Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Sechzehntes Kapitel

In der Löwengrube auf der Techt saßen an diesem Freitagmorgen die vier Schustersleute schweigsam bei der Arbeit. Der heftige Zank vom vorigen Montag war noch nicht vergessen; es waren zu böse Worte dabei gefallen, und Gesche war noch unversöhnt mit Timmo. Seine besten Späße, unterstützt von Hans' drolligsten Gesichtern, wollten bei ihr nicht verfangen; sie spielte noch immer die tief Gekränkte, und darum durfte auch Daniel noch immer nicht gut Freund mit seinem Knechte sein, so gern er ihm auch alles verziehen hätte, wie er es in seinem weichen Herzen eigentlich schon getan hatte. Sobald Meister und Meisterin ein Gespräch anfingen, mischte sich auch Timmo hinein, weil ihm verdrossenes Schweigen unerträglich war; lieber wollte er sich, mit wem es auch sei, ein wenig hänseln und zanken, als dasitzen, mit den Händen schaffen und dabei den Mund nicht auftun. Wenn aber Daniel Spörken auf Timmos Bemerkungen einging und ihm antwortete, so erhielt er von Gesche, die er mit fragender Ängstlichkeit dabei ansah, einen stechenden Blick, und die Unterhaltung stockte wieder. Als Timmo dies merkte, wollte er aus Ärger darüber auch dem Meinungsaustausch von Meister und Meisterin einen Stein in den Weg werfen, und sowie namentlich Gesche zu sprechen begann, fing er an so laut zu klopfen, daß Daniel die Worte seiner Frau nicht verstehen konnte. Das war nun nicht gerade das geeignetste Mittel, sich Gesches Gunst zu erwerben und das alte Freundschaftsverhältnis wieder herzustellen. Dagegen stand jetzt Hans auf dem besten Fuße mit dem Gesellen, weil sie unter Gesches schlechter Laune beide gemeinschaftlich zu leiden hatten, und einen aufmunternden Blick, den Timmo dem Jungen verstohlen zuwarf, verstand dieser ganz richtig dahin, daß er tapfer mitklopfen sollte, wenn die Meisterin reden wollte; er befolgte ihn auch nachdrücklichst.

Heute konnte Gesche mal wieder schwer zu Worte kommen vor dem eifrigen Klopfen von Knecht und Jungen. Plötzlich rief sie aber laut genug, um sich verständlich zu machen: »Seid mal still! Ich glaube, es läutet.«

Da horchten sie alle, und richtig, es läutete mit allen Glocken.

»Sie stürmen!« rief Gesche. »Siehst du, Daniel! Wer hat nun recht gehabt, daß sie bei Schnewerding neulich den Aufstand beschlossen haben?«

»Ich habe recht gehabt«, sprach Timmo, »Ihr wolltet es ja nicht Wort haben.« Dann warf er die Arbeit hin und sprang hinauf in seine Kammer. Hans lief sofort aus dem Hause.

»Ach du mein Gott!« jammerte Daniel. »Gesche, was tu' ich?«

»Dumme Frage!« erwiderte Gesche. »Nimmst deinen Spieß und gehst hin, wo du hingehörst.«

»Meinst du? Meinst du wirklich, liebes Frauchen?« fragte Daniel zaghaft. »Aber denke mal, wenn ich –«

»Willst du etwa dem Amte vier Pfund Wachs büßen, wenn du ausbleibst mit deinem Gewehr?« schnarrte sie ihn an.

»Nein, nein, ich gehe ja schon«, sagte Daniel kleinlaut. »Höre nur, wie sie stürmen! Ach Gott! Ach Gott! Ist das eine Tränenwelt!«

Er zog sich langsam sein dickstes Wams an und tat dann, als ob er seinen Spieß nicht finden könnte, indem er beim Suchen die Ecke hinter dem Schrank, wo die nicht sehr gefährliche Waffe seit Jahren lehnte, sorglich vermied, bis ihm Gesche den Spieß hervorlangte und ihn mit einem kräftigen »Da!« ihrem Manne dicht vor die Füße auf den Boden stieß. Dann wollte sich Daniel auch noch die Hände waschen, in der Hoffnung, daß Gesche inzwischen ein Einsehen hätte.

»Ach was!« rief sie aber. »Wasche dich, wenn du wiederkommst und blutige Hände hast!« Dann stülpte sie ihm seinen Filz schief auf den Kopf und schob den Zitternden, der seiner Herzlosen noch einen jammervollen Blick zuwarf, zur Tür hinaus.

Timmo hatte oben seine Siebensachen schnell in ein Bündel gepackt, sein Dolchmesser in den Gürtel gesteckt und war davongeeilt.

Er lief unterhalb des Walles an der Bardowieker Mauer entlang zur Ilmenau, wo er in den schon seit mehreren Tagen für diesen Fall bereitgehaltenen Kahn sprang, ihn losband und hier auf seinen Freund und Gönner Sengstake wartete, um mit diesem das Weite zu suchen.

Sengstake gellten die Glocken wie die Posaunen des Jüngsten Gerichtes in den Ohren. Er hatte sich längst ein handliches Bündel geschnürt; dieses nahm er, steckte noch mehrere kleine Päckchen zu sich, zog die Kapuze seines Mantels tief über das Gesicht und suchte sich unerkannt durch entlegene Gassen zum Flusse zu schleichen. Mehr als einmal mußte er umkehren, weil ihm bewaffnete Bürger entgegenkamen, deren Begegnung er um jeden Preis vermeiden mußte.

Als er in solcher Verlegenheit um eine Straßenecke bog, erblickten Gilbrecht und seine drei Gesellen die lange, halb vermummte Gestalt, errieten ihren rechten Mann darunter und suchten, sich in zwei verfolgende Paare teilend, ihm den Weg abzuschneiden.

So kam Gilbrecht mit seinen Genossen in dem Augenblick an den Fluß, als Sengstake zu Timmo in den Kahn stieg und beide rasch zu den Riemen greifend davon ruderten. Mit einem Siegesschrei sprangen die beiden Verfolger in einen anderen Kahn, lösten ihn von dem Ringe und setzten den Fliehenden auf dem Wasser nach.

Es ging um Leben und Tod. Sengstake und Timmo ruderten aus Leibeskräften, und ihr Boot schoß wie ein Vogel stromab. Aber auch die beiden Böttcherknechte setzten ihre volle Kraft ein und ruderten, daß sich die Riemen bogen. Schon kamen sie auf dieser Hetzjagd dem fliehenden Boote nah und näher; da brach Gilbrechts Riemen derart, daß er hintenüber in das Boot fiel und dieses nun einseitig getrieben, sich zu drehen begann.

Den Krach, den das brechende Holz gab, und den Wutschrei, den die beiden Böttcher dabei ausstießen, hörten die Fliehenden und glaubten sich gerettet.

Sengstake erhob sich und winkte in dem Kahne stehend seinen ohnmächtigen Verfolgern mit dem Hute einen höhnischen Abschiedsgruß zu. Aber im selben Augenblick war auch Gilbrechts Genosse aufgesprungen, hatte seine Partisane ergriffen und schleuderte sie wie einen Wurfspeer gegen Sengstake.

Die Waffe traf den zu früh Frohlockenden mit solcher Gewalt gerade auf die Brust, daß Sengstake taumelte, über Bord stürzte und in der Flut versank.

Timmo, für sein eigenes Leben fürchtend, ergriff Sengstakes ledigen Riemen und ruderte mit der Kraft der Verzweiflung den Fluß allein hinab. Die beiden Böttcher dachten in ihrer Bestürzung gar nicht daran, den Schuster zu verfolgen; ihr Boot hatte sich vollends gedreht und war ganz aus der Richtung gekommen. Sie sahen noch, wie ein Arm und eine zuckende, in die Luft greifende Hand Sengstakes aus dem Wasser zum Vorschein kam; dann verschwand dieser in der Tiefe.

Die beiden anderen Böttcherknechte, die etwas später und weiter oberhalb an die Ilmenau gekommen waren, bemerkten die beiden um die Wette rudernden Boote mit ihren Insassen, sprangen gleichfalls in einen Kahn und folgten ihnen. So hatten sie aus geringer Entfernung den Untergang Sengstakes gesehen und langten nun neben Gilbrecht und seinem Gesellen an. Die vier beschlossen nach kurzer Beratung, den Ertrunkenen vorläufig in seinem nassen Grabe zu lassen, gemeinschaftlich die Ilmenau weiter hinabzufahren und in das Kloster Lüne einzudringen, um dort womöglich den Propst Dietrich Schupper gefangenzunehmen.

Leider kamen sie hier zu spät. Der Propst, mit seinem schlechten Gewissen, war beim ersten Glockenzeichen in der nahen Stadt auf einem eilig bespannten Wagen in die Heide entflohen, und die vier jungen Böttcher brachten nichts anderes heim, als die Nachricht von dem sicheren Tode Sengstakes und der Flucht des Lüner Propstes.

Meister Gotthard nahm den Bericht seines Sohnes mit Befriedigung auf. Zwei Bösewichter hatten sich zwar der strafenden Gerechtigkeit entzogen, aber der eine von ihnen – ob der nichtswürdigste und gefährlichste, war nicht leicht zu sagen – hatte doch seinen Lohn dahin; ihn brauchte man nun nicht mehr zu richten.

Der Meister und seine Freunde erkannten aber jetzt den Fehler, den sie bei ihrem Plane gemacht hatten und der sie leicht um die Rache an ihren Feinden hätte bringen können. Sie hatten nicht an eine Flucht zu Wasser gedacht, hatten wohl für den eiligen Schluß der Tore gesorgt, aber die Sperrung der Ilmenau am Baume vergessen. Ohne den geschickten Speerwurf des Böttcherknechtes, für den er überall in der Stadt gelobt und gepriesen wurde, wäre Sengstake seinen Verfolgern entschlüpft, und sicher nicht mit leeren Taschen. Um den glücklich entwischten Schusterknecht kümmerte sich niemand außer Meister Daniel und Frau Gesche Spörken, und auch diese weinten ihm keine zu heißen Tränen nach; selbst die hübsche Florentine grämte sich nicht lange um ihn.

Am Nachmittag zogen Fischer den Leichnam Sengstakes aus dem Wasser, durchsuchten seine Kleidung und fanden mehrere Päckchen voll Goldstücke bei ihm, die sie als zweifellos dem Stadtsäckel gestohlen auf dem Rathause ablieferten. Der Tote ward an der Stelle für die Gerichteten ohne Sang und Klang begraben, und dann war er so gut wie vergessen.

Die Stadt Lüneburg war nun ohne Bürgermeister und Rat, und ein schlichter Handwerksmeister regierte sie. Aber in der Lösung der Aufgabe, die ihm das Schicksal in die Hände gelegt hatte, bewährte sich der ganze Mann, und jetzt zeigte es sich, wie wahr des Volkes Stimme gesprochen hatte, die schon lange den Böttchermeister in der Roten-Hahn-Straße als denjenigen Bürger der Stadt bezeichnete, auf dem für die Zeiten der Not ihr Vertrauen und ihre Hoffnung stand. Der treuherzige, biedere Mann mit seinen einfachen Sitten und seinem geraden, ungeschminkten Wesen, der seit den Wanderjahren seiner Jugend aus seiner Vaterstadt nicht herausgekommen war, der in dem beschränkten Kreise seines Hauses und seiner Werkstatt gelebt und hier Ehre, Zucht und Frömmigkeit in seiner Familie, und Fleiß und Redlichkeit bei seiner Arbeit gepflegt und geübt, der nichts gelernt hatte als sein Böttcherhandwerk, dem Lesen und Schreiben zwar nicht fremd, aber auch nicht sehr geläufig waren, der endlich als Amtsmeister seiner Gilde mit Gerechtigkeit und Strenge auf Handwerks Gebrauch und Gewohnheit hielt und mit unbeugsamer Zähigkeit am alten Herkommen hing, der entfaltete jetzt auf dem Platze, auf den ihn der heutige Tag gestellt hatte, eine Umsicht, Kraft und Tüchtigkeit, die über alle Erwartung seiner vertrauenden Mitbürger ging, so daß nicht nur seine nächsten Angehörigen, sondern alle seine Werkbrüder in der Gilde, ja alle Handwerker in der Stadt mit Stolz auf ihn blickten, als auf einen der Ihrigen, dessen Ehre ihre Ehre war, dessen festem Willen sie sich fügten. Ob das Gotthard Henneberg wußte oder nicht – er handelte so, als wenn er es gewußt hätte und als wenn es gar nicht anders sein könnte. Er schwankte nicht, und fragte nicht einmal, was er tun und was er lassen sollte.

Als er auf offenem, waffenstarrendem Markte, mitten unter den kampfbereiten Gilden von der versammelten Bürgerschaft zum alleinigen Lenker der Stadt ausgerufen war und er die Amtsmeister ihm aufs Rathaus zu folgen hieß, tat er dies keineswegs, um mit ihnen zu ratschlagen, sondern er ließ sich von ihnen in ihrem eigenen und im Namen ihrer sämtlichen Werkbrüder in den Gilden noch einmal feierlich mit Wort und Handschlag unbedingten Gehorsam geloben, bis wieder ein vollmächtiger Rat eingesetzt sei. Mit aufrichtigem Herzen versicherten ihm alle Meister ihre unverbrüchliche Treue, und darauf gab er kurz und bestimmt seine Weisungen zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der Stadt.

Der Wachdienst an den Toren wurde unter den Gilden verteilt und geregelt; im Rathause sollte statt der Söldner vorläufig stets ein Handwerksmeister mit einem Dutzend zuverlässiger Gesellen in Wehr und Waffen anwesend sein; ebenso sollten während der Nacht in sechs Gildehäusern mit abwechselnder Reihenfolge eine Handwerkerwache bleiben und endlich sollten die Gefangenen in den Türmen je einem Meister mit drei Knechten bei täglicher Ablösung anvertraut werden. Nachdem dies alles geordnet und festgesetzt war, bestellte Meister Gotthard für den nächsten Morgen den Stadtschreiber des alten Rates, Magister Nikolaus Stoketo, der mit den Briefen, Siegeln und Handfesten der Stadt genau Bescheid wußte, zu einer bestimmten Stunde zu sich auf das Rathaus und entließ die Amtsmeister mit Dank und freundlichem Gruß, um sich nach Hause zu begeben, denn auch er, der kraftvolle, arbeitsgewohnte Mann, bedurfte nach den Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage der Ruhe und der Sammlung.

Die Amtsmeister aber ließen es sich nicht nehmen, ihren Genossen, den sie willig und neidlos als den Ersten unter sich, sie alle an Einsicht, Entschlossenheit und Tatkraft weit überragend, anerkannten, samt und sonders nach seiner Wohnung zu geleiten. Gotthard Henneberg suchte diese Ehre abzulehnen, mußte sie aber doch annehmen und tat es in dem bescheidenen Sinne, daß sie nicht ihm, sondern der Stellung gelte, die er übernommen hatte und der er vielleicht noch mehr Pflichten schuldete, als sie ihm Rechte verlieh.

So brachten ihn denn die fünfunddreißig Meister über den immer noch belebten Markt und durch die von den Menschen durchwogten Straßen bis vor sein Haus. Überall ward er höflich gegrüßt und mit manchem freudigen Zuruf empfangen. Als sie auf dem Markt am Brunnen mit der ewig lächelnden Luna vorüberkamen, ließ das Glockenspiel auf dem Rathausturm seine Melodie ertönen: Da pacem Domine in diebus nostris! Meister Gotthard wandte sich zu seinen Begleitern um, wies zum Turm hinauf und sprach mit einem milden Ernst: »Brüder, das walte Gott! Laßt es uns zum guten Zeichen nehmen, und jeder tue das Seinige, auf daß wir unser Handwerk in Frieden treiben können.«

Vor seinem Hause angekommen, dankte er den Brüdern mit herzlichen Worten; aber Hans Laffert, Schnewerding und Schuttenhelm traten mit ihm ein und übergaben ihn seiner Johanna, die von den Söhnen schon alles erfahren hatte und ihren zu hoher Ehre gelangten Sülfmeister mit überquellender Freude in die Arme schloß.


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