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Hundertundneunundzwanzigstes Kapitel.
Die Kugel des Meuchelmörders

Es giebt im Leben der Völker wie in dem der Individuen Tage, welche dem Unglück geweiht zu sein scheinen, und als ein solcher Tag wird fortan in der amerikanischen Geschichte der 14. April bestehen.

Am 14. April 1861 senkte sich zum ersten Male das bis dahin unentweihte Sternenbanner vor dem schwärzesten Verrath.

Am 14 April 1865, also genau vier Jahre nach der Einnahme von Fort Sumter, verrichtete derselbe finstere Höllengeist, der damals das Sternenbanner entweihte, in Washington ein Werk, auf dem der Fluch kommender Jahrhunderte ruhen wird.

Abraham Lincoln hatte an diesem Tage, an dem die Rebellion ihren vierjährigen Kreislauf vollendet, vor, dem Volke eine Freude zu bereiten und die schwere Last, die es vier Jahre so geduldig getragen, von seinen Schultern zu nehmen, die Nähe des goldenen Friedens zu verkündigen.

Der Tag, an welchem tausend Herzen freudiger schlugen, sollte nicht zu Ende gehen, bevor das reinste, treueste Herz in den Zuckungen des Todeskampfes erbebte.

Abraham Lincoln hatte seinen Platz in einer Prosceniumsloge des ersten Ranges, ziemlich nahe der Bühne, genommen. Er widmete dem Stück, das ja so manche Anknüpfungspunkte auch für die Lage der Union bot, große Aufmerksamkeit.

Sehr oft wandte er sich bei einer bezüglichen Stelle an seine Gemahlin und knüpfte daran eine der witzigen Bemerkungen, an denen es ihm nie fehlte; so z. B. als die Wittwe Heinrichs des Sechsteil im ersten Act zum Marquis von Dorset äußert:

»Die, welche hoch stehen, haben mancherlei
Erschütternde Windstöße zu bestehen,
Und wenn sie fallen, werden sie zerschmettert.«

flüsterte er, sich lächelnd an seine Frau wendend:

»Ein vortreffliches Memento für Jefferson Davis; aber der Windstoß, der ihn zu Falle gebracht, wird ihn nur erschüttern, nicht zerschmettern.«

Ein neuer Beweis, daß Lincoln die versöhnlichste Gesinnung gegen die Häupter der Rebellion hegte.

Bei dem Gespräche der Bürger in einer Straße Londons im zweiten Akt:

»Vermöge göttlichen Instinctes haben
Die menschlichen Gemüther eine Ahnung
Von drohender Gefahr; sehen wir doch auch
Die Wasser schwellen vor gewalt'gem Sturm.«

sagte er seiner Gemahlin in's Ohr: »Wenn das wahr ist, so trage ich in meinem Innern die allerbeste Widerlegung aller der Warnungen, die mir seit einem halben Jahre zugekommen sind, – Du weißt, der Inhalt der grauen Mappe; – ich habe in meinem Gemüthe keine Ahnung von drohender Gefahr.«

Es kam der dritte Act heran.

Wer ist der junge Mann von gentlemanischem und edlem Aeußern, der sich durch den dichtbesetzten Gang des ersten Ranges hindurchdrängt ...

Er hatte Mühe, hindurch zu kommen und mußte sich an einen der Logenschließer wenden.

»Ich muß in die Loge des Präsidenten!« sagte er.

»Hat Ihr Anliegen nicht Zeit bis zum Zwischenact? Excellenz interessirt sich sehr für das Stück und läßt sich wahrscheinlich nicht gern stören.«

»Ich habe ein dringendes Anliegen, das keinen Aufschub erleidet.«

Er zog eine Karte hervor, auf welcher der Name: Ulysses Grant stand und die Bemerkung:

»Reist noch heute ab nach Baltimore.«

Unglücklicherweise hatte Lincoln bei seinem Eintreten in die Loge gesagt, daß, falls einer der Secretaire, der Vice-Präsident oder einer der Generäle Zutritt zu ihm zu haben wünsche, derselbe unverzüglich eingelassen werden möchte.

Grants Name war also dem Schließer genügend, die Loge sofort zu öffnen.

Abraham Lincoln mochte wohl den Schlüssel sich im Schloß drehen hören, aber das Stück nahm ihn so in Anspruch, daß er sich nicht umsah; auch keine der Damen bemerkte den eintretenden Meuchelmörder.

Es war Wilkes Booth, kein Anderer.

Nicht eine Secunde ließ er ungenützt. Leise zog er die Thür der Loge hinter sich zu und schloß die mit Spanglers Hülfe an der Thür verborgen angebrachte Krumme.

Dann trat er, einen gewöhnlichen einläufigen Revolver in der einen, ein großes Messer in der andern Hand, dicht hinter den Präsidenten.

Ein scharfer Knall ertönte.

Alles blickte um sich. Wo war der Schuß gefallen?

Niemand ahnte, daß dieser Schuß das Herz der Republik getroffen. Eine Kugel, kaum ein Loth schwer, hatte der Union eine Wunde geschlagen, die tief schmerzen, ja wohl gar unheilbar sein sollte.

Es verging wohl eine halbe Minute, ehe man überhaupt wußte, wo der Schuß gefallen.

Erst, als Lincoln vornüber sank, als seine Gemahlin einen durchdringenden Schrei ausstieß, richtete sich Aller Blicke auf die Loge des Präsidenten.

Man war erstarrt, man war versteinert; Bestürzung Schrecken hatten jeden Muskel gelähmt.

Da springt ein Mann auf die Brüstung der Loge, mit einem Satz über die Orchesterlampen hinweg auf die Bühne; dort wendet er sich in theatralischer Attitüde nach dem Publikum um, schwingt das Messer und ruft:

»Die Besiegten sind gerächt! – Sic semper tyrannis!«

Erst jetzt kehrte das Leben in die Zuschauer zurück.

»Es ist der Mörder! Ergreift ihn! Haltet ihn!« schrie Alles durcheinander.

Ein Major Steward, welcher im Parket saß, war, als er den Mörder aus der Loge springen sah, über mehrere Bänke des Parkets hinweg in das Orchester geeilt und bestieg die Bühne in dem Moment, als Booth sein »sic semper tyrannis« ausrief und sich umwandte, um durch die Coulissen zu fliehen, den bekannten Weg, den ihm Spangler gewiesen.

Der Major erfaßte ihn am Rock. Ein Stoß mit dem Messer machte seinen Arm sinken.

Der Mörder war entkommen; Niemand wußte, wohin.

Hunderte stürzten auf die Bühne: man durchsuchte die Coulissen, die Garderobenräume, jeden Winkel. Endlich kam man auf die Treppe, welche hinunter in den dunklen Raum führte, in welchem die Decorationen aufbewahrt wurden.

Man stieg hinab; man stolperte in der Finsternis; über das Gerümpel, man schrie nach Licht.

Es ward Licht gebracht.

Eine Laterne lag, eben ausgelöscht, noch dampfend am Boden.

»Da ist eine Thür! Sie führt hinaus aus dem Theater. Oeffnet sie!«

Die Thür war verschlossen.

»Oeffnet die Thür!«

»Wer hat den Schlüssel?«

»Ja, wer? Wer?« fragen hundert Stimmen.

»Spangler, der Theaterzimmermann!«

»Wo ist Spangler? Rufen Sie Mr. Spangler!«

Mehrere Minuten vergingen, ehe Spangler zögernd, schleppend herbeikam.

Er war draußen hinter dem Theater gewesen.

»Was ist? Was giebt's?«

»Keine Fragen! Oeffnen Sie die Thür! – Durch diese Thür muß der Mörder entflohen sein, wenn er nicht noch irgend wo in diesem Raume versteckt ist!«

Die Thür ward geöffnet« ...·

Mr. Youngs Roß war ein zuverlässiges Thier, und als die Verfolger an der Stelle standen, von wo aus Booth abgeritten war, da war er selbst bereits nahe am Portlandthor.

*

Die Kugel hatte ihr Ziel gut getroffen.

Der Schuß war dem Präsidenten in den Hinterkopf gegangen; die Kugel war in das Gehirn gedrungen, welches hervorquoll.

Der Präsident fiel nach vorn über; seine Gemahlin sank in Ohnmacht; erst der Schrei, welcher sie dabei ausstieß, machte das Publikum mit der That bekannt.

Alle Anwesenden erhoben sich und eilten entweder nach der Bühne, oder drängten sich um die Loge des Präsidenten. Die Aufregung war die fürchterlichste, welche sich denken läßt. Die Vorstellung wurde plötzlich abgebrochen; man hörte fast nichts als:

»Ist er getroffen? – Ist er schwer verletzt?«

»Stehet zurück, gebet ihm Luft!« antworteten die aus der Loge.

»Hat Jemand ein Reizmittel bei der Hand?«

Eine flüchtige Untersuchung ergab, daß der Präsident durch den Kopf geschossen war, und zwar durch die hintere Seite des Schläfenbeins.

»O, warum haben sie mich nicht erschossen, warum mich nicht?« rief Frau Lincoln.

Der Major Steward und mehrere andere Offiziere übernahmen es, die unglückliche Frau in ihre Wohnung zu geleiten. Der leblose Körper des Präsidenten wurde nach einem, dem Theater gegenüberliegenden Privat-Hause des Herrn Petersen gebracht.

Alle wußten, daß die Verletzung tödtlich sei. Eine ungeheure Menschenmenge umstand das Haus des Herrn Petersen und verlangte von Minute zu Minute Nachricht über das Befinden des geliebten Präsidenten, und, obwohl die Nachrichten von Minute zu Minute schlimmer lauteten, immer noch hofften sie, daß das Unheil nicht so groß sei, als man befürchtete.

Die Aerzte erschöpften alle Mittel ihrer Heilkunst; aber alle Hoffnung war verloren. Nur der Vicepräsident und die Mitglieder des Cabinets wurden zu ihm gelassen. Sie waren bis zu seinem bald zu erwartenden Tode bei ihm.

Wenige Stunden später war Abraham Lincoln nicht mehr.

Ein Erdbeben, welches die Bundeshauptstadt in Trümmer gelegt hätte, hätte nicht größeres Entsetzen, nicht tiefere Bestürzung im Lande hervorrufen können, und würde nicht im entferntesten so schreckenvolle Besorgnisse vor dem, was die nächste Zukunft bringen könnte, erweckt haben, als die um Mitternacht, hart nach der Krieges- und Siegesfeier, die in allen Stadien der Union veranstaltet war, über die Telegraphen-Drähte zuckende Nachricht:

»Präsident Lincoln ist von Meuchelmörderhand gefallen.«

Der Mann, der für das von einem titanenhaften Principienkampfe erschöpfte Amerika dieselbe Rolle zu spielen berufen schien, wie Heinrich der Vierte für das vom Religionskriege zerrüttete Frankreich, hat seinen Ravaillac gefunden.

Es gab keinen ächten Patrioten im Lande, den die Nachricht von dem namenlosen Unglück nicht tiefer erschüttert hätte, als die vom Tode seines nächsten Blutsverwandten es vermocht hätte.

Und noch war die Liste der Schrecknisse nicht zu Ende.


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