Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Siebentes Kapitel

Die Nachmittagsstunden zogen leise wie die Wolken am Himmel durch die Böttcherwerkstatt und ließen sich von der geräuschvollen Tätigkeit weder aufhalten noch zur Eile treiben. Es hatte jede ihre sechzig Minuten, und in jeder Minute kamen soundso viele Schläge vom Beil auf die Tonne, fielen soundsoviel Späne von der Bank auf den Boden.

Meister Gotthard und seine beiden Gesellen, Arnold und Jakob, sowie Lutke, der Lehrling, und der freiwillig mitschaffende Gilbrecht wechselten während der Arbeit nur dann und wann ein paar Worte, bei denen aber keine Hand feiern durfte. Immerhin ging es bei der Böttcherei laut genug her, daß sie alle fünf nicht gleich bemerkten, wie sich die Haustür öffnete und zwei Männer eintraten. Über das scharf gezeichnete, verbissene Gesicht des einen von ihnen, eines langen hageren Mannes in den fünfziger Jahren, flog ein häßliches Frohlocken, und fast auf der Schwelle noch wandte er sich halb zu seinem Begleiter um und sagte leise: »Das ist gut! Er arbeitet mit drei Gesellen und einem Lehrjungen.« Dann gingen sie auf den Meister zu, der sie jetzt erblickte, sich von der Schneidebank erhob und ihnen entgegentrat. Auch die Gesellen stellten die Arbeit ein, und der erste der Eingetretenen sprach: »Gott grüße Euch, Gott weise Euch, Gott lohne Euch, ehrbarer, günstiger Meister, und euch, hübsche Gesellen! Wir kommen, Eure Gelegenheit zu besehen nach Handwerks Gebrauch und Gewohnheit.«

»Seid willkommen wegen des Handwerks!« sagte der Meister.

»Wir wissen wohl«, nahm jetzt der zweite das Wort, »daß es bei dir nicht vonnöten ist, Henneberg, aber du weißt auch, daß wir es tun müssen mit eines hochedlen Rates Vollbord und Befehlich und nach des ehrbaren Amtes Ordnung.«

»Ich weiß«, sagte der Meister, tut eure Pflicht, ihr Herren! Ich hoffe, ihr sollt nichts Wandelbares finden. Zählt und meßt die Großheit und die Kleinigkeit und die Unwissenheit, wo ich gefehlt habe.«

»Ei, lieber Meister, was redet Ihr!« sagte der Lange wieder. »Ihr, der Amtsmeister der ehrbaren Böttchergilde und aller Handwerker leuchtend Vorbild, solltet Wandelbares haben; das ist ja zum Lachen.« Aber das Lachen kam nicht von Herzen, und der Meister gab auch keine Antwort darauf, sondern schüttelte dem zweiten, einem kräftigen, untersetzten Mann, freundlich die Hand und sagte, als er dessen besorgten Blick erst auf Gilbrecht und dann auf ihn selber sah, ruhig lächelnd: »Ist Gilbrecht, mein zweiter, ist eben aus der Fremde gekommen und wirkt aus Langeweile und zu seinem Vergnügen heute hier ein wenig mit, ist aber nicht mein Knecht.« Das Gesicht des anderen heiterte sich auf, und die beiden Männer fingen nun an, mit Visierrute und Kettenmaß ein paar Tonnen auszumessen und das Boden- und Stabholz sowie die Reifenbunde flüchtig zu überzählen. Aber sie taten es nur zum Schein, um der Vorschrift äußerlich zu genügen, denn sie wußten wohl, daß hier alles echt und gerecht und unsträflich war. Es waren die Wardierer, welche die Pflicht hatten, in bestimmten Zeitabschnitten, und zwar unangemeldet und überraschend in den Werkstätten die Gelegenheiten zu besehen und alle Handwerksarbeit genau zu prüfen, zu wägen und zu messen, ob sie genau nach der strengen Handwerksordnung von tadellosem Rohstoff, nach rechtem Maß und Gewicht und in der vorgeschriebenen Art und Weise hergestellt und mit des Meisters Hausmarke gezeichnet war. Sie mußten das Holz, das zu Wasser oder zu Wagen gekommen war, untersuchen, ob es trocken und nicht rissig, von der richtigen Art und von den geschworenen Holzwrackern auf dem Platz hinter dem Kaufhause ausgewählt war. Und wie hier das Holz und die Tonnen, so wurde anderwärts das Gold und Silber, das Kupfer, Leder, Tuch, Korn und so weiter und alle daraus gefertigte Arbeit geprüft in allen Werkstätten jeglichen Gewerbes und bei jedem Meister ohne Ausnahme. Wurde irgendwo ein nicht ganz tadelloser Rohstoff oder eine wandelbare, fehlerhafte Arbeit entdeckt, so wurde der eine wie die andere sofort zerschlagen oder verbrannt. Man ging dabei sehr streng zu Werke, und die Wardierer hatten kein angenehmes Geschäft. In der Regel besorgten es ein oder zwei von den vier geschworenen Älterleuten der betreffenden Handwerksgilde, die unter dem Amtsmeister standen, und daneben ein Abgeordneter des Rates, der ein Buch mit den darin enthaltenen Vorschriften mit sich führte, während die Älterleute die Maße und Gewichte hatten. Hier war es der Altermann der Böttchergilde Meister Ditmar Evers und als Abgeordneter des Rates ein gewisser Heinrich Sengstake, eben jener Lange, Hagere mit dem blassen Gesicht, ein Mensch von bedeutenden Fähigkeiten und Kenntnissen, aber etwas zweifelhafter Vergangenheit. Er war früher Stadtschreiber gewesen, hatte sich aber ein Vergehen oder vielleicht gar ein Verbrechen zuschulden kommen lassen, über das man zwar den Schleier des Geheimnisses und der Vergessenheit zu decken suchte, das aber doch schlimm genug gewesen sein mußte, um den sehr geschickten Mann seines Amtes zu entsetzen. Daß der Rat ihm trotzdem wieder eine Anstellung gegeben hatte, legte man in der Bürgerschaft dahin aus, daß Heinrich Sengstake ein zu kluger und, in des Wortes dehnbarstem Sinne, sehr brauchbarer Geselle war, den der Rat schon darum nicht ganz fallen lassen durfte, weil er zu viel Dinge wußte, die dieser nicht gern an die große Glocke gehängt haben mochte. Beliebt war er nirgends und galt allgemein für einen gefährlichen Menschen voll Ehrgeiz und Habgier.

Das Geschäft der Wardierer war schnell beendet, und die beiden wollten wieder abgehen, als Meister Gotthard sagte. »Wollt ihr nicht eintreten, liebe Herren, und euch mit einer kleinen Verehrung zu Hilfe kommen lassen?«

Es war Brauch, sich gegen die Älterleute mit einer kleinen Verehrung, einem Trunk oder leichtem Imbiß gutwillig zu zeigen; sie lehnten es aber beide dankend ab, und Altermann Evers nahm die Tür in die Hand. Sengstake dagegen sagte zu Meister Gotthards großer Verwunderung. »Wenns Euch nicht ungelegen ist, lieber Meister Gotthard, so trete ich einen Augenblick bei Euch ein, um noch ein vertraulich Wörtlein mit Euch zu reden.«

Der Altermann ging weg, und Meister Gotthard führte Sengstake in die Wohnstube, wo sich Frau und Tochter befanden und den hier noch nie gesehenen Gast höflich, aber etwas erstaunt begrüßten. »Ei, sieh da!« sagte Sengstake. »Die ehr- und tugendsam Hausfrau und ihr schönes Töchterlein! Meinen dienstwilligen, ganz freundlichen Gruß, großgünstige Frau Meisterin und holde Jungfrau Ilsabe! Ist das ein Bild: die Tochter, der Mutter wie aus den Augen geschnitten, und die Mutter nur die ältere Schwester ihrer eigenen Tochter scheinend. Daß mir die Heiligen helfen mögen! So etwas hab' ich noch nie gesehen. Das Geschlecht Henneberg blüht wie kein zweites in der Stadt, Männer wie die Eichen und Frauen wie die Rosen!« Er hatte die Wahrheit gesprochen, und die beiden Frauen fühlten sich durchaus nicht gekränkt dadurch, aber Meister Gotthard wußte, was er davon zu halten hatte, und lud den Gast zum Sitzen ein, Frau und Tochter einen Wink gebend, daß sie sich aus dem Zimmer entfernten. »Verschmäht Ihr wirklich einen Trunk, Herr Sengstake?« fragte er noch einmal, ehe sich die Tür hinter Ilsabe geschlossen hatte.

»Ich danke Euch vielmals, Meister Gotthard!« sagte Sengstake, »ich bin nur hiergeblieben, um das Urteil des Mannes zu hören, dessen Wort in der Bürgerschaft mehr gilt als das jedes anderen.«

»Laßt solche Reden«, sagte der Meister, »ich bin ein Handwerksmeister wie die anderen auch.«

»Nein, nicht wie die anderen«, sprach Sengstake, »und eben darum tut es mir leid, daß gerade Euer lieber Sohn Gilbrecht unserer guten Stadt eine so schlimme Botschaft heimbringen mußte.«

»Nennt Ihr das Obsiegen des Rates in dem alten Streite eine schlimme Botschaft?« fragte der Meister streng.

»Meister Gotthard!« lächelte Sengstake, »laßt uns doch offen gegeneinander sein und habt Vertrauen zu mir; ich weiß so viel wie Ihr, vielleicht auch noch ein wenig mehr.«

»Dann weiß ich überhaupt nichts.«

»Meister, aus Eurem Munde kommt keine Unwahrheit, und doch sprecht Ihr vom Obsiegen des Rates. Hat Euch Euer guter Freund Herr Heinrich Viskule wirklich nicht in den wahren Stand der Dinge eingeweiht?«

»Ich habe Viskule seit meines Sohnes Heimkehr noch nicht gesprochen, und hätt' ich's auch, des Rates Heimlichkeit darf niemand austragen. Ich wiederhole Euch: ich weiß nichts, als was die ganze Stadt weiß.«

»So will ich's Euch sagen, Meister, daß die ganze Stadt belogen ist, belogen von Bürgermeister und Rat.«

Der Meister wollte auffahren, aber Sengstake stand schon vor ihm, hielt ihm am Arm und drückte ihn auf seinem Stuhl nieder, indem er fortfuhr: »Der Rat ist vom Reichskammergericht sonder Gnade verurteilt, sich an einem Viertel der Sülzeinkünfte genügen zu lassen und das andere schon mit eingezogene Viertel den Prälaten ohne Weigerung und Verzug herauszuzahlen. Ist das in kurzer Frist nicht geschehen, so trifft unsere Stadt des Kaisers Acht und das Papstes Bann.«

Jetzt sprang der Meister doch auf und rief zornrot: »Ihr sollt mir Rede stehen für diese freventlich vermessenen Worte, Herr Heinrich Sengstake!«

»Das will ich!« sagte der ruhig und bestimmt. »Ich glaube, es wäre gefährlich, dem Meister Gotthard Henneberg mit solchen Lügen zu kommen.«

»Das wär' es!« sagte der Meister mit drohendem Blick. »Und doch«, fuhr er fort, »Ihr irrt Euch, Ihr seid selber belogen, es ist ja nicht möglich.«

»So geht hin zum Ratsherrn Heinrich Viskule, der weiß es und lügt auch nicht; fragt ihn aufs Gewissen, und wenn ich Euch ein einzig Wort zu viel gesagt habe, so kennt mich nicht mehr.«

Der Meister ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und wiederholte: »Das ist ja nicht möglich, es ist ja nicht möglich!« Dann blieb er am Tisch stehen und sagte: »Und das verschweigt der Rat und läßt aussprengen, er habe gesiegt und läßt vor Freuden Arbeit und Aufträge an die Ämter verteilen?«

»Ja, das tut der hochedle Rat«, sprach Sengstake kurz und spöttisch.

»Gebt mir Beweise, sonst glaub' ich's nicht!«

»Fragt Viskule, wenn er's Euch sagen will. Außer dem Rate wissen es noch fünf Menschen in der Stadt, und von der ganzen Bürgerschaft seid Ihr der erste, der es erfährt.«

»Wozu das Geheimnis?«

»Es ist nicht meins und nicht der Fünfe, die es nun wissen. Auch Ihr müßt verschweigen, wie Ihr's erfahren habt; aber jetzt, Meister, was gedenkt Ihr zu tun?« fragte Sengstake lauernd.

»Ich? Was ich zu tun gedenke? Nun, dem Rate meine Meinung sagen, wenn er sie hören will, über das verdammte Lügen, im übrigen aber mit Leib und Leben, mit Ehr und Gut zu ihm stehen in Gedeihen und Verderben«, sprach Meister Gotthard mit fester Stimme.

»So, so!« machte Sengstake, »das hätt' ich nicht gedacht.«

»Dann habt Ihr Euch in mir geirrt«, sagte der Meister.

»Acht und Bann über die Stadt!« betonte Sengstake.

»Ich werde mit dem Rat und den Bürgern tragen, was Gott der Allmächtige über uns verhängt, und halte meine geschworenen Eide.«

»Und wenn der Rat die Stadt ins Unglück bringt? Die Stadt verrät?«

»Wenn das geschehen, so kommt zu mir und sagt es mir und beweist es mir, dann will ich der erste sein, der die Sturmglocke zieht.«

»Seid Ihr denn mit dem Rate so sehr zufrieden, Meister Gotthard Henneberg?«

»Nein, er tut manches, was mir nicht gefällt, aber solange er die Freiheit und Gerechtsame der Stadt aufrecht hält, solange steh' ich zu ihm mit Gut und Blut.«

»Welcher Lüneburger wollte nicht die Freiheit seiner Stadt gewahrt wissen? Aber das kann geschehen, auch ohne daß die Stadt in so große Schulden gestürzt wird.«

»Die Schulden sind, Gott sei's geklagt, einmal da und müssen getilgt werden.«

»Aber nicht mit unrecht Gut und Kirchenraub. Ja, Kirchenräuber wird der Rat in des Papstes Bulle genannt, die uns mit dem Banne bedroht.«

»Ihr wißt ja sehr genau Bescheid, Herr Sengstake!«

Der Kluge war in diesem Augenblick nicht klug gewesen, hatte sich in der eifrigen Verfolgung seiner heimlichen Pläne hinreißen lassen, mehr zu sagen, als er sagen wollte, und konnte das Wort nun nicht zurücknehmen. »Nun ja«, sprach er, ohne auf diese Bemerkung des Meisters näher einzugehen, »der Rat vergreift sich an dem wohlerworbenen Eigentum von Klöstern und geistlichen Stiften, die unter dem Schutze der Kirche stehen.«

»Ihr seid wohl ein großer Freund der Prälaten, Herr Sengstake?«

»Ich bin ein Freund der Stadt, wie Ihr es seid«, antwortete ausweichend Sengstake, dem diese schnurgerade Frage sehr ungelegen kam, und um von einer näheren Erörterung abzulenken, fuhr er schnell fort: »Meint Ihr, ich wollte die Stadt ohne Regiment des Rates wissen? Beileibe nicht! Aber muß es denn gerade dieser Rat sein? Seit hundert Jahren und länger sind die Stühle in denselben Geschlechtern erblich, seit hundert Jahren haben Eure Väter danach getrachtet, den Ämtern, den Handwerksmeistern Sitz und Stimme im Rate zu verschaffen, an dem Regimente teilzuhaben, über das Geld mit verfügen zu können, das sie selber mit ihrer Hände Arbeit aufbringen müssen, und auch für Recht, Förderung und Gedeihen des gemeinen Bürgers sorgen zu können, woran der Rat nicht denkt. Denn allen billigen Forderungen, allen vielfältigen, fleißigen Bitten stellt sich der Stolz und Hochmut der reichen Geschlechter wie ein Damm entgegen! Das hängt und hakt zusammen wie ein Sack alter, verrosteter Nägel.«

»Was wollt Ihr; das ist ein altes Herkommen, an dem wir zu Nutzen und Wohlfahrt gemeiner Stadt nicht rütteln dürfen. Die Ämter könnten die Freiheit der Stadt nicht besser bewahren, als es die Geschlechter getan haben.«

»Dann begrabt Eure Freiheit, wenn Ihr sie nicht einmal selber bewachen wollt! Sind denn Freiheit und Gerechtsame nur auf die Namen Springintgut, Töbing, Dassel, Brömbse und so weiter eingeschrieben? Würden sich im Ratsdenkelbuche und unter den Briefen der Stadt die Namen Rokswale, Dörgerloh, Schnewerding und allen voran Gotthard Henneberg nicht ebensogut ausnehmen?«

»Ihr habt noch einen Namen vergessen«, lächelte der Meister, »auf den es Euch doch wohl am meisten ankommt – Heinrich Sengstake.«

»Wenn ihr mich ruft, so werde ich jeden Platz im Rat ausfüllen, den ihr mir anweiset.«

»Auch den obersten?«

»Auch den obersten; warum nicht? Ihr sollt mit mir zufrieden sein, Meister Gotthard!« sagte Sengstake mit einem beredten Blick und einer eigentümlichen Betonung.

»Davor mag uns der Himmel in Gnaden bewahren!« fuhr der Meister heraus.

»Wie meint Ihr das, Meister Henneberg?« fragte Sengstake grimmig und sprang vom Stuhl auf.

»Wie ich's gesagt habe, Herr Sengstake!« sprach der Meister, erhob sich ebenfalls mit der ganzen Wucht und Größe seiner hünenhaften Gestalt und blickte dem anderen fest in die Augen. »Ihr an der Spitze der Stadt, und unsere Freiheiten und Gerechtsame flögen nach Wien und Celle um dreißig Silberlinge.«

Das war eine bittere Pille, an der Sengstake zu schlucken und zu würgen hatte. »Meister, seht nach Euren Worten!« rief er in erstickter Wut.

»Seht Ihr nach Euren Taten! Eure Pläne kenn' ich jetzt«, sprach der Meister. »Unlust und Zwietracht säet Ihr in unseren Mauern und wollt den guten, treuen Sinn gemeiner Bürgerschaft aufwühlen, um dann im trüben zu fischen, worauf Ihr Euch so gut versteht. Kommt es aber zum Aufruhr, den Ihr schürt und hetzt, dann hütet Euch davor, daß wir uns Mann gegen Mann begegnen!«

Sengstake biß die Zähne zusammen und zischte mit giftigem Blick: »Wir sehen uns wieder – Herr Sülfmeister!« Dann ging er zur Tür.

»Verlange nicht danach!« sprach der Meister und folgte ihm.

Auf der Diele sagte Sengstake: »Amtsmeister seid Ihr am längsten gewesen, denn Ihr arbeitet hier mit drei Knechten, wie ich sehe, und –«

»Mein Sohn Gilbrecht ist nicht mein Knecht«, sprach der Meister.

»Und wenn ein Amtsmeister ein so übles Beispiel gegen die Ordnung gibt, so ist er –« fuhr Sengstake mit erhöhter Stimme fort.

»Hier sind keine drei Knechte«, unterbrach ihn der Meister noch lauter.

»So ist er nicht wert –« schrie Sengstake.

»Jungens, schlagt drauf!« rief der Meister.

Mit einem Satz war Gilbrecht an seines Vaters Seite und hob die Faust zum Schlage. Der Meister wehrte ihm aber und lachte: »Nein, so meine ich's nicht, klappern sollt ihr!«

»Ihr habt mich in Pflicht und Amt mit schmählichen Worten –«

Aber jetzt fingen die vier jungen Böttcher in der Werkstatt an, mit Treiber und Beil aus Leibeskräften auf die Tonnen loszuschlagen, daß Sengstakes Worte in dem betäubenden Lärm völlig verhallten. Sie sahen nur, wie er die Lippen bewegte, die Augen rollte und mit den Händen focht und drohte, aber zu hören war nichts von ihm. Er eilte wütend aus dem Hause, gefolgt von höhnischem Gelächter.

Meister Gotthard legte sein Schurzfell ab und verließ das Haus, ohne einem der Seinen ein Wort zu sagen. Er ging aus dem Bardowicker Tor hinaus in die Heide, um in ihrer tiefen Ruhe seine eigene wiederzugewinnen.

Die Sonne neigte sich herab und sandte hinter einem vielgestaltigen, von Feuersglut durchbrochenen, goldumsäumten Gewölk hohe Strahlenbäume hervor, die den abendlichen Himmel fächerartig überspannten. Die Luft war rein und klar; ein eigentümlicher Glanz lag über der Heide, und schon war sie anders gefärbt, als wie Gilbrecht sie zuerst wiedersah. An dem alles bedeckenden Heidekraut war ein frisches Grün erwacht und verlieh dem bräunlichen Grundton etwas Belebendes, Verjüngendes, fügte dem schweigsamen Ernst etwas Erfreuliches, Frühlingsberedtes hinzu, als sollte die Heide für den Mangel aller den Blick fesselnden Formen durch ein desto reicheres Spiel kräftiger Farben entschädigt werden, die mit ihrer tiefen Sättigung mehr zum Gemüt als zu den Sinnen des Wanderers sprachen.

Auch auf den starkherzigen Mann, der mit weiten Schritten in ihre Einsamkeit hinausströmte, übte sie ihre wohltuende Wirkung, besänftigte seinen Groll, klärte seine Gedanken.

Der Zank mit Sengstake hatte ihn nicht so erregt wie die überraschende Mitteilung, die ihm dieser gemacht hatte, und an deren Wahrheit er leider nicht zweifeln konnte, denn Sengstake schien sehr genau unterrichtet zu sein. Daß der Rat über den Stand seines großen Geldstreites ein falsches Gerücht in der Stadt verbreiten ließ, konnte Meister Gotthard keineswegs gutheißen, aber er sah diese Maßregel jetzt schon mit anderen Augen an. Er sagte sich, daß der Rat seine Gründe dafür haben müßte und die drohende Gefahr vielleicht in der Hoffnung verschwiegen hätte, das Unheil von der Stadt noch abwenden zu können, ohne die Bürgerschaft vorzeitig zu beunruhigen und um nicht durch eine Erhitzung der Gemüter und einen entbrennenden Streit der Meinungen sein Handeln beeinflussen zu lassen.

Im Rate saßen stolze, hochmütige Männer, aber ungeschickt und dumm waren sie nicht, und nicht einer unter ihnen war, den man für bestechlich und verräterisch halten durfte. Darum bewahrte Meister Gotthard ihnen ein festes Vertrauen in der Handhabung der Angelegenheit, und zwar um so mehr, als er einsah, daß die Ratsherren, sämtlich an liegender und fahrender Habe reich, ihre eigene Haut so gut zu Markte trugen wie die übrigen Bürger der Stadt und dabei mehr wagten, weil sie mehr zu verlieren hatten. Er hätte die Verurteilung des Rates am liebsten ebenso geheimgehalten, wenn sein Schweigen bei der Mitwisserschaft Sengstakes und seiner Genossen von Nutzen und Erfolg gewesen wäre. Die fünf Eingeweihten aber, von denen Sengstake sprach, konnte er sich an den Fingern seiner Hand herzählen und wußte, wessen er sich von denen zu versehen hatte. Aufwiegelung und Verhetzung der Bürgerschaft zugunsten der Prälaten würde – daran zweifelte er keinen Augenblick – ihr erst im geheimen und demnächst offen betriebenes Geschäft sein mit keinem geringeren Ziel, als den Rat zu stürzen und sich selber auf seine Stühle zu setzen. Da er aber die Feinde des Rates in ihrem gefährlichen Treiben nicht hindern konnte, so beschloß er, abzuwarten, was von seiten des Rates und von dessen Gegnern in nächster Zeit unternommen werden würde.

Einigermaßen beruhigt kehrte er in die Stadt zurück, und als er durch das Tor schritt, gelobte er sich noch einmal, beim Rate treu auszuhalten; denn in ihm erblickte er die Verkörperung und Vertretung der Freiheit und Unabhängigkeit seiner Stadt. Darum fragte er nicht einmal danach, ob der Rat im Recht oder im Unrecht war.

Als der Meister nach Hause kam, hatten die Seinigen mit dem Abendessen schon auf ihn gewartet, denn er war in seinen Grübeleien unbewußt so weit in die Heide hinausgegangen, daß er nicht zur rechten Zeit wieder zurück sein konnte. Dies war ihm peinlich, besonders weil er zu Hause einen Gast vorfand, der nun Zeuge seiner Unpünktlichkeit war, nämlich Timotheus Schneck. Dieser Besuch war dem Meister überhaupt nicht angenehm, denn der Schuster hatte von vornherein keinen guten Eindruck auf ihn gemacht, er hatte in seinem Wesen etwas Freches, was einem Knechte, zumal einem fremd eingewanderten nicht zustand, und wovon der Meister einen ungünstigen Einfluß auf seine Söhne fürchtete. Gleichwohl wurde Timmo, der sein Abendbrot bereits zu Hause genossen hatte, gastfreundlich aufgefordert, am Tisch mit Platz zu nehmen und einen Krug Bier zu trinken, was er sich nicht zweimal sagen ließ.

Der Meister hing noch immer seinen Gedanken nach, war wortkarg und wenig froh gestimmt. Gilbrecht und Ilsabe waren stillvergnügt in seliger Erinnerung des heute Erlebten beim Abziehen des Malvasiers; unwillkürlich trafen sich öfter ihre Blicke, dann glitt über Gilbrechts Gesicht ein glückliches Lächeln, und in Ilsabes Wangen stieg ein höheres Rot. Nur Arnold versuchte mit Timmo ein Gespräch zu führen, und die Unterhaltung am Tisch schleppte sich dahin, bis endlich Frau Johanna die Bemerkung nicht länger unterdrücken konnte: »Ich habe von deinem Streit mit Sengstake wenig verstanden, Gotthard, aber ich fürchte, du hast dir heut einen bösen Feind gemacht.«

»Soll ich mir den etwa zum Freunde machen?« entgegnete der Meister etwas unwirsch. »Der ist mir als Feind doch noch lieber.«

»Was hat's denn zwischen euch gegeben? Wenn man's wissen darf«, fragte die Meisterin.

»Morgen werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen«, antwortete der Meister, »also könnt ihr's auch heute schon erfahren. Das Gerücht vom Obsiegen des Rates war ein Irrtum; er ist verurteilt worden, die Hälfte des eingezogenen Geldes den Prälaten zurückzuzahlen.«

Timmo spitzte die Ohren.

»Aber das wird er doch nicht tun?« sprach die Meisterin. »Ich glaub' es auch nicht, aber dann haben wir Schlimmes zu gewärtigen. Ihr beiden, Gilbrecht und Timmo, habt die trübe Botschaft zuerst nach Lüneburg gebracht, kein feiner Ruhm für euch!«

»Daß es keine gute war, ließ mich der Herr Bürgermeister schon bei der Übergabe merken«, sagte Gilbrecht.

»Der scheint dich schlecht genug behandelt zu haben«, meinte Timmo, »wie kannst du dir das gefallen lassen!«

»Er ist unser erster worthabender Bürgermeister«, sagte Gilbrecht bescheiden.

»Bürgermeister hin, Bürgermeister her! Ist auch nicht aus anderem Teig geknetet als unsereins. Ich lasse mir von keinem Menschen etwas bieten, was ich nicht nötig habe«, sprach Timmo.

»Da hast du ganz recht, Timmo; das sag' ich auch«, stimmte ihm Arnold zu.

»Mit einem Schusterknecht wie du würde er sehr wenig Umstände machen, wenn er deine losen Reden hörte«, versetzte der Meister sehr ernst und mit einem mißbilligenden Blick auf Arnold.

»Er steht auch unter Recht und Ordnung so gut wie jeder andere Mensch.«

In Meister Gotthard kochte es, aber er hielt an sich und sagte bloß: »Was du wohl davon verstehst!«

»So viel doch, Meister«, erwiderte Timmo, »daß ich mich von keinem Menschen schlecht behandeln lasse, und wenn er sonst was wäre!«

»Das wollte ich dir auch sehr verdenken«, sprach Arnold dazwischen, »ich tu's auch nicht.«

»Nicht wahr? Jeder ist sich selbst der Nächste, und wo ich in meinem Rechte war, hab' ich auch immer noch Mittel gewußt, meinen Willen durchzusetzen.«

»Der Rat wird auch wohl ohne dich nicht in Verlegenheit kommen, seinen Willen durchzusetzen«, bemerkte der Meister mit festem Ton.

»Zunächst hat er die Stadt bis über den höchsten Kirchturm in Schulden gestürzt, und so gut wie die Stadt den Rat eingesetzt hat, kann sie ihn auch wieder –«

»Schweig still!« brauste jetzt der Meister auf. »An meinem Tisch duld' ich solche Reden nicht!«

Timmo wollte immer noch etwas erwidern, doch Meister Gotthards drohende Haltung ließ es ihm geratener scheinen zu schweigen. Nach Tisch versuchte er sich Ilsabe zu nähern und ihr einige, wie er glaubte, sehr witzige Schmeicheleien zu sagen; aber er wurde kurz von ihr abgefertigt, so daß er sich bald entfernte. Arnold ging mit ihm. Als er fort war, sagte der Meister zu Gilbrecht: »Bringe mir den frechen Gesellen nicht wieder ins Haus! Ich mag seine vermessenen Reden nicht anhören. Das mag sich auch Arnold hinters Ohr schreiben!«

»Der Schuster ist nicht so böse, Vater«, besänftigte Gilbrecht, »er liebt es nur, etwas zu prahlen, und das wollen wir ihm schon noch abgewöhnen. Übrigens kommt er auch wohl nicht gerade meinetwegen zu uns.« Und dabei sah er neckisch seine schöne Schwester an.

Ilsabe lachte hell auf: »Doch nicht etwa meinetwegen, Gilbrecht? Wenn du das glaubst, so will ich ihm auch das Wiederkommen in einer Weise abgewöhnen, daß er den Rücken kehren und weite Sprünge machen soll. Traust du mir das zu?«

»O ja!« sagte Gilbrecht, und die Geschwister warfen sich einen fröhlichen Blick zu, den sie beide verstanden.


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