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Achtundneunzigstes Kapitel.
Ninus und Dido

Mr. Seyers hatte keinen üblen Griff gethan, daß er Noddy in seiner Menagerie engagirte. Der Ruf des jungen Thierbändigers verbreitete sich schnell nach seinem ersten Debüt, und der kleine Unfall, welchen er bei demselben gehabt, erhöhte das Interesse noch bedeutend. Alles strömte hin, um den muthigen Jüngling zu sehen, und Mr. Sehers Rasse nahm einen Aufschwung, wie er ihn kaum mochte erwartet haben.

Leider halte der Hof seinen Aufenthalt in Charleston abgekürzt, denn das Gerücht von Shermans Marsch durch Süd-Carolina gegen Charleston hatte die Herren verscheucht und sie in's Innere der Rebellenstaaten zurückgetrieben.

Noddy mußte contractlich zwar jeden Tag seine Pflicht als Löwenbändiger thun; indessen seine freie Zeit brachte er rastlos damit zu, Fanny aufzusuchen. Er hatte damals ihre Stimme erkannt, er hatte ihren Zuruf gehört; allein die Kräfte hatten ihm gemangelt. Er hatte nicht einmal vermocht, aufzublicken, denn nur mit der gewaltsamsten Willensanstrengung kämpfte er gegen die Ohnmacht.

Als er jedoch wieder die Kraft in sich spürte, da war sein Erstes, daß er hinauslief und Alle fragte nach der Frau und nach dem Feinde, die bereits seit vielen Monaten das Ziel seines Suchens waren. Allein das Personal hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Herrn vom Hofe gerichtet. Ihr Interesse war von den Herrschaften aus Richmond viel zu sehr in Anspruch genommen, um so unbedeutende Personen, wie Mrs. Bagges und ihre Zöglinge, einer genauern Aufmerksamkeit zu würdigen, und selbst, wenn es gewesen wäre, so würde schwerlich Jemand die Dame gekannt haben und endlich, selbst wenn sie Jemand kannte, so hatte er guten Grund, Noddy diese seine Bekanntschaft zu verschweigen. Es war also für Noddy keine Aussicht vorhanden, so bald sein Ziel zu erreichen. Höchst wahrscheinlich war es, daß sein Suchen jetzt, da er wußte, Fanny sei in der Nähe, ebenso erfolglos sein werde, als damals, wo er noch nicht einmal die Richtung kannte, welche sie eingeschlagen.

Täglich durchschritt er die Straßen von Charleston, jedes Haus musterte er, jedes Fenster, alle Parks und Promenaden, überall suchte er – nirgend weder die Frau, in deren Begleitung er Fanny gesehen, noch Fanny selbst. Wer weiß, ob es Noddy jemals gelungen wäre, seinem Ziele auch nur einen Schritt näher zu kommen, wäre ihm nicht ein eigenthümlicher Zufall zu Hülfe gekommen. –

Wir müssen einige Worte sagen über Noddy's Stellung, welche er jetzt in der Menagerie einnahm.

Nachdem seine Hand hergestellt war, ward er förmlich in seinen neuen Posten und in das volle Gehalt des verunglückten Tomahuhu installirt.

Den Verlust der Tigerin, obgleich dieser an 1500 Dollars betragen mochte, verschmerzte Mr. Seyers sehr leicht; denn da bei der Todtenschau des zerfleischten Löwenbändigers das Verdict abgegeben war, daß es unverantwortlich sei, ein so blutgieriges Thier am Leben zu lassen, so war Mr. Seyers in der Lage, mit bestem Gewissen zu erwidern, daß das Thier innerhalb vierundzwanzig Stunden nach jenem Unglück wirklich todtgeschlagen sei. Freilich verschwieg er, daß dies ohne sein Zuthun geschehen war. Er wurde in Folge dieses Factums von der ganzen Presse wegen Hintenansetzung seines eigenen Vortheils gegen die Sicherheit des Publikums, wie auch seines eigenen Personals, bis in den Himmel gerühmt.

»Ich gebe mich der Hoffnung hin, mein lieber Mr. Noddy,« sagte Seyers, als er mit ihm die Bedingungen des Contrakts festsetzte, und während ihm noch die zufriedene Aeußerung des Präsidenten und die schmeichelhafte Anerkennung sämmtlicher Ritter in den Ohren klangen, »daß Sie mein Etablissement niemals wieder verlassen werden.«

»Nun ich denke vorläufig auch nicht daran,« antwortete Noddy. »Indessen habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich Jemand hier in Charleston suche, und daß es meine heiligste Pflicht ist, von diesem Suchen nicht abzustehen und mich durch Nichts abhalten zu lassen, meine Nachforschungen fortzusetzen. Wenn mir dazu Zeit verstattet ist, so bin ich gern bereit, den Contract zu unterschreiben.«

»Natürlich, Mr. Noddy, gebe ich Ihnen dazu Zeit, so viel sie wollen. Denn wie gesagt, ich bin mit Ihnen außerordentlich zufrieden, und als ein Zeichen, daß ich die Sache unter uns als abgemacht betrachte, habe ich hier einige Papiere mitgebracht.«

Mit diesen Worten zog er unter seinen Kleidern eine mächtige Rolle hervor.

»Was ist das?« fragte Noddy verwundert. »Sie haben doch nicht einen so umfangreichen Contract entworfen?«

»Nein, Mr. Noddy, das nicht; es ist etwas Anderes. Sehen Sie, der Name Noddy, ich will Sie damit nicht kränken, hat nichts Anziehendes, ebenso wenig, wie der Name Mr. Smith etwas Anziehendes hatte. Der Löwenbändiger aus Centralafrika muß einen Namen haben, der doch einigermaßen nach jener Erdgegend schmeckt. Hätte ich bei Ihrem Vorgänger den Namen Mr. Smith auf den Zettel geschrieben, so wäre das Publikum kalt geblieben. Der Name Smith regt das Blut nicht auf, und auch nicht der Name Noddy und noch weniger der Name Cleary hat, falls ich es wirklich wagen dürfte, Ihren Namen öffentlich anzuschlagen, hat etwas Verlockendes. Ich habe mir darum für Sie einen andern Namen ausgesucht. Sehen Sie einmal hierher.«

Mit diesen Worten rollte Mr. Sehers einen der Zettel auseinander, und vor Noddy's erstaunten Blicken zeigte sich in riesenmäßigen Buchstaben, welche gleich einem Regenbogen im Halbkreise standen, und auch in allen Regenbogenfarben gedruckt waren, der Name:

Noddo Noddini, der Unüberwindliche ! ! ! ! !

»Wäre Raum dazu geblieben,« fuhr Mr. Seyers fort, so hätten wir natürlich noch mehr Ausrufungszeichen hinter dem Namen angebracht; denn die Ausrufungszeichen sind mächtiger, als der ganze übrige Theil der Ankündigung. Und dann sehen Sie einmal, die Schrift ist in der Nähe gar nicht zu lesen, so ist das Publikum genöthigt, zurückzutreten, und so den gewaltigen Eindruck des Namens aus der Entfernung zu genießen, wie es die Produktionen des großen Mannes nur aus der Entfernung anschauen kann. Sie kennen den Amerikaner nicht, Mr. Noddy. Dem Amerikaner muß man eine Sache sehr plausibel machen, ehe er sich für dieselbe erwärmt. Sie haben Nichts einzuwenden gegen den Namen Noddo Noddini?«

Noddy hatte allerdings Nichts einzuwenden und zwar um so weniger, als er ja doch einmal die Rolle eines Löwenbändigers aus Centralafrika übernommen hatte, und die falschen Federn, mit denen Mr. Seyers diese wichtigste Person seines Personals schmückte, bereits angelegt hatte. Die Presse posaunte sein Lob, und die Menagerie war mit Zuschauern und Bewunderern des großen Noddo Noddini alltäglich angefüllt.

Von diesem Tage an war das Personal angewiesen, in Noddy nicht mehr einen gewöhnlichen Collegen, sondern Noddo Noddini, den Unüberwindlichen zu sehen. Dies war er in der Menagerie, dies war er in der Presse, dies war er in der ganzen Stadt, ja in dem ganzen Staate. Denn selbst die entferntesten Zeitungen sprachen über seine vorzügliche Dressur der Thiere vom Katzengeschlecht.

Doch war er nicht allein Löwenbändiger, sondern er war der eigentlich erste Minister des Etablissements. In Folge der Sorgfalt, welche er verwandte, starben weit weniger Thiere, als es früher der Fall war, und es bedurfte nur eines Wortes von ihm, um neue Thiere, die theuersten Exemplare anzukaufen und andere auszurangiren. Er that dies mit solcher Umsicht und solchem Geschick, daß Mr. Seyers ihm, um sein Interesse für das Etablissement noch zu erhöhen, anbot, Theilhaber desselben zu werden, was Noddy anfangs ablehnte, da er nicht wissen konnte, ob ihm sein Schicksal gestatten werde, sich auf alle Zeiten Mr. Seyers anzuschließen.

Dabei fand er aber jeden Tag mehrere Stunden Zeit, um die Straßen von Charleston zu durchwandern, und nach der Geliebten zu suchen. Nachmittags, wenn die Vorstellung zu Ende war, ging er aus und erst spät am Abend lehrte er todtmüde zurück und warf sich auf das provisorische Lager in dem Wagen, der ihm zur Wohnung diente, seufzend, daß er immer noch nicht dem Ziele näher sei, als vor einem Jahre.

So standen die Sachen, als es ihm das Schicksal bestimmte, in seiner Eigenschaft als Löwenbändiger ein Heldenstück zu vollführen, wie es nicht allen Löwenbändigern zugemuthet wird, und das eine große Anzahl der Löwenbändiger mit Entschiedenheit verweigert haben würde, ohne daß sie sich dadurch den Vorwurf der Feigheit zugezogen hätten.

Es war an einem Abend des Juli-Monats, als Noddo Noddini sich wieder todtmüde auf das Lager geworfen hatte, und ein schwerer Schlaf sich auf seine Augenlieder senkte.

Da ward er plötzlich von dem neben ihm wohnenden Atzteken mit den gewöhnlichen unartikulirten Ausrufen, die er aber diesmal mit ganz ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ausstieß, aufgeweckt. Die Mißgestalt suchte ihm mit allen möglichen, kaum mißzuverstehenden Gesten seinen Bogen und seine Pfeile aufzudringen, welche Waffen Noddy aber zurückwies, obwohl er daraus schloß, daß irgend eine Gefahr vorhanden sei.

Er war noch im Begriff, sich mit dem Atzteken zu verständigen, als Mr. Mops athemlos in das Gemach stürzte und die Schreckensnachricht hervorkeuchte:

»Die Löwen sind ausgebrochen! der Teufel ist los!«

»Die Löwen? – welche?« fragte Noddy.

»Alle, alle!« erwiderte der Professor der Naturgeschichte, »sie sind alle heraus und laufen jetzt wie ganz gewöhnliche Katzen in Charleston umher.«

Noddy sprang sofort von seinem Lager auf, und ohne sich die Zeit zu nehmen, sich erst völlig anzukleiden, sondern beinahe in dem ziemlich primitiven Costüm des Atzteken eilte er hinaus vor das Eisengitter des Löwenkäfigs.

Die ganze Anzahl der Löwen, welche ausgebrochen waren und jetzt wie ganz gewöhnliche Katzen in Charleston umherspringen sollten, reducirte sich auf zwei, nämlich den Ninus und die Dido, welche letztere an Stelle der getödteten Tigerin in den Käfig des Löwen gebracht war.

Die beiden Thiere hatten die Bretter des Fußbodens, welche nicht mit Eisen übernagelt waren, zernagt und zerbrochen und sich dann auf einen nächtlichen Spaziergang begeben.

Das ganze Personal der Menagerie war bereits in Alarm versetzt, ehe man Mr. Seyers die Nachricht von dem Ausbruche der beiden Löwen brachte. Und in der That war er in dieser Angelegenheit auch die nutzloseste Person von der Welt. Denn als er von dem Unglück hörte, that er Nichts weiter, als daß er vor die Thür seines Wagens noch zwei Riegel schob, sich dann von Neuem ins Bett legte und die Kissen weit über seinen Kopf zog, während seine Ehehälfte eine Zuflucht im Kleiderschranke suchte.

Mr. Mops und der Azteke zeigten ebenso wenig Lust sich an der Löwenjagd zu betheiligen, des andern Personals gar nicht zu gedenken.

»So lange sich die Bestien an ihrem natürlichen Aufenthaltsorte im Käfig befinden,« sagte Mr. Mops, »bin ich stets bereit ihnen alle Aufmerksamkeit zu widmen, da sie sich gegenwärtig aber in einen so abnormen Zustande der Freiheit versetzt und sich aus so undankbare Weise aus dem Käfig gemacht haben, so sage ich mich von ihnen los.«

Das Ende vom Liede war eine Löwenjagd welche Noddy allein auszuführen den Muth hatte.

Zur Kenntniß war das Entweichen der Löwen dadurch gekommen, daß ein Bürger Charlestons, als er über den Baumplatz in der Nähe der Menagerie ging, die beiden Unholde gewahrte und sofort Schutz suchte in der Wohnung des Mr. Mops, und in seiner Angst diesem die schauererregende Mittheilung machte, daß er eine ganze Schaar Löwen gesehen habe. Mr. Mops hatte sich die »ganze Schaar« nun so übersetzt, daß dieselbe nicht gut größer sein könne, als neun; da wenigstens in der Menagerie des Mr. Seyers keine größere Anzahl von Löwen anzutreffen war und das hatte ihn veranlaßt zu der etwas übertriebenen Nachricht, daß alle Löwen entwichen seien.

Der Azteke aber war gleichzeitig dadurch in solche Aufregung versetzt und hatte sich bewogen gefühlt den Löwenbändiger zu wecken und ihm seine Pfeile zur Disposition zu stellen, weil er sich das behagliche Gebrüll, das er in der Nacht vernommen, und welches die Aeußerung des Wohlbehagens gewesen war, mit dem Ninus und Dido den Boden der Freiheit begrüßten, sich sofort ganz richtig gedeutet hatte. Der Bürger, welchen ebenfalls Noddy nach dem, was er gesehen fragte, wußte über den Weg, den die Löwen genommen, nicht mehr als Mr. Mops und der Azteke.

Dies war also Alles, was Noddy über die beiden Ausreißer zu erfahren vermochte, bevor er sich mit zwei starken Stricken bewaffnet, zu ihrer Verfolgung auf den Weg machte.

Es war inzwischen bereits der Morgen hereingebrochen. Die Sonne tauchte eben mit rosigem Schimmer hervor, zertheilte die Nebel und übergoß die Landschaft von Charleston und die Stadt selbst mit ihren sanften und wohlthuend erwärmenden Strahlen, in welchen sich die Vögel der Lust wie die Thiere des Feldes wie auch die Menschen, welche den Zauber eines Morgenspazierganges liebten, sich entzückt zu regen begannen.

Wohl hundertmal mußte Noddy fragen nach den beiden gefährlichen Flüchtlingen. Es hatte sie Niemand bemerkt; erst ganz am Ende der Stadt in einer abgelegenen, engen Straße traf er vor der Pforte einer langen und hohen Mauer eine alte Frau, welche auf sein Fragen ihm erzählte, daß soeben zwei der größten Hunde, welche sie je gesehen, ihre Lieblingskatze aufgescheucht und verfolgt, vielleicht gar schon getödtet hätten.

Die Alte fuhr fort vor der Thür auf und abzulaufen und aus Leibeskräften zu schreien: »He! Mr. Gamp machen Sie auf!« und mit den Fäusten an die Thür zu donnern und die Glocke zu ziehen, als ob sie dieselbe zerreißen wolle.

Aber weder öffnete sich die Thür, noch ließ sich überhaupt eine antwortende Stimme hören.

»Waren es vielleicht auch Löwen?« fragte Noddy, an den Bericht der Alten anknüpfend, »welche Ihre Katze verjagt haben?«

»Löwen? – Ach du mein Gott! Ich kenne keine Löwen; aber so wahr ich lebe, ich mache die Sache anhängig beim Courtgericht, wenn es Löwen waren. Meine schöne, liebe Katze! so zart, grau und weiß gefleckt, so glänzendes Fell. Du lieber Himmel, was mag sie nur für Angst ausstehen, wenn sie gewahrt, daß es Löwen sind.«

»Was klopfen Sie denn an die Pforte dort, Frau? Sind etwa die Löwen da drinnen?«

»Ja, drinnen, in dem Park, der zu dem Pensionat gehört.«

»Irren Sie auch nicht, liebe Frau? Wie sollten die Löwen über diese hohe Mauer kommen?«

»Freilich sind sie nicht über die Mauer hineingelangt; aber Mr. Gamp ließ gerade einen alten Herrn aus der Pforte, welcher wohl bei Mrs. Bagges übernachtet haben mag, als meine Katze hier vorbeilief und, da sie die Pforte sich öffnen sah, hineinflüchtete. –

Die beiden großen Hunde oder, wie Sie sagen, Löwen stürzten nach, und Mr. Gamp, der Dummkopf, schlägt nicht einmal die Pforte zu, sondern läuft davon, und als ich hierher kam, um meiner Katze zur Hülfe zu eilen, warf eben der Wind die Thür ins Schloß. Seit der Zeit stehe ich nun hier und bin in Todesangst, was ich thun soll.«

Der Leser wird bereits errathen haben, daß der Park, von dem die Alte redete, kein anderer war, als der zum Hause der Mrs. Bagges gehörige Erholungsplatz ihrer armen Verwandten, und das Pensionat nichts Anderes, als das schmachvolle Institut, in dessen Direktion sich in neuester Zeit Mrs. Bagges und Mrs. Gamp teilten.

Noddy hatte die Erzählung der Alten kaum zu Ende gehört, da hatte er bereits sehr richtig combinirt, daß der Portier schwerlich kommen würde, tun die Pforte zu öffnen, denn wenn jener Mr. Gamp, von dem die Alte sprach, derselbe war, der ehemals Besitzer der Menagerie war, so würde er wahrscheinlich wissen, was es heißt, solchen Bestien entgegen zu treten; und wenn er hinsichtlich seines Muthes auch nur im Entferntesten Mr. Seyers glich, so würde er nicht tun alle Schätze der Welt sich aus seinem Versteck wagen, so lange sich die Löwen unterhalb der Mauern des Parks befanden.

Schnell hatte er Anstalt getroffen, eine Leiter herbeizuschaffen. Auf derselben erstieg er die haushohe Mauer bis an die zugespitzten Eisenstäbe, stieg über dieselben behutsam hinweg und sprang dann von oben herab in den Park.

Wie schön war es hier! Herrlich duftende, schön belaubte Gänge, Blumenpartien und lustige Plätze – das Alles wechselte in so anmuthiger Weise und gewann an Reiz noch durch die herrliche, erfrischende und milde Morgenluft, daß sich unwillkürlich hier behaglich die Brust hob, um in vollen Zügen den erfrischenden, mit Blüthengeruch gewürzten Lufthauch einzuathmen.

Noddy hatte natürlich für diese Reize keine Empfindung, als er den Park betrat, sondern strengte alle seine Sinne an, Gesicht und Gehör, ja wohl auch den Geruch, um die Löwen aufzufinden. Lange wollte ihm dies nicht gelingen. Der Park war öde und ausgestorben; im Hause regte sich Niemand; auf sein Klopfen öffnete auch Niemand; nur eine Weiberstimme hörte er im Innern, welche zeterte und jammerte:

»O, Himmel, die Mädchen! Fanny, Nettice, Polly, Sairy, alle, alle sind auf dem Spielplatz und vielleicht jetzt schon zerrissen!«

»Du lieber Gott, Bethsey, ich könnte es Dir nicht verdenken, wenn Du in Verzweiflung geriethest,« antwortete eine andere weibliche Stimme, »denn es ist so zu sagen ein Capital von funfzigtausend Dollars!«

»Mehr, mehr, Schwester! Halb so viel ist mir die Fanny allein werth!«

Also eine Fanny befand sich auch hier? Der Name wäre schon allein im Stande gewesen, seinen Eifer anzuspornen, wenn nicht bereits die Gefahr, die nach dem, was er gehört, über dem Haupte mehrerer junger Mädchen schweben sollte, dies bewirkt hätte.

Noddy eilte einen der Laubgänge entlang, und zwar demjenigen Theil des Parkes zu, welcher am wenigsten bewachsen und also einem Aufenthaltsorte für die beiden entsprungenen Löwen am günstigsten zu sein schien. Er gelangte auf seinem Wege an einen Graben, welcher den Park in der Quere durchschnitt, und jenseits desselben bemerkte er, hinter dem einen Bosquet kauernd, die Kleider junger Mädchen, ohne Zweifel derselben, von welchen er die Frau im Hause hatte sprechen hören.

Als er durch das Weidengebüsch, welches den Graben umstand, hindurchdrang, um die Inhaberinnen der Kleider zu fragen, ob sie vielleicht die beiden Flüchtlinge bemerkt hätten, erfolgte auf das Geräusch, das er verursachte, ein lauter Schrei, und wie Waldnymphen, die ein Actäon überrascht, stoben die Erschreckten auseinander.

»Die Löwen! Die Löwen!« kreischten sie, davon fliehend. Da der Graben ziemlich breit war, so konnte Noddy ihnen nicht folgert und sie durch den Anblick seiner Person überzeugen, daß die Gefahr, von den Löwen ergriffen zu werden, noch nicht so nahe war. Vielmehr rief er hinüber:

»Fürchten Sie sich nicht, meine Damen; es sind nicht die Löwen! Aber Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir sagen wollen, in welcher Richtung ich dieselben zu suchen habe.«

Eins der Mädchen, vielleicht das kühnste, hielt in ihrem Lauf inne und stand mit dem Ausdrucke höchster Ueberraschung dem Löwenbändiger gegenüber.

Statt ihm aber auf seine Frage zu antworten, wandte sie sich, nachdem sie ihn einige Augenblicke betrachtet hatte, schnell zu ihren Gefährtinnen um.

»Polly! Anna! Der schöne Mulatte aus Mr. Seyers' Menagerie!«

Ihr Zuruf fand ein Echo bei einem andern Kinde, einem Mädchen von etwa dreizehn bis vierzehn Jahren, welches laut und wie in freudigem Schrecken durch die Gebüsche schrie:

»Fanny, komm geschwinde; er ist da, Dein Bruder!«

»Was?« fragte Sairy.

»Ihr Bruder?« wiederholte eins der andern Kinder·

»Ja wohl, Sairy. Hörtest Du nicht, wie sie ihn ihren Bruder nannte?«

Staunend hörte Noddy dem Gespräche zu. – Fanny dort!

Eine Fanny, welche ihn ihren Bruder genannt hatte? – Wie? Sollte er hier dem Ziel seines Monate langen Forschens so nahe sein?

Er blieb nicht lange in Zweifel. Zwischen den Gebüschen hin flog die Gestalt eines schönen schlanken Mädchens. Ihr dunkles, aufgelöstes Haar hing in ungebundenen Locken um ihre Schultern, die Röthe freudiger Ueberraschung bedeckte ihre Wangen, ihr schwarzes, sprechendes Auge glänzte in unaussprechlicher Seligkeit, sie stürzte an das Ufer des Grabens mit dem Ausrufe:

»Noddy! Gott sei gepriesen, daß Du da bist!«

Wahrhaftig, es war Fanny, es war die Gesuchte. Nur einen Augenblick zauderte der Jüngling. Der Graben, der ihm vorher ein Hinderniß gewesen war, war es jetzt nicht mehr.

Mit einem kühnen Sprunge hatte er das Hinderniß von zehn Fuß Breite überwunden, und Fanny, die Geliebte, die so lang Gesuchte, die so heiß Ersehnte, sie lag an seinem Herzen, ihre weichen Arme umschlangen seinen sehnigen Hals, ihre schwellenden Lippen preßten sich auf die seinigen. – Er vergaß den Ort, an welchem er war, den Zweck seines Hierseins, die Gefahr für sich und die andern Personen, welche sich im Park befanden, vergaß Mr. Seyers und die Löwen, die ganze Welt war für ihn nicht da; die ganze Welt mit all ihrer Freude, mit all ihrem Schmerz, mit all ihrer Sehnsucht, mit all ihrem Glück concentrirte sich ihm in dem holden Wesen, das er in seinen Armen hielt.

Erst ein lautes Gekreisch der andern Mädchen weckte ihn aus seinem Wonnerausche.

Er blickte auf.

»Die Löwen! Da sind sie!« schrie Sairy, welche bis jetzt etwas verblüfft dem sonderbaren Auftritte zugeschaut hatte.

Sie deutete mit diesen Worten auf einen freien Rasenplatz des Parkes, welchen eben jener Graben durchschnitt, und in dessen Mitte sich ein kleiner Teich befand.

Noddy's geübtes Auge hatte längst, ohne daß die übrigen Andeutungen nöthig waren, welche ihm von sämmtlichen Mädchen gegeben wurden, die richtige Stelle herausgefunden. In weiten Sprüngen eilte er davon, und wenige Secunden später befand er sich auf dem Platz am Teich. – –

Ninus und seine Gefährtin hatten, wie die Alte berichtet hatte, ihre ländliche Excursion mit der Jagd auf jenes unbedeutende Wild begonnen, das sich vor seinen gigantischen ausländischen Verwandten in diesen Park und hier auf einen Baum geflüchtet hatte, der in der Mitte jenes Rasenplatzes stand. Hier war die Katze allerdings sicher; allein die Löwen hatten doch ihre Freude daran, sie noch weiter in Angst zu setzen. Sie belustigten sich daran, um den Baum und auf dem Platz umherzuspringen und sich auf dem Rasen zu kollern, wie Hunde, welche nach einem langen Aufenthalte im Zimmer endlich einmal das Vergnügen haben, an einem schönen Tage in's Freie gelassen zu werden.

Noddy sah, wie Ninus die auf dem Rücken liegende Dido bald in weiten Zirkeln umkreiste, den Schweif weit ausstreckend und die Mähne glatt an den Nacken legend, und dann dieses Amusement von Zeit zu Zeit aufgab, an den Baum eilte, auf welchem die Katze mit emporgekrümmtem Rücken und ausgerichtetem Schwanz saß und herunter glotzte. Er richtete sich dann mit den Vorderpfoten an dem Baumstamm auf und gab der Katze durch ein Geknurre zu verstehen, daß er sie nicht vergessen habe, und daß sie sich nicht der trügerischen Hoffnung hingeben möge, er werde sie während seines Spiels vergessen. –

Das Heldenstück, welches Noddy jetzt zu vollführen hatte, war bei weitem das Schwierigste, was er je geleistet. Weder die Löwen-Jagd unter den sieben Wüstenbewohnern, noch seine Dressur der Semiramis konnten mit dem verglichen werden, was er jetzt zu thun im Begriff war. Es war kaum weniger rühmenswerth, als die Heldenthat jenes gepriesenen Simson, um so mehr, da er sich nicht wie jener israelitische Held auf die List einer Delila verlassen konnte.

Sogar die Peitsche, welche ihm sonst eine so große Sicherheit gewährte, hat er diesmal zu Hause gelassen, und nur mit ein paar starken Stricken versehen und das Herz voll verwegenem Muth trat er das Wagestück an.

Kaum wurden die beiden Löwen seiner ansichtig, so kamen sie in mächtigen Sätzen schäkernd auf ihn zugesprungen, als wollten sie sagen: »Hier sind wir! Ist das nicht ein vergnügtes Leben, ein köstlicher Spaß? Von Deinem Käfig wollen wir nie wieder etwas wissen, es ist übrigens recht vernünftig von Dir, daß Du die Sache ebenso ansiehst, wie wir, und zu uns herausgekommen bist, um mit uns zu spielen.«

Noddy kannte die Natur der Thiere gut genug, um diese ihre stumme Sprache zu verstehen, und hütete sich wohl, ihrer Voraussetzung in irgend etwas zu widerstreiten. Im Gegentheil gab er sich in der That den Anschein, als ob er nur mit ihnen spielen wolle.

Als sie sich an seiner Seite beide behaglich knurrend niederstreckten und im Grase wälzten, da legte er sich mitten zwischen sie, bald den einen, bald den andern streichelnd und lieblosend. Unvermerkt aber legte er jedem um alle vier Füße gleichsam spielend eine Schlinge mit den Stricken; dann plötzlich sprang er auf und mit einem Ruck zog er beiden zugleich die Beine zusammen und befestigte sie dann mit den Enden der Stricke dicht an einander, so daß die Löwen kaum ein Glied zu rühren im Stande waren.

Mr. Mops und die übrigen Mitglieder der Menagerie hatten inzwischen sich mit geeigneten Waffen versehen, auch einen Wagen zurecht gemacht und waren dem verwegenen Thierbändiger gefolgt, um ihm die entsprungenen Löwen einfangen zu helfen.

Auch ihnen hatte die Alte den richtigen Weg gewiesen; vermittels der Leiter, welche noch an der Mauer lehnte, waren auch sie in den Park gelangt und kamen gerade in dem Moment an, als Noddy die Löwen in widerstandslosem Zustande auf dem Rasen liegen ließ und zu Fanny eilte, welche ihm trotz ihrer Furcht vor den Löwen gefolgt war und aus einiger Entfernung mit angstklopfendem Herzen und mit Beben zugeschaut hatte.

Da die Gefahr beseitigt war, kamen auch die übrigen Mädchen neugierig herbeigerannt. Namentlich aber war es Nettice, welche sich ängstlich an Fanny schmiegte und flehentlich bat:

»Nicht wahr, Du läßt mich nicht hier, wenn Du mit Deinem Bruder gehst, nicht wahr, Fanny, Du nimmst mich mit?«

»Gewiß, Du sollst mich nicht mehr verlassen. – Komm Noddy, laß uns diesen schrecklichen Ort fliehen, ehe Mrs. Bagges unsere Flucht entdeckt; sie würde mich sonst zurückbringen in das entsetzliche Haus!«

»Wie?« erwiederte Noddy entrüstet, »man hat Dich gemißhandelt? Ha! Ich werde Dich rächen, Fanny!«

»Es hat sie Niemand gemißhandelt, Sie zärtlicher Löwenbändiger; Sie brauchen Sich nicht zu ereifern!« fiel hier Sairy ein; »Mrs. Bagges hat sie gut gepflegt, hat ihr eine bequeme Wohnung und schöne Kleider gegeben, und wenn sie fortgeht, so ist sie ein undankbares Geschöpf und verdient nicht die Wohlthaten, die ihr in diesem Hause erwiesen sind.«

»Nein, nein!« versetzte Nettice, »glauben Sie ihr nicht, Mr. Noddy, glauben Sie ihr nicht! Man hat sie nicht gemißhandelt, aber Schrecklicheres als Mißhandlung erwartet uns, wenn wir hier bleiben. Retten Sie Fanny, und nehmen Sie auch mich mit. Ich freilich kann Ihnen durch Nichts danken, Mr. Noddy; aber mein ganzes Leben lang will ich es Ihnen nicht vergessen, wenn Sie mich aus diesem Hause, wo nur die empörendsten Greuel passiren, befreien.«

Fanny an der einen, Nettice an der andern Hand schritt Noddy dem Ausgange des Parkes zu und öffnete die Pforte, vor welcher der zum Transport der Löwen bestimmte Wagen hielt.

Inzwischen hatte Sairy bereits Rapport abgestattet über diese unwillkommene Intervention eines fremden Mannes, und Mrs. Bagges, unterstützt von Master und Mistreß Gamp kamen ihm nachgeeilt und versuchten, ihm die beiden Mädchen wieder zu entreißen.

»Laß' sie ihm nicht, Bethsey! Ein Capital von 25,000 Pfund! Reiß' sie ihm fort, Du Taugenichts von einem Mann; bist Du denn zu gar Nichts gut, als Punsch zu trinken und ein Vermögen zu vergeuden? Kannst Du nicht einmal diesem Gelbschnabel die Kinder entreißen?«

So ermahnte Mrs. Gamp ihre Schwester und ihren Mann, und legte selbst Hand an's Werk, um Noddy's Beginnen zu hindern.

Dem musculösen jungen Manne aber war es eine Kleinigkeit, sich diese drei Angreifer vom Halse zu schaffen und den Park zu verlassen.

Fanny und Nettice befanden sich in sicherer Obhut, und fanden vorläufig ein Unterkommen in der Wohnung des Löwenbändigers zu derselben Stunde, als die Löwen zu ihrem großen Leidwesen von ihrem Käfig wieder Besitz zu nehmen genöthigt wurden.


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