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Hundertunddrittes Kapitel.
Im Cedernwald

Noch ehe zehn Minuten vergangen waren, stand das Cab Mr. Conover's vor dem Portal, bespannt mit zwei muthigen Rennern.

Mr. Conover sprang hinein; der Stallmeister, welcher durch Mr. Fisher belehrt war, daß Gefahr im Verzuge sei, nahm als Kutscher auf dem Bock Platz, und vorwärts ging es nun, daß Kies und Funken stoben, die Straße nach Alexandria entlang.

Wohl eine halbe Stunde hatte dies Rennen gedauert, ehe man auch nur bemerken konnte, daß der Vorsprung, den Lincoln's Wagen hatte, irgend wie verringert würde.

Da aber sah man jenseit des Hügels auf dem Abhange, der sanft hinaufstieg zu dem Cedernwäldchen, die beiden Equipagen, nämlich den Wagen Lincoln's und den Booth's, letzteren in geringer Entfernung hinter dem ersteren.

Die beiden Renner des Cab waren mit Schaum bedeckt, aber der Stallmeister trieb sie zu immer neuem Aufwand ihrer Kräfte an. Schritt um Schritt gewann er Raum, und schon waren sie so nahe, daß Conover deutlich sehen konnte, wie der Kutscher Lincoln's mit aller Gewalt und mit aller Anstrengung gegen die wild gemachten Rosse kämpfte.

Mit jedem Schritt, den die Thiere gegangen waren, hatte sich die in ihrem Ohre befindliche Kugel tiefer hinabgesenkt, ihre Angst immer mehr und mehr erhöht und schließlich die armen gefolterten Thiere völlig rasend gemacht.

Bald sich auf den Hinterfüßen emporhebend schienen sie in die Luft emporschießen zu wollen, dann wieder rannten sie mit aller Gewalt gegen einen Baumstamm und preßten den Schädel gegen denselben, als gelte es, den Baum umzubrechen, und es kostete alle Anstrengung, sie wieder auf den Weg zu bringen, was aber nur geschah, um sie neues Unheil anrichten zu sehen.

Die Gefahr ward mit jeder Secunde größer.

Konnten nicht die unbändigen Pferde den Wagen hinabschleudern in den tiefen Graben zur Seite des Weges? Oder konnten sie nicht, der Patentzügel spottend, sich von diesem Zwangsmittel frei machen, und mit jener rasenden Geschwindigkeit dahin jagen, zu der ihre Todesangst sie trieb?

Und war denn nicht das unzweifelhafte Ende vorauszusehen? Konnte dies alsdann ein anderes sein, als daß man den verstümmelten Leichnam des Präsidenten und seines Geheimsecretairs mit Staub und Koth bedeckt auf der Straße finden würde?

Nein! Da kam Hülfe!

Der zweite Wagen, welcher sich in unmittelbarer Nähe des andern gehalten, holte diesen plötzlich ein.

Ein Mann sprang heraus, fiel den unbändigen Pferden in die Zügel, ein Schuß seines Revolvers machte sie einen Augenblick stutzig, so daß sie wie angebannt still standen. Ein zweiter Mann, der aus dem Wagen stieg, sprang an den Schlag, öffnete ihn und rief so laut, daß ihn Mr. Conover fast hätte verstehen können:

»Retten Sie sich, Sir! verlassen Sie den Wagen, denn die Pferde sind nicht mehr zu bändigen. Hier ist unser Wagens Nehmen Sie darin Platz!«

Lincoln zögerte auch nicht lange, hinauszuspringen, Nicolai folgte ihm, und Beide stiegen in den andern Wagen, die Bändigung der wilden Pferde dem Kutscher und dem Bedienten überlassend.

In scharfem Trabe fuhr der geschlossene Wagen Booths fort und kam Mr. Conover bald aus den Augen.

Die erschöpften Pferde waren bald nicht mehr im Stande, mit denen Booths den Wettlauf auszuhalten.

»Wir müssen vorwärts,« sagte Conover zu dem Stallmeister, »der Präsident befindet sich in den Händen seiner Mörder!«

»Ich hoffe, Sie täuschen sich, Sir; denn wenn mich mein gutes Auge nicht betrogen, so war der Gentleman, der Se. Excellenz und dessen Secretair in seinen Wagen aufnahm, Niemand anders, als der liebenswürdige junge Herr, mit dem ich in Blackhouse ein Glas Sillery getrunken.«

»Derselbe, derselbe!« wiederholte Mr. Conover dringend. »Aber ich schwöre Ihnen, daß der liebenswürdige Mann ein Mörder ist.«

»Sie setzen mich in Erstaunen!«

»Gleichviel; Ihre Pflicht ist es, wieder gut zu machen, was sich noch gut machen läßt. Durch Ihre Nachlässigkeit ist das Verbrechen, das man zu begehen beabsichtigte, gelungen. Sie haben sich eines Fehlers in der Beaufsichtigung der Pferde schuldig gemacht, da Sie den Schurken, welchen Sie für einen loyalen Bürger hielten, mit den Pferden allein ließen. Wollen Sie nun Ihre Pflichtversäumniß nachholen, wollen Sie Ihren Ruf und das Leben des Präsidenten retten, so suchen Sie den Wagen einzuholen.«

»Aber beim Teufel, Herr, es geht nicht! Sie sehen selbst, daß die Pferde nicht mehr weiter können. Aber halt – ich habe ein Auskunftsmittel. Sehen Sie dort, hart an der Straße, am Saume des Waldes, liegt die Villa Sewards. Wir werden sehen, ob der Wagen, in welchem der Präsident sitzt, dahinein abbiegt; geschieht dies, so können wir außer Sorge sein; geschieht dies nicht – dann freilich scheint mir die Gefahr, von welcher Sie sprechen, selbst wahrscheinlich.«

Es ließ sich in der That nichts Anderes thun, als abzuwarten.

Der Stallmeister ließ die Pferde gehn, ohne sie zu übermäßiger Anstrengung anzutreiben; sondern hielt sich nur stets dem andern Wagen so weit nahe, daß man deutlich zu sehen vermochte, welchen Steg er nehmen würde.

Die Allee, welche von der Straße ab nach Sewards Villa führte, ward immer deutlicher sichtbar· Der Wagen Booths fuhr bisher im gewöhnlichen Trabe. Mit einem Male aber setzte man die Pferde in Galopp, und der Wagen sauste an der Allee vorüber.

»Beim Teufel! Sie fahren nicht nach der Villa!« rief der Stallmeister und hieb auf seine Pferde ein.

Noch einmal machten die Thiere einen Versuch, den andern Wagen einzuholen; aus allen Kräften strengten sie sich an; der Wagen flog fast den Berg hinab, und man erreichte die Allee, welche, etwa fünfhundert Schritte lang, nach der Villa führte, gerade in dem Moment, als Booths Wagen nach der entgegengesetzten Seite hin, das heißt nach dem Flußufer zu, in den Wald hineinbog.

»Vorwärts, vorwärts!« feuerte der Stallmeister die Pferde an.

Keuchend und schweißbedeckt waren sie den Hügel hinabgekommen; sie mußten ihre Kräfte verdoppeln, um die sich nun erhebende Anhöhe hinauf zu gelangen.

Doch diese Anstrengung war zu schwer!

Eins der schönen Thiere stürzte nieder und verendete auf der Stelle, und das andere stand zitternd und der völligen Erschöpfung nahe, daneben.

»Bleiben Sie hier!« sagte der Stallmeister, »derweile ich frische Pferde herbeihole.«

Noch ehe Conover ihm geantwortet hatte, war er vom Wagen herabgesprungen und rannte in athemloser Eile der Villa Sewards zu.

Nach zehn Minuten sah ihn Conover, auf einem Pferde reitend und ein anderes neben sich führend, zurückkommen.

»Hier ist ein Reitpferd für Sie!« rief er schon von weitem, »steigen Sie auf!«

Und ohne erst abzuwarten, daß Conover dieser Aufforderung nachkam, sprengte er auf dem einen Pferde dahin, dem Walde zu in der Richtung, die Booths Wagen genommen·

Conover vermochte kaum, ihn einzuholen.

So ging es durch den Wald vorwärts, über abgebrochene Zweige, durch Gestrüpp und Schlinggewächse, durch mannhohes Gras, über Gräben und Sümpfe hinweg.

Aber es war auch keine Spur von dem Wagen zu erblicken. – – – – – –

Als Lincoln, durch Booth aufgefordert, in dem Wagen Platz genommen, dankte er seinen Rettern mit aller Aufrichtigkeit. Noch hatte er keine Ahnung von dem verrätherischen Beginnen Paynes und Booths.

Erst als sie die Allee erreichten, die nach Sewards Villa führte, da wunderte er sich, dass der Wagen hier nicht einbog.

»Meine Herren,« sagte er, »wenn mir recht ist, so führt hier der Weg, den ich fahren wollte, von der Straße ab.«

Booth und Payne antworteten nicht. Der Letzte aber wandte sich um, und gab dem Manne auf dem Kutscherbock ein Zeichen, worauf dieser mit aller Gewalt auf die Pferde lospeitschte und dem Walde zujagte.

Auch jetzt noch dachte Lincoln nicht an Verrath, sondern meinte vielleicht, daß er wieder das Unglück habe, in einem Wagen zu fahren, dessen Pferde scheu geworden.

Payne und Booth selbst schienen diese Besorgniß zu theilen, und der Letztere fluchte ununterbrochen auf den Kutscher, der die Pferde nicht zu zügeln verstehe, und that das so unaufhörlich und so laut, daß Mr. Nicolai selbst es nicht für gerechtfertigt hielt, irgend ein Bedenken zu äußern.

Man fuhr durch den Wald fort, dem Ufer des Potomac zu.

Da fing Nicolai an, die Gefahr zu ahnen.

»Sie sind gefangen, Excellenz,« flüsterte er dem Präsidenten zu, »geben Sie Acht, man führt Sie über den Potomac.«

»Wie?« sagte Lincoln, und faßte Booth scharf in's Auge; »es ist dies also ein Anschlag, ein Complott gegen meine Freiheit!?« rief er.

Sein großes, sonst so sanftes Auge nahm einen furchtbaren Ausdruck an, so dass Booth, sonst in jeder Kunst der Verstellung so geübt, seinen Blick zu Boden senken mußte und um eine Antwort verlegen war.

Payne ergriff statt seiner das Wort:

»Seien Sie unbesorgt, Sir,« sagte er mit ironischem Lächeln; »wir führen Sie dort hin, wo Sie eben so sicher leben und zu größerem Nutzen für die Nation existiren werden, als auf der Villa Ihres Staatssecretairs· Indessen, damit Sie nicht glauben, daß wir Ihnen irgend ein Leid anzuthun beabsichtigen, so werde ich selber versuchen, die wilden Thiere zu bändigen, und stelle es Ihnen anheim, auszusteigen Wahrlich! Ihr ungerechter Verdacht muß loyale Bürger beleidigen.«

Es gelang schon ohne sein Zuthun dem Kutscher, hier die Pferde zum Stehen zu bringen, wozu er freilich keine Mühe weiter anzuwenden brauchte, als daß er aufhörte, sie anzutreiben.

Der Wagen hielt, und Lincoln und Nicolai überlegten noch, was zu thun sei, ob sie hier aussteigen, oder ob sie sich dem Gefährte noch weiter anvertrauen sollten.

»Excellenz,« sagte Booth, »ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich nicht die Absicht hatte, Sie in eine so mißliche Lage zu bringen. Da Sie indessen einmal durch ein Unglück hineingerathen sind, so müssen wir uns so gut zu helfen suchen, als es geht. Meine Ansicht ist, wir vertrauen uns den unbändigen Pferden und der ungeschickten Führung des Kutschers nicht weiter an, sondern suchen zu Fuß das Ziel Ihrer Reise zu erreichen, wozu mein Freund und ich Ihnen unsere Begleitung anbieten.«

Mit diesen Worten sprang Booth aus dem Wagen und wollte dem Präsidenten beim Aussteigen helfen.

In demselben Augenblick aber sprangen drei Kerle mit Masken vor dem Gesicht hervor; der eine von ihnen packte Booth und schleuderte ihn zu Boden, so daß derselbe anscheinend bewußtlos liegen blieb.

Obwohl dieser Angriff auf Booth nichts als eine verabredete Comödie war, so. spielte doch der Acteur, welcher den Angreifer machte, mit solcher Wahrheit, daß dem Niedergeworfenen die Rippen krachten.

»Ochse!« brummte Booth. – »Bist Du's, O'Laughlin?«

»Ich bins,« antwortete der Angreifer; »habe ich Ihnen wehe gethan? Bedaure herzlich, aber meine Rolle erfordert es so, und ein wahres Vergnügen macht es mir, auch Mr. Robert diesen neuen Griff zu zeigen.«

Mit diesen Worten erfaßte er Robert Payne, der noch im Wagen saß, riß ihn heraus, und stöhnend lag er neben Booth im Grase.

Die beiden andern Maskirten hatten den zweiten Schlag des Wagens geöffnet und machten Anstalt, Lincoln heraus zu reißen. Nur der muthigen Vertheidigung Nicolai's gelang es, sie vorläufig daran zu hindern.

Allein, derselbe hätte nicht lange Widerstand leisten können; denn auch O'Laughlin kam jetzt den beiden Angreifern zu Hülfe. Er streckte seine muskulöse Hand bereits nach dem Präsidenten aus ...

Da erhielt er plötzlich hinterrücks einen kräftigen Hieb mit einer Reitpeitsche über das Gesicht.

Er blickte um sich.

Ein Mann von hoher und muskulöser Gestalt, in Stallmeister-Uniform, der soeben von einem schweißtriefenden Rosse gesprungen war, stand hinter ihm.

»Warte, Schurke!« rief dieser, »Dir werde ich das Geschäft versalzen!«

»Verrathen! Verrathen!« schrien die drei Angreifer, und suchten das Weite.

Der Kutscher sprang vom Bock und folgte ihnen.

Die Pferde, welche sich jeder Fessel frei wußten, und bereits scheu gemacht waren durch den Lärm, durch den Tumult im Wagen und durch die Komödie, in welche man sie insofern mit hineinzog, als sich der Kutscher den Anschein gegeben, sie nur mit Mühe halten zu können, und dabei fortwährend in die Zügel gerissen hatte, sprangen wie auf Verabredung plötzlich zur Seite, und mit dem Wagen, in welchem der Präsident und der Geheimsecretair noch saßen, in den Wald hinein. –

Der Stallmeister und Conover waren noch im rechten Augenblicke gekommen.

Die Scene, welche wir eben beschrieben haben, ereignete sich hart am Ufer des Potomac, wo ein Boot angebunden lag, auf welchem man den Präsidenten entführen wollte·

Jetzt, da der Plan vereitelt war, hatten die drei Angreifer schnell das Boot bestiegen.

Conover, statt die Angreifer zu verfolgen, eilte auf seinem Pferde, das er noch nicht verlassen, da er etwas später zur Stelle gewesen, dem Wagen nach, der von einem Baumstamm zum andern prallte, und in jedem Augenblick in Gefahr war, zertrümmert zu werden, und der Stallmeister, dem die Besorgniß um die Person des Präsidenten über Alles ging, und dem eine schnelle Auffassungsgabe auch mangelte, um in einer solchen Situation das Beste zu ergreifen, folgte Conover.

Es währte nicht lange, so war der Wagen eingeholt, die Pferde zum Stillstehen gebracht, und für dies Mal Abraham Lincoln der Gefahr entgangen.

Sobald Conover sah, daß das geschehen, lenkte er sein Pferd um, vom Wege ab, nahm das Pferd des Stallmeisters an die Seite, da dieser jetzt dem Wagen als Führer diente, und begab sich nach der Villa Sewards zurück, wo er die Pferde ablieferte. – Von dem einäugigen Rebellen-Invaliden sah Niemand etwas wieder.

Nur Mr. Fisher, der Wirth von Blackhouse, und Miß Mary Powel hätten, wenn ihnen nicht Stillschweigen geboten wäre, verrathen können, wer unter dieser Maske steckte.

Die beiden scheu gewordenen Pferde des Präsidenten mußten auf der Straße erschossen werden. Bei ihrer Section fand man die Kugeln in ihren Ohren tief hinabgesunken bis in's Gehirn.

Von den Angreifern war jede Spur verloren. Sie hatten in ihrem Boot das jenseitige Ufer des Potomac gewonnen, als die Nachforschung begann.

Die beiden Männer, welche sich zu Beschützern des Präsidenten gemacht hatten, Payne und Booth, mußten sich wohl erholt haben, denn auch sie wurden nicht mehr an dem Ufer des Potomac angetroffen, als man dort nachsuchen ließ.

Abraham Lincoln ahnte nicht, daß diese beiden Männer mit zum Complott gehörten, und hätte er es auch geahnt, so hätte doch keine Jury ihnen den Prozeß machen können.

Mehr als einmal hat später Lincoln nach diesen beiden Männern gefragt. Er sollte nur einen von ihnen im Leben wiedersehen, und zwar diesen mit der Mordwaffe in der Hand.


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