das Ziel der inneren geistigen Kämpfe Hölderlins ans Licht. Er lieh seiner unbestimmten Sehnsucht den Begriff und das Wort: er versicherte ihn, daß zwischen dem, was er als Dichter erstrebte und bedurfte, und dem, was die Philosophie, was die Vernunft als höchste Aufgabe aufstellte, keine unüberbrückbare Kluft und kein unaufheblicher Dualismus bestand. Die Poesie selbst darf und kann zur Lehrerin der Menschheit werden; der »Monotheismus der Vernunft« und der »Polytheismus der Einbildungskraft« sind miteinander vereint und versöhnt. Hölderlins Intuition von der Natur und von der griechischen Götterwelt wird von Schelling zur bewußten Deduktion umgebildet.« Und ganz so selbstgesetzt und geisteigen wie zu Schelling steht Hölderlin aber auch zu dem anderen Jugendfreund, zu Hegel, mit dem ihn, wie er einmal so rührend schreibt, »die Losung: Reich Gottes!« verband. Beiden ist er der Gebende, weil er, während ihnen die Grenzen des Denkens gezogen sind, einer höheren Region angehört, der prophetischen, in der zum Element des Denkers nun noch das enthüllende des Dichters tritt. Aber der Schritt über Kant genügt ihm nicht, er wagt noch mehr, er wagt auch den Schritt über Goethe. Denn wenn Goethe sich im Schaukelstuhl von Systole und Dyastole still am farbigen Abglanz beruhigt, mit einer »inneren Desperation« freilich, deren furchtbaren Ingrimm die Gespräche mit dem Kanzler Müller immer wieder bezeugen, ist Hölderlins Los: »auf keiner Stätte zu ruh'n«, er gehört zu den Gezeichneten, die keinen Frieden finden im Irdischen, zu den mit der inneren Unruhe Gestachelten, die sie selber nun zum eigenen Segen oder Fluch entscheiden müssen, als, wie der Beuroner Maler Willibrord Verkade sein schönes Selbstbildnis genannt hat: »Unruhe zu Gott« (jetzt bei Herder in Freiburg erschienen), Unruhe zu Gott, wie sie van Gogh durchrast, wie den Grünewald, oder aber Unruhe zum Nichts, ins ewige Nein. Seiner heiligen Unruhe zu Gott ringt Hölderlin den Begriff der Stille, das Gefühl eines Festen im Strömenden, den Glauben an ein Sein ab. Er weiß es nur selber gar nicht, wie weit er zuletzt schon allen Pantheismus unter sich läßt. Er weiß doch auch nicht, wie seine ganze Zeit das nicht weiß, was im Grunde seine Griechen alle sind: keine griechischen nämlich, sondern Griechen des von ihr verleugneten, gewaltsam vergessenen Barock, ja des bayerischen Barocktheaters geradezu und seiner durchaus ins Christliche, genauer: ins Jesuitische spiritualisierten Antike, deren Gestalten nun ein Erlebnis von solcher, jedes Gemüt umwälzenden Macht hatten, daß die Spur davon nimmer in der abendländischen Menschheit ganz verlöschen kann. Auch Nietzsche hat des Christentums entraten zu dürfen doch nur deshalb wähnen können, weil er nicht wußte, wie durchaus übergriechisch sein Dionysos ist, wie ganz barock! Er hat doch auch nicht gewußt, daß er, wenn er vom Theater Athens spricht, im Grunde nur immer das Barocktheater beschreibt. Gerade so wie Wagner nicht gewußt hat, daß Bayreuth auferstandenes Barock, daß der Parsifal die Krone des Barocktheaters ist. Davon steht allerhand in meiner nächstens erscheinenden Schrift über das Burgtheater. Man wird sie lesen, gerade darüber aber wieder hinwegzulesen trachten, über das Entscheidende darin, genau so wie man's mit dem herrlichen Werke macht, dem ich sie verdanke, ja das mich überhaupt erst österreichisches Wesen, aber auch den Goethe seit der Pandora und wo noch die Möglichkeiten einer künftigen deutschen Kultur liegen können, erkennen gelehrt hat, mit Josef Nadlers gewaltiger Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, neben Burdachs hohem Werk der ersten germanistischen Leistung seit Wilhelm Scherer, die wieder der erlauchten Tradition der Grimm und Uhland ebenbürtig ist.


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