Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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II. Band

Erstes Kapitel

Am Donnerstag nach Pfingsten, also am Tage nach der Kopefahrt, morgens bald nach zehn Uhr, ritt der päpstliche Legat Herr Dietrich Dompnitz, Domdechant von Halberstadt, in Lüneburg ein.

Zwei reitende Diener des Rates in Wappenröcken mit den Farben der Stadt eröffneten den Zug. Der Legat ritt zwischen den Ratsherren Heinrich Viskule und Volkmar Stöterogge, gefolgt von Ritter Ernst von Boltessen von der Hasenburg, zwischen dem Abt von St. Michaelis, Ludolf von Hitzacker, und dem Propst von Lüne, Dietrich Schupper. Dann kamen der Prior von St. Michaelis, Hieronymus von Harling, der Propst von St. Johannes, Leonhard Lange, und der von St. Nikolai, Ludwig Hanevot, sämtlich in reichem Ornat. Ihnen folgten zwei Kapläne und zwei Diener des Legaten, hinter denen sechs geharnischte Knechte von der Hasenburg ritten. An diese schlossen sich zu Fuß mit Kreuzen und Kirchenfahnen die übrigen Geistlichen der Kirchen und die Brüder der drei Lüneburger Mönchskloster, die Benediktiner von St. Michaelis, die Prämonstratenser von Heiligenthal und die Franziskaner von St. Marien.

Die bevorstehende Ankunft des mit weitgehenden päpstlichen Vollmachten ausgerüsteten Legaten, der das Pfingstfest beim Bischof in Verden verlebt und diese Nacht auf der Hasenburg verbracht hatte, war, wie dem Rate so auch der Geistlichkeit angezeigt, von dieser aber ebenso geheimgehalten worden. Erst am Morgen, als die Klosterbrüder zur Stadt hinauswollten, erfuhr die Einwohnerschaft, was bevorstand, und eine Menge Neugieriger stellte sich am Sülztor auf, um den Legaten einreiten zu sehen. Allein diese wurden um das erwartete Schauspiel betrogen, denn Heinrich Viskule führte ihn, um ihn nicht an der Sülze, dem Ursprung des Haders, vorübergeleiten zu müssen, durch das Rote Tor in die Stadt, von wo man auch den Verdener Hof am schnellsten erreichte. Der Verdener Hof bei der Johanniskirche neben dem Kaland war ein Haus des Bischofs von Verden mit Hintergebäuden, Gehöft und Stallungen, in dem der Bischof wohnte, wenn er nach Lüneburg kam, und das jetzt auch den vornehmen Gast und sein Gefolge aufnehmen sollte.

Der Domdechant war ein Mann von bedeutender Erscheinung, mit einem geistvollen Gesicht, aus dessen scharfblickenden Augen ein fester Wille sprach. Er hatte sich dem Rat »um Spruch und Forderung, so wir von kaiserlicher Kammergerechtigkeit wegen zu Euch haben«, angemeldet und ihn um Schirm und Sicherheit von der kaum eine Stunde entfernten Hasenburg zur Stadt ersucht. Damit hatte er nichts anderes gemeint, als seine ehrenvolle Einholung durch den gesamten Rat und eine erhebliche Anzahl hervorragender Bürger, und war nun sehr enttäuscht, als man ihm nicht mehr als zwei Ratsherren entgegensandte. Seine weltmännisch feinen Formen ließen seinen Verdruß über dieses sein Amt und Würden verletzend kleine Geleit nicht zum vollen Ausdruck kommen, aber einen kleinen Stich wollte er den beiden wohlweisen Herren dafür doch nicht ersparen. Er fragte unterwegs ganz beiläufig: »Aus wieviel Ratsherren besteht der hochedle Rat in Lüneburg?«

»Wir haben zwei Bürgermeister und zwölf Ratmannen«, gab Volkmar Stöterogge zur Antwort.

»Macht vierzehn«, sprach der Legat; »aber die anderen zwölf können wohl nicht reiten?«

»O ja, hochwürdiger Herr!« erwiderte Heinrich Viskule schnell. »Wir sind alle sattelfest, wenn es darauf ankommt.«

›Wenn es darauf ankommt!‹ wiederholte sich der Domdechant im stillen. ›Es scheint ihnen also heute nicht darauf anzukommen.‹

Wieviel mehr würde er sich gewundert haben, wenn er gewußt hätte, was gestern abend in der Bürgermeisterkörkammer über sein Geleit verhandelt worden war.

Nach dem ersten gewaltigen Schrecken über die Nachricht hatte der Trotz bei den Ratsherren wieder die Oberhand gewonnen; sie hatten jeden Gedanken an Nachgiebigkeit von sich gewiesen, und die Mehrzahl war auch gegen alles Geleit gewesen; Töbing wollte dem Legaten sogar die Tore verschließen und ihn nicht in die Stadt einlassen. Mit Müh und Not hatten es Viskule, Mildehövet und einige andere, zu denen sich zuletzt auch der Bürgermeister Springintgut gesellte, noch durchgesetzt, daß wenigstens zwei Ratsherren dem Gesandten des Papstes entgegenreiten sollten. Belustigt haben würde den Legaten dagegen noch ein anderer Vorschlag Töbings, wenn er ihn erfahren hätte, ein Vorschlag, dessen Ausführung sich allerdings schon öfter und nicht bloß in Lüneburg bewährt hatte. Kamen Abgesandte eines Fürsten oder einer anderen Stadt, die man zu überlisten oder unverrichteter Sache wieder heimzuschicken wünschte, so war es ein vorzügliches Mittel, daß man die Herren in den Ratsweinkeller oder von einer Gasterei zur anderen lud und sie einfach unter den Tisch trank. Die dauerhaftesten Zecher machten sich dann mit aller Kraft ihrer Kehlen an sie und ließen die Fremden nie nüchtern werden, so daß sie leicht zu täuschen oder überhaupt zu allem Verhandeln unfähig waren. Dazu hatte sich auch Töbing gestern erboten, nachdem der Empfang des Legaten beschlossen war. »Gebt ihn mir!« hatte er gerufen. »Ich bring' ihn um, ich trinke ihn unter den Tisch! Dassel und Brömbsen, ihr löst mich ab, wenn ich nicht mehr kann, nicht wahr?« – »Mit Vergnügen!« hatten die geantwortet. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn den Domdechanten von Halberstadt trank niemand unter den Tisch, weil sich der kluge Mann niemals zu einem Trinkgelage herbeiließ.

Mit dem Ritter Ernst von Boltessen auf der Hasenburg standen Rat und Bürgerschaft in Lüneburg nicht auf dem besten Fuß. In jedem Streit, bei jeder Fehde hatten schon seine Vorfahren den Feinden der Stadt Vorschub geleistet oder sich ihnen kämpfend angeschlossen. Der nahen Nachbarschaft wegen war dann immer wieder ein magerer Vergleich zustande gekommen, aber der Ritter hatte keinen Freund in der Stadt und sah hochmütig auf die Salzjunker herab. So wußte er denn nicht und hatte es daher auch seinem Gaste, dem Legaten, nicht mitteilen können, daß gestern Kopefahren in Lüneburg gewesen war. Als man sich der Stadt näherte, hatte der Legat an dem vieltürmigen, giebelstolzen Bild seine Freude, und als er in die Stadt einzog und auf dem großen, langgestreckten Platz am Sande alle die hohen, prächtigen Häuser hier noch bekränzt erblickte, fragte er erstaunt: »Wann habt Ihr meine Ankunft erfahren, Herr Ratsherr?«

»Gestern abend spät, hochwürdiger Herr!« antwortete Stöterogge.

»Und heute morgen schon alle Häuser so reich geschmückt?« sagte der Prälat freundlich und mit einer leisen Bewegung geschmeichelten Dankes.

»Verzeiht, hochwürdiger Herr!« lächelte Viskule. »Die Kränze sind heute verwelkt; schon vorgestern schmückten wir unsere Häuser damit, weil wir gestern unser größtes Fest, die Kopefahrt, begingen.«

»Ach so!« Der Legat biß sich die Lippen und sprach kein Wort mehr, bis er vor dem Verdener Hof vom Pferd stieg.

Zu beiden Seiten am Sande und vor dem Bischofshause hatten sich viele Menschen eingefunden, die den Legaten und sein Gefolge in tiefem Schweigen an sich vorüberziehen ließen. Unter die vordersten hatten sich die heute morgen aus der Haft entlassenen Dalenborg und Sengstake gedrängt, nebst Ulrich Schupper, dem Bruder des Propstes, weil sie hofften, der Propst würde vom Legaten zum Eintritt aufgefordert werden, und sie dann mit sich nehmen und der Gunst des hochwürdigen Herrn empfehlen. Dies geschah jedoch nicht. Der Legat dankte den geistlichen Herren für ihre Geleit und entließ sie. Zu Viskule sagte er: »In einer halben Stunde, Herr Ratsherr, bin ich bereit, Bürgermeister und Rat zu empfangen.«

Viskule antwortete höflich und bestimmt: »Herr Domdechant, der Rat läßt sich auf dem Rathaus finden. Glock elf hält er heute Sitzung; wenn Ihr dann kommen wollt, sollt Ihr mit aller gebührenden Ehre empfangen werden.«

»Ich komme, Herr Ratsherr!« sprach der Legat, und trat grüßend in das Haus.

Die Ratsherren ritten ab, die Mönche begaben sich in ihre Klöster, aber die Menge der Zuschauer verlief sich noch nicht, und ein Murmeln und Summen erhob sich, wie wenn der Wind durch belaubte Zweige geht.

So war es denn geschehen, was niemand mehr geglaubt hatte als die wenigen, die durch ihre geheimen Verbindungen darum wußten. In die Mauern Lüneburgs war ein Gast eingezogen, der die Macht hatte, der Stadt mit einem Worte den Frieden zu nehmen. Würde er es aussprechen, dieses schreckliche Wort? Die einen fürchteten, die anderen hofften es; das war schon kein Frieden mehr. Der Bürgerschaft bemächtigte sich eine Erregung; Grimm und Groll auf den Rat, der es dahin hatte kommen lassen, Grimm und Groll auf die Prälaten, deren Anmaßung das Unheil heraufbeschworen hatte, standen sich gegenüber und teilten die Bürgerschaft in zwei feindliche Lager. Die Gegner des Rates frohlockten, denn sie waren überzeugt, daß nun bald sein letztes Stündlein schlagen würde. Aber die große Mehrzahl der Bürger und Handwerker hatte er doch auf seiner Seite, denn dessen waren sie sich wohl bewußt: wenn jetzt der Rat unterlag, so unterlag er nicht dem Willen der eigenen Bürger, sondern dem einer fremden Gewalt, von der sie sich keine Einrede in ihre Angelegenheiten gefallen lassen wollten. Mußte der Rat gestürzt werden, so sollte es durch sie geschehen, nicht durch den Papst in Rom oder seinen Gesandten. Dazu war es aber nun zu spät; wenn sie auch selber den Rat jetzt absetzten und einen anderen wählten, so taten sie es nicht mehr aus freier Entschließung, sondern unter einem äußeren Druck, und mit dem Rat fiel auch ein Stück von der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit ihrer Stadt. Dieser kräftige Freiheitssinn erhielt dem Rat mehr Anhänger, als die sehr geringe Liebe zu den regierenden Geschlechterherren und selbst als die Sorge, wer dann die Schulden der Stadt bezahlen sollte, wenn sie nicht aus dem Einkommen der Sülzbegüterten und Prälaten gedeckt werden konnten.

Viele Bürger von Lüneburg waren Gläubiger des Rates, dem sie bedeutende Summen als Darlehn vorgestreckt hatten; sie drängten schon längst um Rückzahlung, weil sie seit Jahr und Tag keine Zinsen erhielten, und waren also am Austrag des Streites doppelt stark beteiligt. Aber auch der Domdechant war kein unbefangener Richter in der Sache, denn das Domkapitel zu Halberstadt besaß einen Anteil am Lüneburger Salzwerk, gehörte mithin selber zu den Sülzbegüterten.

Als die Stunde gekommen war, begaben sich die Herren Viskule und Stöterogge nach dem Verdener Hof, um dem Legaten unter Vortritt von zwei Ratsdienern die Ehre des Geleites zum Rathause zu erweisen. Die beiden Kapläne folgten, aber eine Bedeckung durch die gewappneten Knechte, die ihm der Ritter von Boltessen anbot, wies der Legat dankend zurück.

Bürgermeister Springintgut empfing den Domdechanten mit ernster Höflichkeit auf der Schwelle der großen Audienz und führte ihn auf einen für ihn bereiteten Sitz der Ratsversammlung gegenüber, die sich bei seinem Eintritt von den Stühlen erhoben hatte.

Die Verhandlung währte nicht lange. Der Legat erklärte, daß er auf Befehl und mit Vollmacht des Heiligen Vaters, Papst Nikolaus V., erschienen sei, um vom Rat die Erfüllung des vom Reichskammergericht gefällten Spruches zu fordern und damit den in ihrem Vermögen gekränkten Prälaten und geistlichen Stiftern zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Bürgermeister erklärte, daß der Rat entschlossen sei, sich jenem Urteilsspruch nicht zu unterwerfen, vielmehr nach wie vor die Hälfte der Sülzeinkünfte von den Prälaten beanspruche und sich übrigens jede Einmischung in das Regiment der Stadt verbitte, wobei er sich auf den Satebrief der Herzöge Bernhard und Heinrich von Braunschweig-Lüneburg aus dem Jahre 1392 berief, der der Stadt volle Freiheit gewährleiste, sich selbst zu regieren. Darauf erklärte wieder der Legat, daß er dann eine Aufforderung an die gemeine Bürgerschaft zur Absetzung des Rates bei Strafe des großen Kirchenbannes ergehen lassen würde, und knüpfte daran beredte, würdevolle Ermahnungen, daß der Rat doch nicht ein so entsetzliches Unglück über die Stadt kommen lassen möchte, er gäbe ihm zu einer letzten Entschließung vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit.

Damit war die Sitzung zu Ende, und der Legat wurde in derselben Weise wieder in seine Wohnung zurückgeleitet, wie er aus ihr abgeholt worden war.

Von der Reichsacht war kein Wort gefallen. Kaiser Friedrich tat nichts, dem Spruch seines Hofkammergerichts Achtung und Geltung zu verschaffen. Deshalb ging Rom zum Schutz seiner geliebten Söhne, der Prälaten, Priester und Mönche, auf eigene Hand vor und hatte auch weit größere Macht dazu als der Kaiser in Wien.

An diesem Abend waren alle Trinkstuben in Lüneburg bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die Kürze der heutigen Verhandlung auf dem Rathaus war wohl bemerkt worden, aber niemand wußte das geringste von ihrem Inhalt und Verlauf. Desto abenteuerlicher waren die Vermutungen, die darüber laut wurden und die Gemüter erhitzten. Von denjenigen, die man außer den verschwiegenen Ratsherren für mehr oder weniger eingeweiht hielt, also Sengstake und Genossen, ließ sich keiner blicken, und über der Stadt lag eine drückende Schwüle.

Sie dauerte noch am nächsten Morgen. Niemand hatte recht Lust und Ruhe zur Arbeit, man stand müßig vor den Haustüren, ging zu den Nachbarn oder noch weiter über die Gasse. Kam ein Bürger aus einer anderen Straße, bog einer zufällig vielleicht in etwas schnellerem Schritt um die Ecke, so fielen gleich ihrer mehrere ihn an, um ihn nach Neuigkeiten auszuplündern, die er selber nicht hatte, sondern suchte. Daniel Spörken war überall, um zu kundschaften, zu horchen, zu vermuten, zu berichten.

Immer mehr füllten sich die Straßen. In den Vormittagsstunden bewegte sich eine dichte Menschenmasse auf dem Wege vom Verdener Hof nach dem Rathause, aber auf diesen vielen Hunderten lastete eine schwere Beklemmung; man sah nur ernste, ängstliche Mienen und hörte nur ein gedämpftes Flüstern und Surren, jede laute Äußerung wurde von Erwartung und Sorge niedergehalten. Welcher Gegensatz zu vorgestern! Welcher fröhliche Lärm und Jubel hatte da dieselben Straßen und Plätze gefüllt, als der glänzende Kopefahrtzug dahergestoben kam, vom jauchzenden Zuruf der Tausende mächtig umbraust. Noch hingen die Zeugen des Festes, die nun welken Kränze, an den Häusern, aber an Stelle der rauschenden Freude herrschte nun eine peinliche Stille.

Als die Glocken elf schlugen, kamen wieder, wie gestern, die beiden Ratsherren und holten den Legaten mit seinen Kaplänen zu Rathause. Durch ein tiefes Schweigen schritten sie dahin zurück, das um so unheimlicher war, je größer die Menge war, durch deren Mitte sie wandelten. Es machte den Eindruck, als würde der hochwürdige Herr nicht ehrenvoll zu Rathause geführt, sondern – einen ganz anderen, sehr schweren Weg. Hinter ihnen schlugen die Wogen zusammen, und alles drängte dem kleinen Zuge nach zum Markte. Etwas lauter ging es dabei wohl her, aber nicht so wie sonst bei sehenswerten Ereignissen, nur ein dumpf verworrenes Geräusch zahlloser, unterdrückter Stimmen brach sich an den hohen Giebelwänden der Häuser.

Der Rat hatte sich schon etwas früher versammelt, und Bürgermeister Springintgut hielt es für seine Pflicht, den Ratsherren mit kurzen eindringlichen Worten die Gefahr noch einmal vor Augen zu führen, die sie alle liefen, wenn sie bei ihrem Entschlusse, nicht nachzugeben, beharrten. Aber keiner schwankte noch, denn als er sie nun einzeln bei Namen aufrief und um ihre letzte Entscheidung ersuchte, antwortete einer nach dem anderen vom jüngsten bis zum ältesten mit fester Stimme: »Nicht nachgeben!«

»Wohl!« sagte der Bürgermeister. »Ich danke euch, liebe, ehrenfeste, günstige Herren und Freunde! Denn das ist auch meine Meinung, mag's mich gereuen oder nicht! Vielleicht wagen wir Gut und Blut, aber die Ehre haben wir gerettet. Herr Viskule und Herr Stöterogge, seid so gut und geleitet den –«

»Pfaffen«, brummte Töbing vernehmlich.

»– hochwürdigsten Legaten zu Rathause.«

Die beiden gingen, und bis sie wiederkamen, saßen die Ratsherren schweigend oder flüsterten nur leise mit dem Nachbar, denn jeder fühlte den schweren Ernst der Stunde.

Als der Legat seinen Platz eingenommen hatte, erhob sich der Bürgermeister und sprach: »Hochwürdiger Herr! Auf einstimmigen Beschluß des Rates vermeld' ich Euch hiermit kraft meines Amtes als erster worthabender Bürgermeister dieser Stadt, daß wir bei unserem Willen beharren und uns dem Spruche des Reichskammergerichts in keinem Punkte fügen wollen.«

»Herr Bürgermeister«, fragte der Legat, »ist das Euer wohlbedachter, letzter Bescheid?«

»Im Namen des hier versammelten vollmächtigen Rates, ja, Herr Domdechant!«

»Bedenkt es dreimal, hochedle Herren«, sprach der Legat, »ehe es zu spät ist. Ihr wißt, was ich dann tue.«

»Wir haben's bedacht, hochwürdiger Herr!« erwiderte der Bürgermeister. »Tut oder laßt, was Euch gefällt; jedes weitere Wort wäre verloren.«

»So geschehe in Gottes Namen, was Ihr zu hindern nicht willens seid!« sprach der Legat. »Herr Bürgermeister, seid so gut und laßt das Zeichen zur Versammlung gemeiner Bürgerschaft geben.«

Der Bürgermeister winkte dem Stadtschreiber: »Laßt läuten!«

Nikolaus Stoketo ging hinaus. Im Saale herrschte Grabesstille.

Auch draußen auf dem Markte war tiefe Ruhe. Tausende standen dort und blickten zu den Fenstern des Rathauses empor, als wollten und könnten sie erlauschen, was dort oben gesprochen wurde. Jetzt erklang laut und langsam die große Glocke, die nur geläutet wurde, wenn die Bürgerschaft zur Anhörung der Eddagsartikel aus der offenen Laube und zum feierlichen Eidschwur auf freiem Markte entboten wurde.

Da ging es wie ein einziger Ruf durch die gesamte Menge: »Die Glocke! Die Glocke!« dann war wieder einen Augenblick die tiefste Stille, und gleich darauf erhob sich ein dumpfes Brausen, aus dem kein einzelner Ton zu erkennen war, das aber in gleichmäßiger Stärke die Luft von einem Ende des Marktes bis zum anderen erfüllte und die begleitende Grundstimme zu dem ehernen Schall der Glocke bildete, die fort und fort vom hohen Turm erklang.

Irgendeine Entscheidung mußte da oben auf dem Rathause gefallen sein, die man der Bürgerschaft von der Laube herab verkündigen wollte; aber welche? Hatte der Rat gesiegt, oder wollte er abdanken und von den Bürgern Abschied nehmen?

Eine zitternde Spannung, wie mit Augen zu sehen, wie mit Händen zu greifen, schwirrte über der aufs höchste erregten Menge.

Von allen Seiten strömten die Bürger herzu, die nicht schon auf dem Platze waren, und wieder öffneten sich alle Fenster und Luken der Häuser am Markte und wurden von den Bewohnern besetzt, aber frohe Gesichter waren es nicht, die sich heute dort zeigten. Alles ging in guter Ordnung; die verschiedenen Gesellschaften und Gilden hatten nach altem Herkommen ihre bestimmten Plätze auf dem Markte. Die Angehörigen der Geschlechter standen vorn, dem Rathause zunächst, dann die Amtsmeister und Älterleute, dann die übrigen Bürger und Handwerker, die rechts, jene links, andere in der Mitte. Jeder wußte, wohin, er gehörte, und wie er sich nach seinem Standorte durchzuarbeiten suchte, gab es ein Gedränge und Geschiebe, ein Wogen und Wühlen, das von oben gesehen, ein fesselndes Schauspiel bot.

Allmählich staute sich die Bewegung und stockte endlich ganz. Die Bürger waren versammelt, die Glocke schwieg, und lautlose Stille trat ein.

Jetzt erschien auf der offenen Laube über dem unteren Bodengange der Legat und mit ihm der gesamte Rat. Legat und Bürgermeister standen in der Mitte der Reihe.

Der Legat nahm aus den Händen eines seiner Kapläne ein Pergament und begann es mit möglichst lauter Stimme vorzulesen. Aber seine Stimme war nicht laut; kaum die Vordersten verstanden ihn. Infolgedessen blieb es nicht ruhig. Wie eine Welle, die sich von einem Gestade zum anderen schwingt und denselben Weg wieder zurücknimmt, so kam es vom hintersten Ende des Marktes herangerollt: »Was sagt er? Was will er? Was sollen wir?« Immer weiter rückte die Frage vor, immer lauter pflanzte sich das Geräusch fort, aber dort nicht verstummend, wo die Frage vorübergeflutet war, nicht Ruhe hinter sich lassend und nur nach vorn das Getöse schiebend, sondern auch an seinem Ursprung dauernd und stärker werdend, so daß man bald gar nichts mehr von den Worten des Legaten hörte. Aber die Vordersten hatten doch wenigstens soviel verstanden, daß sie ihren Hintermännern Antwort geben konnten, als die Lesung beendet war: »Wir sollen den Rat absetzen binnen zwölf Tagen bei Strafe des großen Bannes.« So klang die Antwort, und nun rollte die Woge denselben Weg zurück über die ganze Breite des Marktes, aber jetzt mit ganz anderer Wucht, immer höher schwellend und brausend, in wilder Brandung an jedes einzelnen Brust schlagend und ihn in einen Wirbel heftigster Bewegung reißend.

»Was? Bann? Bann um den Rat! Nieder mit dem Rat! Fort mit dem Rat! Absetzen! Absetzen!«

»Hoho! Bann? Bann um die Prälaten? Die Pfaffen? Fort mit den Pfaffen! Aus der Stadt mit den Pfaffen! Jagt sie fort! Hängt sie! Der Rat bleibt!«

»Fort mit dem Rat!«

»Fort mit den Pfaffen!«

So tobte es in furchtbarem Aufruhr durcheinander; Augen blitzten, Adern schwollen, Fäuste drohten.

Da tönte eine schmetternde Fanfare vom Rathause her, daß alles dorthin blickte und sah, wie der Bürgermeister, einen Trompeter neben sich, mit einem weißen Tuche winkte.

Nun glätteten sich die Wogen; gedämpfter, ferner klang das Getöse, zog sich immer mehr nach hinten zurück und verhallte dort in leisem Gemurmel, bis auch dieses endlich verstummte.

Da fing der Bürgermeister Springintgut an zu reden, und diese Stimme kannten sie. Darum verstanden auch drei Viertel der Menge jedes Wort, andere das meiste und auch die letzten wenigstens noch etwas von dem, was er am stärksten betonte. Der Bürgermeister sprach:

»Bürger von Lüneburg! Edle, Ehrenfeste, Liebe, Getreue! Ihr habt vernommen, was euch der hochwürdigste Legat verkündigt hat. Ihr sollt den Rat absetzen oder in den Bann getan werden und habt zwölf Tage Bedenkzeit, wofür ihr euch entscheiden wollt. Wir haben nach unserer höchsten Redlichkeit getan, was wir zu Nutz und Wohlfahrt gemeiner Stadt für recht und gut fanden. An euch ist es nun, zu wählen, ob ihr euren Rat schmählich im Stiche lassen oder ob ihr mit Leib und Leben, mit Ehre und Gut zu ihm stehen wollt in Gedeihen und Verderben. Gehet hin, besinnt euch, beratet euch und haltet euch ruhig bis zur Stunde der Entscheidung. Laßt euch aber von keinem bösen Feind in eurem Wollen und Meinen hindern noch irren. Denket eurer geschworenen Eide und handelt wie Männer, die sich nicht fürchten. Bürger, vertrauet uns! Was wir euch gelobt haben, das wollen wir fest und stete halten, Gott zu Ehren und dem gemeinen Volke zum Nutzen in allen Zeiten.«

Sie hatten ihn schweigend angehört und schwiegen auch, als er geendet hatte. Nur eine Stimme rief ziemlich weit vorn aus der Menge: »Nichts da! Nieder mit –«, das übrige erstickte in einem gurgelnden Ton, denn eine eiserne Faust hatte den Schreier an der Kehle gepackt, und eine andere, ebenso furchtbare, hob sich vor seinen vortretenden Augen: »Hund! Noch einen Muck und ich schlage dich auf der Stelle zu Boden!«

Der Schreier war Dalenborg gewesen, und die beiden Fäuste gehörten dem Schmiedemeister Schuttenhelm.

Es war Mittag geworden, und die Gewohnheit, streng und pünktlich nach der allgemeinen Hausordnung zu leben, war so mächtig unter den Bürgern, daß sich die Menge bald zerstreute. Der Eindruck des eben Erlebten war zu gewaltig, und es war zu rasch über sie gekommen, als daß sie sich schon eine klare Meinung hätten bilden, einen Entschluß hätten fassen können, zumal nach der kurzen, kernigen Ansprache des Bürgermeisters, die durchaus nicht wirkungslos verhallt war. Jeder einzelne fühlte eine Verantwortung, die ihm teils unbehaglich und lästig war, ihm teils aber auch eine gewisse Genugtuung gewährte und ein hohes Selbstgefühl verlieh. Sie hatten es ja lange gewünscht, beim Regiment ihrer Stadt ein Wort mitreden zu können; jetzt ward ihnen dieser Wunsch erfüllt, aber freilich in einer ganz unerwarteten Weise. Wie eine Wetterwolke hing das Verderben über der Stadt Lüneburg, und es war kein Zweifel: ihr Schicksal ruhte jetzt in den Händen der Handwerker; was die Gilden beschlossen, das entschied.


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