Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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24. März

Im Märzheft der »Neuen Rundschau« ein bemerkenswerter Aufsatz von Otto Hoetzsch über »Tschecho-Slowakei und Polen«. Hoetzsch hat schon vor dem Krieg, als es noch unter Deutschen guter Ton war, von Slawen nichts wissen zu wollen, Interesse für ihre Probleme gezeigt, er kennt sie nicht bloß, sondern fühlt auch ihre Bedeutung für uns alle, fühlt, wieviel Zukunft noch in ihnen steckt und wieviel auch vielleicht von der Zukunft des ganzen Abendlandes. Und wenn sein Buch über Rußland (bei Georg Reimer in Berlin, 2. Auflage 1917) nicht tief genug ins Innere des russischen Menschen dringt, so läßt es uns doch die großen Züge seines dunklen Angesichts erblicken: wir sehen das neue Rußland entstehen, staatlich, wirtschaftlich und geistig, sehen es neue treibende Kräfte entfesseln, ohne sich zur rechten Zeit neuer bindender Kräfte zu versichern, und so wächst es zu einer Größe, der es dann, die sich selber dann schließlich nicht mehr gewachsen war. Das Buch enthält sehr viel Material, gut gesichtet und gegliedert, und wer sich dazu noch das Anonyme russischen Wesens und den Hauch von Ewigkeit an allen russischen Menschen und russischen Dingen aus eigener Anschauung oder aus Masaryks »Rußland und Europa« (zwei Bände bei Eugen Diederichs in Jena), am besten freilich aus dem Brunnen Dostojewskis zu supplieren weiß, dem wird es ein immer wieder angerufener, immer wieder aushelfender Berater sein. Es lohnt sich, Hoetzsch nun auch über Tschechen und Polen zu hören. Bei jenen sieht er »eine neue Bühne für die geistige Bewegung im Slawentum aufgetan«, das deutsch-tschechische Problem scheint ihm »nicht nur das wichtigste für das innere Staatsleben Böhmens, sondern geradezu von weltpolitischer Bedeutung« und er bedauert, »daß die Deutschböhmen auch heute über Führer größeren Stils nicht verfügen, daß sie das alte österreichische Parteigezänk, die Parteizersplitterung und Studentenpolitik weiter treiben ohne Programm«. Doch traut er Masaryk und seinem Mitarbeiter Benesch, dessen »wohlwollende Umsicht gegen Oesterreich und die Magyaren er rühmt wie seine korrekte Haltung gegen Deutschland«, die Willenskraft zu, »ein Verhältnis zum Deutschtum« zu finden, das ihm vor allem auch für Deutschland »notwendig« scheint. »Wir haben uns zu wenig um das nüchtere und zähe Volk der Tschechen gekümmert, das von allen slawischen Völkern unserem Denken am nächsten steht. Ihr Land ist und bleibt für uns die Brücke nach Südosten . . . Heute und künftig sind solche Beziehungen nach der Donau und dem Südosten, nach Balkan und Türkei ohne ein gutes Verhältnis zum böhmischen Staate überhaupt undenkbar.« Pannwitz' glänzende Schrift »Der Geist der Tschechen« (Verlag Der Friede, Wien 1919) wird aus dem Visionären hier von Hoetzsch in praktische Politik übersetzt. Von den Polen, die er für »politisch nicht so reif wie die Tschechen«, aber »den Deutschen politisch weit überlegen« hält, und ihrer »Bauerndemokratie«, die, schon um Frankreichs und Englands willen, »die Barriere zwischen Deutschland und Rußland zu bilden« übernehmen wird, kann er sich ein solches Verhältnis zu Deutschland nicht versprechen: »Wir halten eine Verständigung mit der Tschecho-Slowakei für möglich und notwendig. Wir halten eine Verständigung mit dem neuen polnischen Staate auch für erstrebenswert, aber nicht für möglich.« Dasselbe Heft enthält übrigens noch einen zweiten Aufsatz über Rußland, der allein schon durch die Tatsache, daß sein Verfasser Hermann Hesse, diese liebe letzte Stimme Traumdeutschlands, sich jemals im Leben genötigt fühlen konnte, mit Rußland abzurechnen, erstaunlich ist. »Die Brüder Karamasow oder der Untergang Europas« heißt der Aufsatz, der mich mit neuer Liebe zur rührenden Gestalt seines Dichters, zugleich aber mit einer grimmigen Wut, Dostojewski durch ein so grobes Mißverstehen geschändet zu sehen, erfüllt, ja mit einem wahren Entsetzen: denn wenn es möglich ist, daß ein so rein gewillter, so hochgesinnter Mann und ein Dichter noch dazu das offenbare Geheimnis eines gewaltigen Lebenswerkes, des gewaltigsten seit Balzac, so grauenhaft verkennen kann, wer will sich da jemals wieder an das dann eben doch durchaus sinnlose Geschäft des Schreibens wagen? Ich habe niemals im Leben einen Aufsatz mit solcher anhaltender Verneinung eines jeden einzelnen Satzes gelesen, und mit solcher Lust, mein Tintenfaß dem Versucher an seinen Kopf, auf den er die Wahrheit stellt, zu werfen! . . . Hesse bekennt zunächst, selbst an den Untergang Europas zu glauben, und gerade »an den Untergang des geistigen Europa«. Den meint er in Dostojewski »mit ungeheurer Deutlichkeit ausgedrückt und vorausverkündet. Daß die europäische, zumal die deutsche Jugend Dostojewski als ihren großen Schriftsteller empfindet, nicht Goethe, auch nicht einmal Nietzsche, das scheint mir für unser Schicksal entscheidend . . . Das Ideal der ›Karamasows‹, ein uraltes asiatisch-okkultes Ideal, beginnt europäisch zu werden, beginnt den Geist aufzufressen.« Auch ich habe dunkle Stunden der Furcht für Europa. Doch dann ist es immer wieder gerade Dostojewski, der mich ermannt, und es ist das »Ideal« der Karamasow, von dem ich mir die Wiedergeburt des Abendlands, die Heimkehr des Geistes in ein neues Barock erhoffen will. Was aber ist mir das »Ideal«, das in allen Werken Dostojewskis, niemals aber mächtiger als in den Karamasow erscheint? Die Versicherung der Wirklichkeit von Gut und Böse. Daß es ein Reich des Guten, Schönen, Wahren gibt, auch außer uns und über uns und gegen uns, selbst ohne uns, ja wenn wir auch gar nicht wären, und jedenfalls unserer Meinung, unserem Willen, unserer Zustimmung entrückt, aus sich und an sich von Ewigkeit da, das Sein selbst, an dem jeder von uns nur insoweit erst teilnimmt, als er es durch seinen Glauben und seine Tat anerkennt; dann erst, daran erst sind wir. Und ich weiß seit Goethe und Wagner keinen Künstler, der es gewaltiger anerkannt, ja der die Gegenwart des ewigen Guten, Schönen, Wahren so hellfühlend auch noch in ihren letzten Verborgenheiten an verlorenen Menschen aufgespürt und mit solcher Seligkeit verkündigt hätte wie Dostojewski, der dann auch noch eben in dieser Verkündigung von Gut und Böse die Weltsendung seines Volkes erkennen zu müssen meinte. Was aber ist für Hesse »das asiatische Ideal«, das er bei Dostojewski findet und das sich durch Dostojewski jetzt zur Eroberung Europas anschickt? Darauf antwortet Hesse: »Es ist, kurz gesagt, die Abkehr von jeder festgelegten Ethik und Moral zugunsten eines Allesverstehens, Allesgeltenlassens, einer neuen, gefährlichen, grausigen Heiligkeit, wie sie der Greis Sofima vorverkündigt, wie sie Alescha lebt, wie sie Dimitri und noch weit mehr Iwan Karamasow bis zur deutlichsten Bewußtheit aussprechen . . . Das »neue Ideal«, von welchem der europäische Geist in seinen Wurzeln bedroht ist, scheint ein völlig amoralisches Denken und Empfinden zu sein, eine Fähigkeit, das Göttliche, Notwendige, Schicksalhafte auch noch im Bösesten, auch noch im Häßlichsten zu erfühlen, und auch vor ihm noch Hochachtung und Gottesdienst darzubringen, ja gerade vor ihm besonders . . . Der »russische Mensch (den wir längst auch schon in Deutschland haben) ist weder mit dem »Hysteriker« noch mit dem Säufer oder Verbrecher, noch mit dem Dichter und Heiligen irgendwie bezeichnet, sondern einzig mit dem Nebeneinander, mit dem Zugleich all dieser Eigenschaften, der Karamasow ist Mörder und Richter zugleich, Rohling und zarteste Seele zugleich, er ist ebenso der vollkommenste Egoist wie der Held vollkommenster Aufopferung. Ihm kommen wir nicht bei von einem europäischen, von einem festen, moralischen, ethischen, dogmatischen Standpunkt aus. In diesem Menschen ist außen und innen, Gut und Böse, Gott und Satan beieinander.« Wer von uns beiden hat nun recht? Kann Hesse nicht lesen oder kann ich es nicht? Ist Dostojewski jenseits von Gut und Böse wie Nietzsche? Denn darauf geht Hesses Anklage ja hinaus! Suarès, unter allen Franzosen der tiefste Kenner Dostojewskis, sagt: »En Dostojewski, j'admire un Nietzsche racheté«. Und Maria Maresch (in »Der russische Mensch«, Verlag Tyrolia) sagt: »Der russische Mensch ist Nietzsches Ueberwinder«. Und Josef Leo Seifert sagt (in einem mich sehr stark berührenden, auch meine »Synthese zwischen West und Ost« erhoffenden, sich durchaus zur katholischen Kirche bekennenden Aufsatz im Januarheft der überhaupt höchst merkwürdigen Wiener Zeitschrift: »Der Strahl«, Verlag Bund der geistig Tätigen): »Der Westen suchte die Freiheit, das Verbotene als erlaubt anzusehen, und brachte es schließlich zur völligen »Emanzipation« von dem Sittengesetz des Geistes – allerdings mehr theoretisch – im Marxismus sowohl wie im Positivismus. Der Slawe hat sich dagegen den Begriff des Gegensatzes von Gut und Böse scharf gewahrt, wie denn auch nirgends ein so ernstgemeinter Rigorismus zutage trat wie bei den slawischen Sekten. In seinem Kampf um Gewissensfreiheit wehrte er sich dagegen, eben das Böse für gut und das Gute für böse ansehen zu lernen.« Schon als Russe, und gar als ein Russe, der seine Lebenskraft darin fand, so durchaus russisch als nur irgend möglich zu sein, war Dostojewski unfähig, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu leugnen oder auch nur zu verwischen oder gar Gut und Böse zu vermischen: gerade dies hat er doch an den »Westlern« so furchtbar gehaßt! »Sie haben den Unterschied von Gut und Böse verloren,« klagt sein Schatow. Und in seiner »Auseinandersetzung« mit Gradowskij, dem »Westler«, der »Aufklärung« für das russische Volk verlangt und dem er nun mit einer grandiosen Einfalt erwidert, es brauche sie nicht, weil es etwas Besseres hat: das Christentum, sagt Dostojewski selbst, nicht durch den Mund einer seiner Gestalten, sondern im eigenen Namen geradezu (zwölfter Band der sämtlichen Werke bei R. Piper, München): »Mag immerhin unserem Volk Tierisches und Sündhaftes anhaften, eines aber hat es zweifellos; das ist, daß es wenigstens, als Ganzes genommen (und nicht nur im Ideal, sondern in der wirklichsten Wirklichkeit) seine Sünde niemals für das Richtige gehalten hat, hält oder halten wird, auch niemals den Wunsch empfinden wird, sie dafür zu halten! Es sündigt, aber früher oder später sagt es doch: ich habe gefehlt . . . Die Sünde ist etwas Vorübergehendes, Vergängliches, Christus aber ist ewig. Das Volk sündigt stündlich und treibt Unfug, aber in besseren Stunden, in den Stunden Christi verwechselt es nie Recht mit Unrecht.« Hier wurzelt der Glaube Dostojewskis an sein Volk, von dem allein er sich noch die Rettung der Welt verspricht, seit er überall in Europa, dessen Fläche, das obenauf schwimmende Treiben der Zweifler und Leugner allein, nicht aber die geheimen in der Tiefe waltenden Mächte sich ihm zeigten, das Element des Menschenlebens: den Unterschied zwischen Gut und Böse wanken sah. Auch er hat vor fünfzig Jahren schon an den Untergang, den »Bankrott« Europas geglaubt (im »Jüngling«, siebenter Band der Piperschen Ausgabe, Seite 293), das ihm, wie der Iwan Karamasow sagt, nur noch »ein Friedhof« schien, ein »teuerster, allerteuerster Friedhof, aber längst schon ein Friedhof und auf keinen Fall mehr als das.« Und eben um derselben ewigen Güter willen, für die jetzt Hesse vor dem russischen Menschen so bangt, war Dostojewski so bang vor Europa. Darum schien ihm jeder Russe, der Europäer ward, ein »natürlicher Feind Rußlands«, ja schon »jede Berührung mit Europa schädlich und demoralisierend«, weil ihm Rußland etwas war, »das Europa nicht im geringsten gleicht«, nämlich »der Hüter der Wahrheit Christi« (in den »Politischen Schriften«, Band der Piperschen Ausgabe, Seite 189, 190 und 191). Mit Novalis, für den Europa noch die Christenheit war, hätte sich der Russe Dostojewskis verständigen können, er kann es nicht mit dem Europa des Uebermenschen, an dem ihm eben jenes »Nebeneinander« und »Zugleich« aller Eigenschaften, eben jene »Bereitschaft, jederzeit jede Eigenschaft annehmen zu können«, wovor jetzt Hesse zurückschaudert, bis ins Mark seiner Seele verhaßt sind. Was Hesse so verabscheut, ist, gewaltiger noch als in den Karamasow, schon einmal im »Jüngling« ausgesprochen: »Ich weiß doch, daß ich unendlich stark bin, eben durch diese unmittelbare Kraft der Verträglichkeit mit allem, was es auch sei, die allen klugen Russen unserer Generation in so hohem Maße eigen ist . . . Ich kann auf die allerbequemste Weise zwei entgegengesetzte Gefühle zu gleicher Zeit empfinden – und das, versteht sich, doch nicht aus eigenem Willen. Aber nichtsdestoweniger weiß ich, daß das ehrlos ist, vor allem deshalb, weil es gar zu einsichtsvoll ist.« Aber wen läßt Dostojewski so sprechen? Seinen Werssilow, einen Westler, einen jener entwurzelten, an Europa verfallenen, das angestammte Wesen verratenden Unrussen, »klugen«, allzu klugen, europäisch klugen Russen wie Kirillow, Iwan Karamasow, Rogoschin, Raskolnikow, Swidrigailow, lauter Leuten, die fortwährend »ins Ausland reisen wollen«, die »keinen Verbleib mehr haben« (auch das Untier Smerdjakow steht in dieser fruchtbaren Reihe!), die gar nicht der russischen Wirklichkeit angehören, sondern nur ein europäischer Spuk sind, »Traumgestalten«, wie Mereschkowski einmal gesagt hat, »Traumgestalten in dem grausamen, realen und zugleich phantastischen Traum, den der eherne Reiter jetzt schon zwei Jahrhunderte lang träumt«. Aus diesem entsetzlichen Traum will Dostojewski das russische Volk erwecken: zur einzigen Realität, die es für ihn im Grunde gibt, zur Realität der zehn Gebote. »Lies die zehn Gebote – da ist alles auf ewig niedergeschrieben. Erfülle sie nur, trotz all deiner Fragen und Zweifel, und du wirst ein großer Mensch sein.« Denn für Dostojewski gilt durchaus, was sein Freund Wladimir Solowjew, der Uebersetzer Kants, der an Plotin, den Kirchenvätern, der deutschen Mystik, Schelling und Baader gebildete, der katholischen Kirche nahe Philosoph (den Harry Köhler verdeutscht hat, bei Eugen Diederichs in Jena) einmal an Strachow schrieb: »Ich glaube nicht nur an alles Uebernatürliche, sondern, genau gesprochen, ich glaube eben nur an dieses.« Ja darin ist eigentlich das Innerste Dostojewskis enthalten: auch er hat erst vom Erlebnis des Uebernatürlichen aus, vom Erlebnis Christi, dann allmählich auch ein Verhältnis zu seinem eigenen Leben, ein Verhältnis zur Natur gefunden. Was Suarès einmal sehr gut formuliert hat: »De la douleur l'amour conclut en lui à la beauté de la vie.« Darum kennen im Grunde seine Werke nur ein einziges Thema: den Kampf zwischen Gut und Böse, den Kampf zur Entscheidung für das Gute. Er weiß, daß auch im besten Menschen ein Scheusal steckt (der heilige Franziskus hörte nicht auf, sich immer noch den schlechtesten der Menschen zu nennen). Und er weiß auch noch ein tiefes Geheimnis, dem Novalis einmal nahe kommt, mit den allerdings leicht mißdeutlichen Worten: »Die Sünde ist der große Reiz für die Liebe der Gottheit. Je sündiger man sich fühlt, desto christlicher ist man.« Gemeint ist damit ganz dasselbe, was Dmitri zuletzt zu Aljoscha sagt: »Brüder, ich habe in diesen zwei Monaten einen neuen Menschen in mir entdeckt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Dieser Mensch war immer in mir verborgen, doch es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt hätte.« Solche Gewitter Gottes sind alle Romane Dostojewskis und ich weiß in der ganzen Literatur seit Balzac keine Gestalt, durch die der sittliche Gehalt unserer abendländischen nordsüdlichen westöstlichen Kultur so vollkommen ausgedrückt wäre wie durch diesen Dmitri und die Gruschenka in den Karamasow. Wer das noch nicht weiß, mag es von Wolynski lernen, dem schöpferischen Kritiker der mit Tschechow beginnenden, als »Dekadenz« doch eigentlich ganz unzureichend etikettierten, eher prophetisch zu nennenden Gruppe, dessen »Reich der Karamasow«, schon vor zwanzig Jahren verfaßt, nun endlich, längst ungeduldig erwartet, jetzt auch deutsch bei Piper in München erscheint. Es ist ein Meisterwerk, das den Vergleich mit dem Höchsten dieser Art aushält. Hier wird ein Kunstwerk nicht umschrieben oder nacherzählt oder analysiert, hier ist es selber noch einmal produktiv geworden, es wird ein neues Stück Leben daraus. Thomas Mann sprach neulich vom »neuen Typus des intellektualen Romans«, wofür er als Beispiele Bertrams Nietzsche-Buch und die Werke Spenglers und Keyserlings nannte. Dahin gehört auch Wolynskis beseelte Schrift, in der das Schicksal der Karamasow sozusagen zum Mythos zugleich gesteigert, aber auch beruhigt wird; und so tritt aus dem Flammenrauch nun erst ihre Gestalt in voller Reine hervor. Vielleicht lehrt das herrliche Buch auch Hesse, den lieben sanften Dichter, verstehen, daß die Karamasow nicht der Untergang Europas sind, sondern ein Aufgang. Wolynski sagt: »Die Kulturvölker Europas mit ihrer ganzen komplizierten, Jahrhunderte alten Zivilisation stehen in einer sklavischen Abhängigkeit vom histostorischen Prozeß und haben in dieser Sklaverei jeden Instinkt für die endgültigen Wahrheiten verloren, die alles plötzlich zum Stillstand bringen, um alles zu ändern. Aber Rußland steht in seiner naiven Kulturlosigkeit diesen Wahrheiten besonders nahe und kehrt durch die wahnsinnigen Ekstasen seiner großen Dichter immer wieder zu ihnen zurück.« Das ist es doch auch, was mich so stark auf ein neues Barock hoffen läßt, ein zweites, auch wieder in jedem Sinne katholisches Barock, ein Barock, das ins erste nun auch noch Walt Whitman mit Dostojewski hineinzunehmen die weltumspannende Seelenkraft hätte!


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