Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Zweites Kapitel

Ein edler ehrenfester Rat zu Lüneburg verlebte schwere Tage, und es wurden Stimmen in ihm laut, die von Abdankung sprachen. Die Herren sahen ein, daß sie, wenn sie ihre Stühle nicht freiwillig räumten, mit Gewalt davon vertrieben werden würden, denn anderenfalls war der Bann unvermeidlich, und den würde die Bürgerschaft nicht lange tragen, sondern dann doch zu dem einzigen Mittel, sich davon zu lösen, das heißt zur Absetzung des Rates schreiten. Auf der anderen Seite sagten sich die Herren, daß auch ihre Nachfolger, wer immer sie sein mochten, aus der tiefen Klemme, in der sie selber saßen, nicht heraus konnten. Die Schulden der Stadt waren zu groß und ließen sich nur durch eine so hohe Steuer, wie der Rat auf das reiche Einkommen der Sülzbegüterten gelegt hatte, allmählich tilgen; wo sollte man sonst das Geld dazu hernehmen, wenn man nicht etwa die teuer erkauften Freiheiten und Gerechtsame der Stadt preisgeben wollte. Zu einem solchen Schritt würde sich aber der jetzt im Eide sitzende Rat immer entschließen. Der Bürgermeister Springintgut, der als Haupt des Rates und der Stadt die verantwortlichste und somit gefahrvollste Stellung hatte, war fest entschlossen, unter allen Umständen bis zum letzten Ende auf seinem Posten auszuharren und flößte damit auch denjenigen Ratsherren, die angefangen hatten, bedenklich zu werden, Standhaftigkeit und Mut ein.

Heinrich Viskule, von rechtem Bürgersinn und Liebe zu seiner Stadt beseelt, erbot sich, zur Tilgung der Schulden eine sehr beträchtliche Summe aus seinen Mitteln zu geben, wenn sich auch die anderen Geschlechterfamilien je nach ihrem Vermögen zu einer gleichen Selbstschätzung bereit erklärten. Allein sein edelmütiges Anerbieten fand sehr geringen Anklang; man war durchaus nicht geneigt, den eigenen Geldbeutel zu öffnen, nur um den der Prälaten zu schonen. Aus dem Boden Lüneburgs, hieß es, quelle der Reichtum der geistlichen Herren, also könnten sie billig zur Rettung der Stadt aus Schuldennot einen Teil davon zurückerstatten und behielten dann immer noch genug für sich. So dachten übrigens nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Mehrzahl der Bürger und Handwerker, die von dem hochherzigen Vorhaben Viskules Kunde erhielten und ihm seine große Opferwilligkeit nicht vergaßen.

Unter der hohen Geistlichkeit der Stadt waren einige wohldenkende, friedlich gesinnte Männer, die mit den Geschlechtern in freundlichem Verkehr standen; so der Abt Ludolf von Hitzacker und der Propst Leonhard Lange. Diese suchten zwischen dem Bürgermeister und dem päpstlichen Legaten zu vermitteln und erbaten von letzterem wenigstens Aufschub des angedrohten Bannes. Da sie aber bestimmte Vorschläge, die beide Teile befriedigt hätten, nicht machen konnten, so richteten sie beim Bürgermeister so wenig etwas aus wie beim Legaten, der sich mit dem Befehl seines höchsten Herrn, des Papstes, deckte. Dabei kam es aber zutage, daß die heftigsten Kläger, die unerbittlichsten Verfolger des Rates, die Domherren zu Lübeck waren, die allerdings einen sehr bedeutenden Anteil an der Lüneburger Sülze besaßen. Daß man gerade in Lübeck, der Hauptstadt der Hansa, mit der Lüneburg im lebhaftesten Handelsverkehr stand, so grimmige Feinde hatte, war man sich nicht vermutet, und dieser Umstand ließ bei der Macht und dem Einfluß des Lübecker Domkapitels das Schlimmste in bezug auf eine Verhansung Lüneburgs befürchten. Neben dem Lübecker waren die schärfsten Gegner des Rates die Domkapitel zu Hamburg, Verden und Braunschweig und die Klöster Riddagshausen, Eutin, Reinfelde, Ramelsloh, Hiddensee, Harsefeld, Dobberan, Michaelstein und Walkenried, die noch eine große Zahl anderer Klöster und Stifter hinter sich hatten. Auch der herzogliche Vogt in Lüneburg, Herr Johann Niebuhr, übrigens nichts weniger als ein Freund des Rates, machte dem Bürgermeister, angeblich im Auftrage des Herzogs, Vorschläge und Andeutungen, wie die Unterstützung des Landesherrn zu gewinnen sei. Allein gerade diese Unterstützung und Vermittlung war dem Bürgermeister am ungelegensten und verdächtigsten, und da sie nur auf die Veräußerung von Freiheiten und Besitztümern der Stadt hinausliefen, so wies er sie schroff zurück.

Die nächst große Verantwortlichkeit nach der des Bürgermeisters lag auf den breiten Schultern Gotthard Hennebergs. Sein Haus wurde fast nicht leer von Besuchern, die alle kamen, seine Meinung zu hören, und die er mit der bestimmten Erklärung abfertigte: »Ich stehe in allen Stücken zum Rat, mag kommen, was will, und wer kein eidbrüchiger Verräter sein will, der macht es ebenso.« Mit den Amtsmeistern der anderen Gilden hatte er lange Beratungen, und wer von ihnen nicht zu ihm kam, zu dem ging er. Etliche standen ihm redlich bei zugunsten des Rates, mit anderen gab es harten Kampf, ohne daß eine Einigung erfolgte. Mit Hesterwegen, Vogelsang, Regenstörp und Dörgerloh, den Amtsmeistern der großen Gilden der Schuster, Schneider, Knochenhauer und Bäcker, war wenig anzufangen, sie waren mehr gegen den Rat als für ihn, und wollten abwarten, was ihre Werkbrüder beschließen würden; einer steckte sich gern hinter den anderen. Der Brauer Rokswale wollte nicht recht mit der Sprache heraus; eigentlich stand er auf seiten des Rates, aber – er mochte gar zu gern selber Ratsherr werden. Die meisten Handwerker schwankten hin und her, und immer schien ihnen derjenige recht zu haben, der ihnen gerade seine Meinung auseinandersetzte und sie zum Anschluß aufforderte. Alle brannten auf Abhaltung von Morgensprachen, die Meister Gotthard aber sämtlich bis kurz vor Ablauf der Entscheidungsfrist verschoben haben wollte. Er hoffte im stillen, daß bis dahin der gute, treue Sinn sich in der Bürgerschaft noch befestigen würde, und wenn die Morgensprachen alle zu gleicher Stunde stattfanden, so konnte das böse Beispiel einer oder einiger abtrünniger Gilden nicht ansteckend wirken.

Damit drang er auch endlich durch. Nur einer ließ sich zu dem Aufschub nicht bewegen, und dieser eine war Gotthards alter, lieber Freund Hans Laffert, der Amtsmeister der Goldschmiede. Er war der Meinung, daß die Morgensprachen der unzuverlässigen Gilden allerdings so weit wie möglich hinausgeschoben werden müßten, um ihre Meister noch zugunsten des Rates bearbeiten und bekehren zu können, aber die sicheren und ratstreuen, wie die Goldschmiedegilde eine war, müßten durch ihre sofortige Abstimmung den anderen mit gutem Beispiel vorangehen und dem Rate sowohl wie dem Legaten so schnell wie möglich beweisen, daß ersterer keineswegs einsam und von der Bürgerschaft verlassen dastünde. So hielt er denn schon wenige Tage nach der Aufforderung des Legaten an die Bürgerschaft Morgensprache ab und lud auch seinen Wetteherrn im Rate pflichtschuldigst dazu ein. Dieser erschien begreiflicherweise nicht, aber Hans Laffert hatte die Freude, daß sämtliche Kumpane seiner Gilde sich für den Rat entschieden. »Die Goldschmiede! Natürlich!« höhnten ihre Gegner. »Wie sollten die wohl anders stimmen, die fortwährend Aufträge für des Rates Silberzeug haben und kaum soviel Gold und Geschmeide liefern können, wie ihnen die reichen Geschlechter abkaufen und bestellen, die haben gut ratstreu sein!«

Rühriger aber als die Freunde des Rates waren seine Feinde. Abschriften der päpstlichen Bulle, die der Legat von der Laube herab verlesen hatte, waren an allen Kirchentüren angeschlagen, und immer war ein Geistlicher oder ein Mönch bei der Hand, sie den des Lesens Unkundigen zu vermitteln. Zum Schluß knüpften sie dann stets Bemerkungen daran, wie: »Nun wißt ihr doch wohl, was ihr zu tun habt – Die Wahl wird euch wohl nicht schwer werden. – Ihr werdet doch des Rates wegen nicht den Bann auf euch nehmen, euch nicht aus der Christenheit ausstoßen und der ewigen Seligkeit berauben lassen wollen« und so weiter. Das verfehlte seine Wirkung nie. Kam zufällig einmal ein Anhänger des Rates dazu, so verbot er dem Hetzer wohl den Mund, aber dann gab es einen mehr oder minder heftigen Wortwechsel, der hier und da selbst in Tätlichkeiten ausartete. Ein gruseliges Ding ward die Bulle genannt und ein Bann, so schwer, wie er selbst über Heiden und Juden niemals verhängt wäre.

Dalenborg und Sengstake waren von früh bis spät auf den Beinen, tagsüber in den Werkstätten herum, abends in den Trinkstuben. Schritt vor Schritt suchten sie das Feld zu erobern; mit den ihnen ganz sicheren Handwerksmeistern fingen sie an, gingen dann zu den noch Schwankenden über und so immer weiter, immer weiter, sich endlich auch an die gern Ratstreuen heranwagend mit allen Künsten und Listen schmeichelnder Überredung und unablässig bohrender Maulwurfsarbeit. »Wir hatten die Sache schon so hübsch im Zuge«, sagten sie zu den Meistern, »hatten die Gesellen schon auf unserer Seite, ihr hättet euch nur zum Schein auf Verhandlungen mit ihnen einzulassen brauchen, so hätten wir sie alle am Schnürchen gehabt, und zu welchem Zweck, das brauchen wir euch doch wohl nicht erst auseinanderzusetzen. Wäre nur der großmäulige Böttcher nicht dazwischen gekommen, so hättet ihr jetzt tausend und aber tausend gesunde Fäuste hinter euch, alle bereit, mit euch gegen den Rat zu ziehen. Wir beide haben es nun allein büßen müssen, was wir für euch, und nur für euch im Werke hatten.« Zu den Gesellen aber sagten sie: »Seht ihr's denn nun ein, daß wir's gut mit euch meinten! Jetzt könntet ihr bei den Meistern alles durchdrücken, was ihr wolltet, weil sie euch brauchen, euch gar nicht entbehren können. Nun seid gescheit und helft ihnen jetzt gegen den Rat, und daß sie es euch nachher danken werden, danken und lohnen, dafür laßt nur uns sorgen. Also nicht wahr? Es bleibt bei der Absprache, ihr geht mit uns, und wenn's zum Klappen kommt, so zählen wir auf euch, es soll euch nicht gereuen!«

Wie sie unter den Meistern immer mehr Gefolgschaft gewannen, so sagten ihnen auch viele Handwerksknechte ihren Beistand wieder zu, und außerdem hatten sie jetzt noch einen sehr wertvollen Helfershelfer in Ulrich Schupper, dem Bruder des Propstes von Lüne. Dieser besaß weder die rücksichtslose Tatkraft Dalenborgs noch die abgefeimte Schlauheit Sengstakes, aber dafür hatte er etwas Gewandteres und Gewinnenderes in seinem Wesen und ein ebenso bodenloses Gewissen. Als des Propstes Bruder war er stets von den Plänen und Maßnahmen der Prälaten gegen den Rat aufs beste unterrichtet, und da er früher schon einmal, weil aus einer einst angesehenen Familie stammend, im Rate gesessen, sich aber mit den übrigen Ratsmitgliedern nicht vertragen hatte, so glaubte er nicht mit Unrecht, die größte Anwartschaft auf einen der bald erledigten Ratsstühle zu haben. Er hatte sich bisher mehr im Hintergrunde gehalten, trat aber jetzt mit seiner Ratsfeindschaft offen hervor, um sich den Bürgern zu zeigen und als ein in den Rat zu Berufender zu empfehlen. Darum hetzte und handelte er nun so keck und verwegen wie die beiden anderen und fand dabei mehr Vertrauen unter den Bürgern als jene. Dem Amtsmeister der Mültergilde, Rokswale, schmeichelte er als dem Haupte des ersten und größten Amtes in Lüneburg mit der unfehlbar sicheren Aussicht auf einen Sitz im neuen Rate und stachelte ihn auf, sich doch nicht von Henneberg ins Schlepptau nehmen zu lassen, sondern selbständig zu handeln. Mit ähnlichen Vorstellungen machte er sich auch an die anderen Amtsmeister und pries überall seinen Freund Dalenborg als den einzig möglichen Retter der Stadt, von dem alles Heil der Zukunft zu erwarten wäre, wenn er an die Spitze der Verwaltung käme. Dalenborg lohnte ihm das mit demselben Dienst. Es war zwischen beiden abgekartetes Spiel; einer hob und schob den anderen, damit sie beide emporkämen.

Meister Gotthard rang trotz seines entschlossenen Mutes im stillen mit schweren Sorgen, was ihm die Seinigen wohl anmerkten. Sie taten alles, um ihn aufzuheitern und vermieden alles, was ihm im Hause irgendwie Kummer oder Verdruß bereiten konnte, selbst Arnold benahm sich rücksichtsvoller denn je. An eine Flucht mit Ursula dachte dieser jetzt nicht, sondern wollte die Entwicklung der Dinge abwarten, ob sie nicht vielleicht eine seinen Wünschen günstige Wendung nähmen. Auch Meister Gotthard sah das Bestreben der Seinigen, ihm die Sorgen möglichst zu verscheuchen und dankte es ihnen ohne Worte, war mild und freundlich gegen sie. Einmal in Abwesenheit von Frau und Tochter ging er heimlich in seine Rüstkammer hinauf, wie er den Raum nannte, in dem er seine kleine Waffensammlung bewahrte. Dort hielt er Musterung, prüfte, ob die Klingen nicht in den Scheiden festgerostet und ob Riemen und Schnallen an Harnisch und Wehrgehenken in gutem Stande wären; es könnte ja sein, daß er nächstens sich und seine Söhne wappnen und vielleicht noch diesem oder jenem Freunde mit redlichem Gewehr aushelfen müßte. Es war alles in bester Ordnung; befriedigt von der Waffenschau ging er wieder an seine friedliche Arbeit, stellte sich an die Fügebank und hobelte Dauben.

Eine ähnliche, teils kriegerische, teils sorgenvolle Stimmung herrschte jetzt in allen Häusern Lüneburgs. In Kopf und Brust manches Einwohners regte sich der Ehrgeiz, träumte die Hoffnung, nagte die Begierde nach Vorteil und Förderung, und in einigen wenigen saßen Gift und Galle, Rachsucht, Haß und Bosheit und brüteten über Untaten und Verrat.

In einem Hause aber ging es wunderlich zu – in Daniel Spörkens Löwengrube. Frau Gesche, geborene Mushund, war eine große Feindin des Rates, dieses Rates wie jedes folgenden, und wenn einer aus lauter Engeln bestehend vom Himmel heruntergekommen wäre; aber ebenso unzufrieden würde sie gewesen sein, wenn es gar keinen Rat in Lüneburg gegeben hätte. An allen Menschen und an allen Dingen hatte sie etwas zu tadeln und zu mäkeln, und Schmälen und Zanken war ihr zur zweiten Natur geworden. Bösartig und schlecht war sie eigentlich nicht zu nennen und besaß auch nicht mehr Neid, als eine kinderlose Schustersfrau von ihrem Schlage allmählich in sich hineinschluckt. Aber sie steckte voller Launen und Schrullen, war bissig und kratzbürstig. Woher sollte ihr Haus auch sonst den Namen Löwengrube erhalten haben? Daniel war kein Löwe. Während der verhängnisvollen Tage befand sie sich in einer fast krankhaften Erregung und konnte die Zeit nicht abwarten, bis irgend etwas Gewaltsames, Unerhörtes in Lüneburg geschehe, worauf sie wieder weidlich schimpfen konnte. Sie gönnte es sämtlichen Ratsherren, daß sie gestürzt, ihretwegen auch eingesperrt würden, aber sie gönnte keinem Menschen, an Stelle eines der Abgesetzten zu treten. Sie war wütend, daß die Prälaten das Geld zurückverlangten und die Hälfte ihres Einkommens oder auch das Ganze nicht für die Stadt hergeben wollten; aber noch wütender wäre sie geworden, wenn man zur Deckung der Schulden einen Pfennig von ihr gefordert hätte. Sie freute sich darauf, wenn der Sülfmeister und seine Anhänger in dem Kampf schmählich unterliegen würden, aber sie ergrimmte auch bei dem Gedanken, daß dann Dalenborg und Sengstake oder Hesterwegen und Dörgerloh ans Regiment kommen könnten. Sie war die Feindin von allem Bestehenden und Werdenden.

Timmo dagegen war kreuzfidel. Ihm war es ganz gleichgültig, wer oben in der großen Audienz des Rathauses oder unten im steinernen Weinfaß und in den festen Türmen saß, wenn er es nur nicht war; und ebenso gleichgültig war ihm, wer die Schulden der Stadt bezahlte. Er freute sich unsäglich auf den Austrag der Sache und auf Tumult und Kampf, wenn auch ein oder der andere Hieb ihn selber dabei treffen sollte. Sein bißchen Leben würde man ihm ja hoffentlich lassen, und außerdem hatte er nichts zu verlieren. Also nur los!

Mit Daniel Spörken war in den letzten Tagen eine auffallende Veränderung vorgegangen, zu der seinen Angehörigen im Hause jeder Schlüssel fehlte. Er war stets unterwegs und gab sich die größte Mühe, gegen jedermann nicht nur höflich, sondern auch den klugen und bedeutenden Bürger zu spielen. Er warf mit ganz neuen, hochtönenden Redensarten um sich, sprach bald von Brauch und altem Herkommen und Schuldentilgungsplänen, bald von Konkordien und Ordinantien, Handwerksrollen, Willküren und Beliebungen, bald von Eddagsartikeln und von der Stadt Freiheit, Obrigkeit, Ehre, Recht, Gewalt und Herrlichkeit, daß die erstaunten Lüneburger ihren gutmütigen Allerweltsschuster gar nicht wiedererkannten. Wenn er aber zufällig mit niemand sprach, sondern allein ging, so bewegten sich seine Lippen im Selbstgespräch, oder er blieb plötzlich in tiefen Gedanken auf der Straße stehen und nahm danach eine stolze Haltung und einen würdevollen Schritt an, aus dem er freilich immer sehr bald wieder in seinen gewöhnlichen Schustertrott verfiel. Zu Hause bei der wenigen Arbeit, die er überhaupt noch verrichtete, war er oft ganz geistesabwesend, machte vieles dabei falsch und dumm, saß minutenlang auf seinem Schemel, ohne eine Hand zu rühren, stierte auf sein Schuhwerk unter dem Knieriemen, ohne etwas zu sehen, warf es dann heftig und verächtlich zu Boden, sprang auf, machte ein paar lange Schritte hin und her und lief plötzlich wieder fort in die Stadt. Frau Gesche ward es dabei ganz unheimlich. Als sie ihn einmal anknurrte: »Mann, was ist mit dir? Bist du verrückt geworden?« antwortete er: »Stille, stille, Gesche! Nur Geduld! Nur Geduld! Wirst's schon sehen! Es ist – 'ne große Sache; laß nur, kommt schon! Kommt schon!«

Fort war er wieder, und die anderen drei in der Werkstatt schauten sich verblüfft an.

»Wirst du klug aus dem Menschen?« fragte Gesche.

»So redet nicht, Meisterin«, erwiderte Timmo. »Der Meister muß sich was zu Herzen genommen haben, oder er will in der Morgensprache eine große Rede halten.«

»Na, da werden sie ihm schön heimleuchten«, lachte Gesche.

Timmo wußte wirklich nicht, wo seinen Meister der Schuh drückte und beschloß, ihm das Geheimnis seines seltsamen Wesens zu entlocken.

Als sie einmal beide allein waren – Gesche war auf den Wochenmarkt gegangen, und Hans war ausgeschickt worden –, wollte Timmo die Gelegenheit wahrnehmen und sann darüber nach, an welchem Ende er das Ding anfassen könnte. »Es ist eine große Sache«, hatte der Meister gesagt; was für eine große Sache konnte das denn sein? Etwa eine Verschwörung der Meister? Mal sehen! Und er fing an: »Meister, das lange Hin- und Herreden, das Wanken und Schwanken gefällt mir nicht, damit erreicht ihr nichts. Ihr Meister solltet euch alle heimlich zusammentun, einen raschen Entschluß fassen und den eines schönen Morgens zur Ausführung bringen, ehe der Rat mal recht ausgeschlafen hat.«

»Dummes Zeug!« sagte Daniel. »Wozu denn Hinterlist und Heimlichkeit, wenn man alles frei und offen betreiben kann? Sollen wir Meister etwa bei nachtschlafender Zeit auf grüne Heide gehen wie ihr junges Gesellenvolk? Wir denken nicht daran.«

So! Also mit der Meisterverschwörung war es nichts; aber vielleicht mit der großen Rede in der Morgensprache. Und Timmo fing nach einer Weile wieder an: »Meister, wenn Ihr nun nächstens Morgensprache haltet, so solltet Ihr es Euren ehrbaren Werkbrüdern mal ganz gehörig sagen, was ihr euch von diesem Rat habt alles gefallen lassen müssen, und daß das künftig doch anders werden muß. Meint Ihr nicht?«

»Wozu denn da noch viel reden?« sagte Daniel. »Darüber sind wir ja schon lange einig, daß das nun alles ganz anders kommen muß. Und das wird es auch«, fügte er mit einem Feuerblick auf seinen Gesellen hinzu, »wenn nur da oben erst die rechten Männer im Rate sitzen!«

Die rechten Männer? Die rechten Männer! – »Ja, ja«, sprach Timmo, »Sengstake ist ein gestickter und gescheiter Mann und vieler Dinge kundig, und Dalenborg hat Haare auf den Zähnen und weiß, was er will.«

»Ach was, Sengstake, Dalenborg!« sagte Daniel ärgerlich. »Nun, meinetwegen ja, die werden schon dafür sorgen, daß sie da oben einen Platz finden. Aber ich meine noch andere Leute, Männer, die etwas vom Handwerk verstehen, die Handwerks Gebrauch und Gewohnheit kennen und die in der Bürgerschaft angesehen und beliebt sind.« Dabei warf er den Hammer so heftig auf den Werktisch, daß alles darauf klang und klirrte, und stemmte beide Arme in die Hüften, wieder mit dem Blick eines Helden und Siegers.

In Timmo dämmerte jetzt ein Verdacht auf, der ihm im ersten Augenblick des Bewußtwerdens einfach verrückt vorkam, im nächsten aber wie eine Offenbarung vor ihm stand. ›Herr du meines Lebens!‹ dachte er. ›Ist es denn menschenmöglich? Der Meister will in den Rat! Daniel Spörken will Ratsherr werden!‹ – Das mußte er genauer wissen.

»Da habt Ihr ganz recht, Meister!« sprach er. »Handwerker müssen in den Rat; alle Gilden müssen durch ihre Amtsmeister vertreten sein; das ist ein großer Gedanke!«

»Alle Gilden ist nicht nötig«, erwiderte Daniel, »nur einige von den größten, die Brauer, Böttcher, Bäcker, Schneider und – und die Schuhmacher.«

»Haha! – Haha! – Jawohl! – Natürlich!« Timmo wandte kein Auge mehr von seinem Meister; ihm war, als ob sich vor Lachen jedes Haar an ihm krümmte; aber er blieb ernsthaft.

»Und dann«, sagte Daniel etwas zögernd, »warum denn gerade die Amtsmeister? Müssen es denn durchaus die Amtsmeister sein?«

»Nein! – Nein! – Bewahre!«

Es war richtig. Timmo legte das Arbeitszeug beiseite und stand auf, langsam, feierlich. Er schritt auf den Meister zu, wischte sich die Hand an der Schürze ab, erhob sie dann wie segnend, legte sie fest auf Daniels Schulter und sagte: »Meister, wollt Ihr ein ruhiges, vernünftiges Wort von Eurem treuen Knecht hören, der Euch kennt und ehrt wie kein anderer? – Meister, Ihr müßt Ratsherr werden!« Er hielt die linke Hand hinter sich und drückte sich die Nägel ins Fleisch, sonst wäre er jetzt losgeplatzt.

Daniel ging es sanft und glatt wie Öl hinunter, und ein süßer Kitzel rieselte ihm über den Rücken hinab. Auch er erhob sich, reichte seinem Gesellen die Rechte und sprach gerührt: »Timmo! – Siehst du, Timmo, brave Seele! Freund und Bruder! Das freut mich von dir, daß du das auch sagst, daß du mich verstehst, und – und –«

»Schweigt stille, Meister!« sprach Timmo. »Ihr macht mir das Herz weich. Ich fühle ganz, fühle alles mit Euch. Wir zwei, wir verstehen uns, Meister!«

»Ja, ja, Timmo! – Timmo! Wir verstehen uns«, sagte Daniel. »Wie schön, wie schön, wenn sich zwei Menschen wie ich – wie wir –« Er konnte nicht weitersprechen und schüttelte Timmo immerfort die Hand.

»Meister!« rief Timmo. »Zählt auf mich! Was ich vermag, das geschieht! Und wenn Ihr Ratsherr seid, dann denkt an mich!« Und immer noch wedelten sie beide mit den fest ineinandergeschlungenen Händen. Leider kam in diesem großen Augenblick der dumme Junge, der Hans, zurück und machte dem erhabenen Auftritt ein Ende.

Meister und Gesell setzten sich wieder an ihre Arbeit. Daniel legte mit bedeutsamem Blick den Finger auf den Mund und sagte: »Aber –«

»Na!« machte Timmo.

»Besonders Gesche!«

»Oh!!«

Jetzt war Timmo in seines Meisters grübelndes Geheimnis eingeweiht, und dieser Spaß ging ihm über alle Späße. So etwas hatte ihm nur noch gefehlt, um seine Lust an den kommenden Ereignissen unübersteiglich groß zu machen. Mit welcher diebischen Freude dachte er an alle die Dummheiten, die Daniel machen würde, um Ratsherr zu werden! »Meister – ich hätte bald gesagt, Herr Ratsherr!« sprach er leise. »Ich bin zu ergriffen, um jetzt arbeiten zu können, und lade Euch ganz freundlich ein, mit mir bei der Mutter Hombrokschen einen Krug Eimbecker zu trinken auf gute Verrichtung.«

»Bist ein guter Mensch«, sagte Daniel. »Komm!« Und sie gingen.

Als Gesche nach Hause kam, weder Meister noch Gesellen vorfand und von Hans erfuhr, wohin sie gegangen waren, sagte sie kopfschüttelnd: »Jetzt sind sie alle beide verrückt geworden; aber wovon, und wehe dem, der mir etwas vorflunkert!«


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