Hermann Bahr
Kritik der Gegenwart
Hermann Bahr

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25. Juli

Ich gelte für sehr gutmütig und man wundert sich, wie wenig ich Kränkungen empfinde, wie leicht ich sie nehme, wie rasch ich sie vergesse. Das ist aber ein Mißverständnis. Mein Verhältnis zum Nächsten wird leider nicht durch Güte, Wohlwollen und Nachsicht bestimmt, sondern ich bin nur, nach meiner Kenntnis der menschlichen Natur, bei jedermann immer von vornherein zunächst auf soviel Niedertracht, Erbärmlichkeit, Bosheit, Tücke, Hinterlist, Verrat und Undank gefaßt, daß es mich höchst freudig überrascht, ja bis zu Tränen rührt, wenn dann diese Voraussetzung doch einmal nicht ganz zutrifft. Und ich muß ja sagen, daß ich jedes Jahr immer von neuem darüber erstaune, wie merkwürdig oft meine Voraussetzung nicht ganz zutrifft, wie viele Menschen sich, solange man ihre Selbstsucht ungestört läßt, jeder unnötigen Gemeinheit enthalten, wie sehr die meisten ihre Natur mäßigen. Gar jetzt, wo doch in unserem Land das Gesetz, machtlos geworden, nur noch auf dem Papier und in der Menschenbrust, an recht unsicheren Stellen also, keineswegs aber in Gebrauch steht, ist es eigentlich verblüffend, von welcher Zurückhaltung sich die menschliche Ruchlosigkeit zeigt: es sind noch immer auch Leute vorhanden, die nicht stehlen, nicht rauben, nicht fälschen, nicht plündern, nicht morden; und eigentlich ohne zu wissen, warum nicht. Ist es bloß die Gewohnheit, die noch nachwirkt? Sind sie nur unfähig, so rasch umzulernen? Oder trauen sie der neuen gesetzlosen Zeit noch nicht? Oder ist die sanfte Stimme des Gewissens doch mächtiger als der laute Zuruf der Erbsünde? Leonhard Frank hätte recht und der Mensch wäre, wenn auch gefallen, im Grunde doch gut? Aber warum ist dann der gute Mensch so feig und schweigt? Warum steht keiner auf und gibt allen das Zeichen zum Guten?


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