Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Zehntes Kapitel

Der oberste Raum unter dem Dache des Goldenen Ei, der nur eine Luke im Giebel hatte, war immer ein Lieblingsaufenthalt der Böttcherkinder gewesen. Hier, fünf Treppen hoch, vor Störung sicher, hatten sie mit den Viskulenkindern ihre heimlichsten Spiele getrieben, die Tauben und Sperlinge, die Schwalben und Krähen beobachtet und zwischen den anderen Giebeln hindurch einen freien Ausblick in die weite, weite Heide gehabt. Mit den Kinderspielen aber hörte auch der Besuch des obersten Dachbodens auf, nur nicht seitens Ilsabes, die den Raum so liebgewonnen hatte, daß sie auch in den folgenden Jahren immer wieder hinaufstieg und dort so lange wie möglich verweilte.

Frau Johanna ließ die Tochter unter der stillen Obhut sorgsamer Mutteraugen ruhig gewähren, denn sie wollte die Entfaltung der holden Jungfräulichkeit in ihrem Träumen und Ahnen, das Wachsen der Seele, das Reifen der Gedanken und Gefühle in höchster Reinheit, aber auch in voller Freiheit einzig der Zeit und der gesunden Natur des lieben Mädchens überlassen. Darum sah sie es nicht ungern, wenn Ilsabe, mit einer Handarbeit beschäftigt, manche Stunde dort oben saß und in frei gewählter, sinnender Einsamkeit ihren geheimnisvollen Lebensfaden aus dem sich freudig erschließenden Herzen heraus weiterspann.

Meister Gotthard, der in der Erziehung der Kinder stets einen Strang mit seiner Frau zog, gönnte der Tochter die kleine Liebhaberei ebensogern, und eines Tages überraschte er sie damit, daß er ihr in jenem obersten Bodenraum mit starken Brettern ein gesondertes Zimmer abschlagen und in der Giebelluke ein Fenster mit kleinen runden Glasscheiben anbringen ließ. Ilsabes Freude darüber war unbeschreiblich; ein Tisch, ein paar Schemel und eine Truhe wurden als Hausrat hinaufgeschafft, das Stübchen auch sonst noch ein wenig eingerichtet und ausgeschmückt, und nun hauste sie erst recht dort in der wärmeren Jahreszeit, denn heizbar war es nicht. Weil aber die Schwalben immer so lustig um den Giebel kreisten, so nannte Ilsabe das Stübchen ihr Schwalbennest.

Auch an diesem Dienstag, einem herrlichen Frühlingstage, saß Ilsabe in ihrer luftigen Höhe am geöffneten Fenster, und wer da hinaufblickte, der sah ein höchst anmutiges Bild. Der schöne blonde Mädchenkopf auf dem dunklen Hintergrunde der offenen Luke glich einem köstlichen Gemälde, und der hohe Giebel erhielt dadurch einen lebendigen Schmuck von unsagbarer Frische und Lieblichkeit. Die Sonne schien, und die Schwalben jagten in weiten Bogen über die Dächer dahin.

Ilsabe ließ die Hände mit dem Nähzeug manchmal im Schoß ruhen und blickte träumerisch in die Heide hinaus. Ein leiser Windhauch umkoste ihre rosigen Wangen und spielte mit ihrem welligen Haar. Sie stützte den Arm auf die Fensterbrüstung, legte den Kopf in die Hand, und ein tiefer Seufzer entrang sich ihrem Busen. Sie wartete, wartete schon den zweiten Tag auf die Veilchen, die ihr Balduin versprochen hatte. Sie hatte sie zwar in ihrer Erregung am Sonntag mit bitteren Worten verschmäht, aber das tat ihr jetzt leid; freiwillig wollte sie nicht darauf verzichten, ihm kein Recht geben, sie der anderen zu bringen; und doch – was konnte sie ihm erwidern, wenn er sagte: Du hast sie ja nicht gewollt, nun habe ich mir bei einer anderen den Dank dafür geholt. Oh, diese andere! Walpurg Grönhagen, die vornehme junge Witwe! Die war der Schatten, der vor der Sonne ihres Lebens stand. Der verführerischen Frau wegen war der Freund vorgestern in eine andere Kirche gegangen, ihr gewiß hatte er gestern Veilchen gebracht. Wird er nun heut endlich zu der Harrenden hier oben im Giebelstübchen kommen?

Trüben, zweifelnden Gedanken gab sich Ilsabe hin und redete sich ein, daß sie neben der eigenartigen, verlockenden Schönheit und besonders neben dem lebhaft gewandten Wesen Walpurgs mit ihrer bürgerlichen Einfachheit nicht aufkommen könnte. Allerdings, wenn sie sich die Witwe so im einzelnen betrachtete – jung, ja, jung war sie noch und von schlanken, geschmeidigen Gliedern, aber sie, Ilsabe, war größer und stattlicher von Wuchs und Haltung, und Rosen auf den Wangen wie Ilsabe hatte Walpurg nicht, hatte eine bleiche, etwas gelbliche Gesichtsfarbe, und das schwarze Haar dazu, freilich recht üppiges Haar, und die schwarzen Augenbrauen gaben ihr etwas Fremdländisches. Aber, aber! Wenn sie lächelte mit den vollen, roten Lippen und den dunklen Augen, oh, dann war sie schön. So konnte sie, Ilsabe, doch nicht lächeln, hatte auch nicht den schwebenden Gang, nicht die schwellenden Bewegungen des Körpers, nicht so heiße, so ins Herz sich bohrende Blicke. Dagegen hatte Walpurg mit all ihren bestrickenden Reizen und der reifen Sinnlichkeit ihrer äußeren Erscheinung keinen leichten Stand gegenüber der heiter blühenden, jugendfrischen Kraft der blonden Ilsabe. Wie wohl Balduin dachte, wenn er sie beide miteinander verglich. Welcher von beiden gab er den Vorzug? Welche – welche liebte er?

So grübelte die Einsame, in Bangen, in Hoffen und Harren. Die Schwalben flogen an der Luke vorüber, segelten hin und her und wiegten den schlanken Vogelleib in der himmlischen Luft. Wieder blickte Ilsabe hinab – und sieh, da kam er! Wahr und wahrhaftig, da kam er die Straße daher und hielt etwas in der Hand, das schwer zu erkennen war, was aber nur ein Veilchensträußchen sein konnte, sein mußte. Sie beugte sich weit über und sah, wie er ins Haus trat, ohne zu ihrer Höhe aufzublicken. Schnell war sie vom Stuhl und wollte hinab. Doch halt! Dann hätte sie sich ja verraten, daß sie ihn gesehen, daß sie auf ihn und seine Blumen gewartet. Man würde sie schon rufen. Aber man rief sie nicht. Voll Ungeduld lauschte sie, aber vergebens; niemand kam. Sie schlich auf den Zehen zur Tür, schmiegte das Ohr daran und horchte, horchte gespannt. Nichts regte sich. Sie hatte es doch deutlich gesehen, daß er ins Haus getreten war.

Sollte er nur im Vorbeigehen eine Bestellung an Gilbrecht oder den Vater gehabt haben und dann gleich wieder fortgegangen sein? Ohne sie zu begrüßen? Ah, nein! Das war nicht denkbar, und sie hatte ja ganz deutlich die Veilchen in seiner Hand gesehen. Jetzt war schon eine lange, lange Zeit verstrichen, meinte sie, jetzt könnte sie doch wohl hinuntergehen, ganz langsam, vielleicht singend, und langsam wie zufällig in das Wohnzimmer treten mit höchst erstauntem Gesicht, dort einen Gast zu finden. Sie strich sich das Haar zurecht, glättete ihr Kleid und legte die Hand auf die Klinke – da, horcht – es kommt! – tapp, tapp, tapp! Es kommt die Treppe herauf, immer lauter, immer näher – fort! Schnell auf den Stuhl. Das Nähzeug zur Hand und darübergebeugt, in die Arbeit versunken, nichts um sich hörend und sehend. Aber wie ihr das Blut ins Gesicht stieg! Wer mag es sein, der da heraufkommt? Doch nicht gar –? Da ging die Tür, und Lutke steckte den Kopf herein: »Ilsabe, unten ist einer und will dich sprechen.«

»Mich? Ei, was Tausend! Wer denn?«

»Das sag' ich nicht; komm nur!«

»So sag's doch! Sonst komm' ich nicht.«

»Wie du willst; dann bleib oben; bestellt hab' ich's.«

Fort war er, der durchtriebene Schlingel! Aber das kommt vom Heucheln und Verstellen; nun konnte sie nicht hinabgehen. Was nun? Schnell hinterher! »Lutke! Lutke! Noch ein Wort!«

»Ja!«

»Wer ist's denn – ist es Ba – Base Immecke?«

»Nein!« klang es schon von der zweiten Treppe.

»Nun, ich will nun doch lieber kommen; sage nur, ich käme gleich«, rief sie mit zitternder Stimme nach. Dieser Lutke! Warte, du! – Sie ging hinab und kam unten mit so klopfendem Herzen an, als wäre sie die fünf Treppen nicht langsam, wie ihr däuchte, hinabgestiegen, sondern eilend hinaufgesprungen. Vor der Stubentür rastete sie einen Augenblick: sollte sie hineingehen oder nicht? Sollte sie dem Flatterhaften nicht lieber sagen lassen, sie verlangte nicht nach seinen Veilchen, er möchte sie nur zu Leuten tragen, die in der Michaeliskirche für ihn beteten? Das verdiente er doch eigentlich. Aber damit hätte sie ihm auch ihre Eifersucht verraten; und eifersüchtig sind nur Verliebte. Sollte sie ihn ihre Liebe merken lassen? Nimmermehr! Aber recht kühl wollte sie sein, nur zögernd die Veilchen nehmen, sie ruhig beiseitelegen und sehr bald wieder hinaufgehen. Ja, so wollte sie es machen. Das Herz klopfte ihr gewaltig, doch sie trat ein.

»Ach, du bist es Balduin!« Das kam noch glücklich heraus, aber nicht mehr.

Er schritt ihr entgegen und bot ihr sein Sträußchen: »Die ganze Ausbeute von gestern und heute; mit einem wollt' ich nicht kommen, es sollten erst mehrere erblühen.«

Hätte sie ihn nur dabei nicht angesehen! Denn vor seinem tiefen Blick, der ihr so innig in die Augen strahlte, sie so reumütig um Verzeihung zu bitten schien, verschwand im Nu alle Kälte und Strenge, die ihm zu zeigen sie sich soeben noch fest gelobt hatte. Ohne Zaudern, fast unbewußt nahm sie die Veilchen und hielt sie ans Gesicht, wie um daran zu riechen; aber der Strauß war zu klein, das erglühende Antlitz zu verdecken. »Sie duften köstlich«, sagte sie ganz verwirrt, »ich danke dir schön!« Warum sprachen denn nun die anderen nicht, Gilbrecht und die Mutter, die doch zugegen waren?

Warum mußte sie denn die ganze Unterhaltung allein führen? Die ganze Unterhaltung! Und dabei sprach niemand ein Wort, und sie wußte auch nicht, wie sie anfangen und was sie sagen sollte.

Endlich sprach die Mutter: »Behaltet Platz, Junker!« Und der Schalk, der Gilbrecht, lachte noch obendrein dazu.

Das Gespräch, wenn die zerstreuten Bemerkungen, die ohne rechten Zusammenhang ausgetauscht wurden, ein Gespräch zu nennen waren, hatte etwas Erzwungenes. Ilsabe war befangen und mußte sich aufs äußerste zusammennehmen. Dabei suchte sie doch Balduin zu ergründen, um womöglich einen Blick in sein Herz zu tun. Noch angelegener ließ sich dies Frau Johanna sein. Nicht daß sie die Neugier und das aufmunternde, gelegenheitmachende Entgegenkommen einer hoffenden künftigen Schwiegermutter zeigte, aber sie beobachtete den Junker scharf, ohne daß dieser etwas davon merken konnte. Balduin war zwar guter Dinge und noch am gewandtesten in der Unterhaltung, aber auch nicht ganz so wie sonst. Entweder hatte er Ilsabe gegenüber kein ganz reines Gewissen oder die Gegenwart der Mutter beengte ihn. So dachte wenigstens Gilbrecht und nahm sich vor, dem Freund und der Schwester dadurch zu Hilfe zu kommen, daß er die Mutter aus dem Zimmer zu entfernen suchte, damit die beiden ungestört die kleine Verstimmung vom Sonntag mit ein paar guten Worten ausgleichen könnten. Er sagte: »Ilsabe, das Sträußchen mußt du in Wasser stellen, in ein recht feines Krüglein; am schönsten ausnehmen würden sich die Dunkelblauen in dem goldgelben Gläschen aus Böhmen, dem Geschenk des Herrn Ratsherrn; du hast es oben in deinem Schrein, liebe Mutter!«

›Hol es doch gütigst herunter und fülle es mit Wasser, aber nimm dir Zeit dabei‹ – setzte er, jedoch nicht hörbar, sondern nur in Gedanken hinzu.

»Du hast recht, Gilbrecht«, sagte die Mutter, die auch den ungesprochenen Nachsatz deutlich verstanden hatte, »ihr könnt es euch herunterholen, hier sind die Schlüssel.«

»Nachher, Mutter!« erwiderte Gilbrecht mit einem verschämten Lächeln, daß die List nicht gelungen war und die Mutter sie vielleicht gar durchschaut hatte. Frau Johanna wäre aber selber gern mit Balduin allein gewesen; vielleicht hatte er ihr irgendeine Andeutung oder gar eine vertrauliche Eröffnung unter vier Augen zu machen. Aber da kam sie schön an; Gilbrecht wich und wankte nicht, oder sie mußte mit hinaus. Er ließ die anderen sprechen und besann sich auf einen besseren Einfall. Bevor ihm jedoch ein solcher kommen wollte, sah er den Ratsherrn Herrn Heinrich Viskule die Straße daher und auf das Böttcherhaus zuschreiten. Nun war es ihm sehr fraglich, ob es dem Ratsherrn angenehm wäre, seinen Sohn hier zu finden, und ob es Balduin angenehm wäre, sich von seinem Vater jetzt hier finden zu lassen. Sicherer schien ihm, die Begegnung, wenn es möglich wäre, zu verhüten – aber wie? Was doch ein armer, arbeitsloser Böttcherknecht manchmal für schwere Sorgen auf seine breiten Schultern nehmen muß!« dachte er.

Ein Besuch des Ratsherrn beim Böttchermeister war nichts so Außerordentliches, und die beiden alten Freunde waren schon manchmal draußen auf der Diele geblieben, wenn gerade der Arbeitslärm in der Werkstatt nicht groß gewesen war. Dann hatte sich der Ratsherr dem Meister gegenüber auf den Bock oder eine Schneidebank gesetzt und sich da stundenlang mit ihm unterredet.

Einen triftigen Grund, warum er verhindern wollte, daß die Viskules, Vater und Sohn, sich begegneten, hatte Gilbrecht nicht so schnell bei der Hand, denn Balduin hatte Wahl und Erlaubnis, ob er einen Nachmittag der Arbeit oder dem Vergnügen widmen wollte. Trotzdem ging er hinaus und pflanzte sich mitten in den freien Gang, der von der Haustür durch all das Werkgerät zur Wohnstube führte, so breit und unverrückbar fest auf, daß Herr Viskule gar nicht auf den Gedanken kommen sollte, sich etwa an ihm vorbeidrücken zu können, sondern daß ihn die nächste beste Schneidebank zum Niedersetzen locken sollte. Diese List gelang ihm; wenigstens tat er sich darauf etwas zugute, daß es infolge seiner großen Schlauheit so kam, wie er gewollt hatte.

Meister Gotthard empfing den Ratsherrn mit der achtungsvollen und ehrerbietigen Vertraulichkeit, die ein bescheidener und doch selbstbewußter Mann einem an Rang höherstehenden oder an Geistesgaben überlegenen Freunde von Herzen gern entgegenbringt. Der Ratsherr nahm diese Aufmerksamkeit keineswegs als etwas Selbstverständliches, ihm Gebührendes hin, sondern tat, als bemerkte er davon gar nichts, und begrüßte den Meister mit innigster Freundschaft. Wie er seine zarte, weiße Hand in des Böttchers dargebotene Rechte legte, die sie mit warmem, aber vorsichtigem Druck ganz und gar verschlang, und wie er zu seinem körpergewaltigen Freunde emporblickte, da konnte man's den beiden ansehen, wie wert und gut sie sich waren, wie jeder am anderen seine Freude hatte. Auch den Söhnen nickte der Ratsherr zu, die den Gruß höflich erwiderten, Gilbrecht ohne sich von der Stelle zu rühren; und wirklich setzte sich Herr Viskule auf eine Schneidebank, die ihm Gilbrecht noch eben schnell und unbemerkt so recht bequem hingerückt hatte, und begann mit einem angenommenen Ernst: »Was meinst du wohl, Gotthard, weshalb ich komme?«

»Nun, ich denke, weshalb du schon öfter gekommen bist«, sagte Meister Gotthard, »zu freundlicher Zwiesprach.«

»Nichts da von freundlicher Zwiesprach!« entgegnete Herr Viskule. »Als dein gestrenger Morgenherr komm' ich, um den Herrn Amtsmeister, der den Werkbrüdern mit besseren Beispiel vorleuchten sollte, in Bruch und Buße zu nehmen. Tu mir nicht so unschuldig!« fuhr er fort, als der Meister ihn verwundert anstarrte, »bist verklagt bei mir vom Wardierer Sengstake, weil du mit drei Knechten arbeitest gegen Handwerksordnung und Gerechtigkeit. Da steht er ja, der Sünder!«

Er wies auf Gilbrecht, der womöglich ein noch verblüffteres Gesicht machte als die anderen. Aber länger hielt der Ernst bei Herrn Viskule nicht vor, und der Ratsherr brach nun in ein herzliches Gelächter aus, in das der Meister mit volltönender Kraft und dann auch, als sie den Scherz begriffen hatten, die vier jungen Leute laut und lustig einstimmten. Es war, als wenn die ganze Werkstatt lachte, die leeren Fässer mit ihrem hohlen Widerhall, die Dauben und die Reifen, die Werkzeuge und die Späne. Des Lachens war kein Ende, und am vergnügtesten dabei war Herr Heinrich Viskule, daß es ihm gelungen war, seinen ehrbaren Amtsmeister einen Augenblick irre zu machen und ihn als sein Morgensprachsherr mit einer Strafdrohung zu erschrecken. Und was alle List und Schlauheit Gilbrechts nicht fertiggebracht hatte, das bewirkte dies schallende Gelächter. Frau Johanna, die es in der Stube gehört hatte, kam heraus und ließ Balduin und Ilsabe nun doch allein; aber nun sah sie auch den Ratsherrn, und den wachehaltenden Gilbrecht nicht ohne einige Mühe aus dem Wege schiebend, eilte sie auf ihn zu und lud ihn nach freundlicher Begrüßung zum Eintritt in die Wohnstube ein, hinzufügend: »Junker Balduin ist auch da.«

»Balduin auch da? Ei, wie sich das trifft!« sagte der Ratsherr und ging mit Meister und Meisterin, denen Gilbrecht folgte, in das Wohnzimmer.

Arnold sandte ihnen einen langen, forschenden Blick nach und blieb dann, einen Reifen in der linken, den Bandhaken in der rechten Hand, eine geraume Weile regungslos vor seiner Tonne stehen, ganz versunken in tiefe Gedanken. Lutke fiel das endlich auf, er schlich sich hinzu und schrie den Bruder plötzlich an: »Arnold! Aufstehen! Die Glocke ist vier!« Da erwachte Arnold aus seinen Träumen, warf Lutke, der sich bereits auf mehr als Armeslänge zurückgezogen hatte, einen ärgerlichen Blick zu und nahm seine Arbeit schweigend wieder auf. –

»Guten Tag, du Blondkopf!« sagte Herr Viskule im Zimmer und reichte Ilsabe die Hand. »Und Balduin auch hier? Ei, ei! Ich dachte, du wärst drüben im Kaufhause.«

»Da will ich erst noch hin, Vater«, sprach Balduin ein wenig verlegen, »hatte nur hier noch etwas abzuliefern.«

»Ist es denn angenommen, was du zu liefern hattest?« lächelte Herr Viskule.

»Mit allem Dank, Herr Ratsherr!« knickste Ilsabe und zeigte mit dem Finger auf das Sträußchen, das sie nun doch nicht beiseitegelegt, sondern sich vorläufig an die Brust gesteckt hatte. »Seht, dies hier!«

»Was denn?« fragte der alte Herr schelmisch. »Den schönen Ring an deinem Finger?«

Ilsabe wurde dunkelrot und wagte nicht, Balduin anzusehen, dem der – wer weiß, ob nicht gar absichtliche! – Irrtum seines scherzliebenden Vaters nicht gerade erwünscht kam. Frau Johanna dagegen sah in dem Mißverständnis eine gute Vorbedeutung, klärte es jedoch mit den Worten auf: »Nein, die Veilchen, Herr Ratsherr! Den kostbaren Ring hat ihr Hans Laffert gesandt.«

»Er gab ihn mir, er zwang ihn mir auf für Ilsabe«, sprach Meister Gotthard, »weil ich – nun ja, weil ich einen edlen, ehrenfesten Rat mal wieder aus dem Gedränge herausgehauen hatte.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte der Ratsherr, »weiß alles, und darum komm' ich just her, um mich bei dir zu bedanken. Wie sagt Ihr doch gleich? Es steht heute oder morgen wieder zu verschulden, ist es nicht hier, so ist es anderswo.«

»Es wird das letztemal nicht gewesen sein, Heinrich!« sagte der Meister. »Und solange es noch im Bierkeller bleibt, ist es nicht gefährlich; aber ich möchte nicht, daß es einmal auf dem Markt nötig wäre.«

»Kann auch noch kommen, Gotthard!« sprach der Ratsherr.

Balduin erhob sich jetzt und verabschiedete sich. »Nun muß ich ins Kaufhaus«, sagte er.

»Da werden sie jetzt nicht mehr auf dich warten«, meinte der Ratsherr.

»So pflück' ich noch ein Veilchensträußchen für unsere liebe Base Barbara.« Er sagte das schon in der offenen Tür. Die in der Werkstatt konnten die Worte nicht verstehen, aber sie hörten das fröhliche Lachen derer in der Stube, das den übermütigen Scherz belohnte, und Arnold sagte zu sich; »Aha! Sie sind lustig.«

Gilbrecht ging mit Balduin weg, und Ilsabe stieg wieder in ihr trauliches Schwalbennest hinauf, um sehr wenig klüger, als sie herabgekommen war. Balduin hatte doch ihr die Veilchen gebracht, die ganze Ausbeute von gestern und heute, wie er sagte. Aber es waren nicht viel, und gestern war doch so warmes Wetter gewesen. Hatte er sie wirklich alle ihr, nur ihr gebracht? Das möchte sie wissen, ganz sicher wissen! Lieber wollte sie gar keins haben, als die Hälfte von allen. Sich mit jener Frau in Balduins Veilchen teilen zu müssen, kam ihr vor, als wenn sie sich mit ihr in sein Herz teilen sollte, und das war ihr ein schrecklicher Gedanke. Sie betrachtete sich Hans Lafferts schönes Geschenk, den Ring an ihrem Finger, den der Ratsherr beinahe für eine Gabe Balduins gehalten hätte. Wie hatte Hans Laffert ihr durch den Vater sagen lassen? Sie sollte den Ring so lange zu seinem Gedächtnis tragen, bis sie ihn einst demjenigen geben könnte, der ihrem Herzen am nächsten stünde. Ja, wenn ihn derjenige nur auch nehmen wollte! Ach! Sie würde ihn wohl noch lange selber tragen müssen, nur zum Andenken an den guten, alten Hans Laffert.


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