Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Vierzehntes Kapitel

Frau Johanna merkte an ihrem Gotthard eine gewisse Unruhe, die sie nur auf seinen Kummer über die Tat Gilbrechts zurückzuführen zu müssen glaubte, und suchte ihn darüber zu trösten, indem sie sprach: »Gotthard, gräme dich nicht um Gilbrecht; ich kenne meinen Jungen, er hat sich kaum klargemacht, was er begangen, und wer will es ihm denn beweisen, daß er es gewesen ist?«

»Nun, beweisen ließe sich's schon«, erwiderte Gotthard, »wer anders soll denn die Viskulentochter aus dem Kloster befreit haben als er oder Balduin? Und wenn wir denen auf dem Rathause Zeit dazu lassen, so werden sie schon die Hand nach dem Täter ausstrecken, aber daß es heute oder morgen geschieht, glaube ich selber nicht; wir müssen es eben abwarten.«

»Kannst du dem Sohne einen Vorwurf daraus machen?« fragte sie. »Hättest du vor siebenundzwanzig Jahren nicht ganz dasselbe für mich getan?«

»Welche Frage! Für dich!« entgegnete er.

»Nun, dann ist's gut«, lächelte sie, »weiter brauche ich nichts zu wissen.«

»Sag's ihm doch womöglich!«

»Nein! Ist nicht nötig; er sagt es sich schon selber.«

Des Sohnes mutige Tat erfüllte Frau Johanna beinahe mit Stolz, und die Ereignisse der letzten Woche, so trüb und traurig sie auch im allgemeinen waren, brachten ihre stillen Hoffnungen für die Zukunft ihrer Kinder immer mehr in Blüte. Dem Mutterauge war es nicht entgangen, daß der Verkehr zwischen Balduin und Ilsabe jetzt so herzinnig war wie noch nie zuvor, und daß Ilsabes ganzes Wesen seit einiger Zeit sehr verändert war; die gedrückte Stimmung in ihrem Gehabe, der schwermütige Ausdruck in ihrem Gesicht waren verschwunden, und dafür lachte nun immerfort die helle Freude aus ihren Augen. Seit gestern war auch Gilbrecht wie umgewandelt; sein Vorhaben mußte ihm wohl sehr schwer auf der Seele gelegen haben. Nun er es ausgeführt, war er wieder lustig und guter Dinge wie in den ersten Wochen nach seiner Heimkehr aus der Fremde. Frau Johanna hätte etwas darum gegeben, wenn sie gewußt hätte, ob das nur eine Folge der gelungenen Befreiung war, oder ob dabei zwischen ihm und Hildegund auch schon eine Herzensverständigung stattgefunden hatte. ›Wenn nur der Ratsherr wieder da wäre!‹ dachte sie.

Meister Gotthards Unruhe hatte aber ganz andere Gründe als die Sorge um Gilbrecht, obwohl er auch diese bei der Feindschaft des Rates gegen ihn nicht ganz verscheuchen konnte. Am Montag hatte er in Schnewerdings Hause den Plan zum Aufstand mit den Genossen verabredet, heute war Donnerstag, und noch immer harrte er der Bestellung zu Viskule in den blauen Turm. Hatte man es aufgegeben, ihn fangen zu wollen? Oder sollte er es aufgeben, noch länger darauf zu warten? Ungern ließe er sich diesen Beweis gegen den Rat von dem schreienden Mißbrauch der Gewalt entgehen. Aber auch der Aufschub der Erhebung konnte verhängnisvoll werden, der Plan konnte verraten und dann vielleicht durch besondere Vorkehrungen vom Rate vereitelt, die dafür gewonnenen Bürger konnten des Wartens müde, konnten wieder lau und abtrünnig werden; es war Gefahr im Verzuge. Dabei wußte er, daß alles bereit war; seine Vertrauten hatten ihm den guten Fortgang der Werbungen und die für den Aufstand günstige Stimmung der Handwerker gemeldet; aller Augen warteten nur auf ihn. Möglich, daß sein Wissen und Wollen seine Beobachtungen beeinflußte, aber er glaubte den Druck und die Gärung in der Stadt so deutlich zu sehen, daß er meinte, die Vorbereitungen könnten auch den Uneingeweihten nicht länger verborgen bleiben. Die Bürger zeigten sehr ernste Gesichter und gingen auf der Straße rasch aneinander vorüber, denn jeder vermied, länger vom Hause abwesend zu sein, als dringend notwendig war, um beim ersten Klang der Glocken sich schnell zu rüsten. Auch in den schwachbesetzten Trinkstuben ging es abends still her, denn die zum Sturze des Rates Entschlossenen wußten selber nicht genau, wer ihre Freunde und wer ihre Gegner waren und mußten sich deshalb vor jeder unbedachten Äußerung hüten. Höchstens fiel einmal hier und da in einem sicheren Kreise von Vertrauten die geflüsterte Frage: »Wißt ihr noch nicht, wann es losgehen soll?«

Seine eigene große Ungeduld suchte der Meister soviel wie möglich zu verbergen, konnte sie aber doch nicht ganz bezähmen. Sonst bekümmerte er sich kaum darum, wer bei ihm im Hause ein und ausging, falls man ihn nicht selber zu sprechen wünschte; jetzt blickte er jedesmal erwartungsvoll von der Arbeit auf, wenn jemand in die Diele hereintrat, ob es nicht endlich der Bote wäre, der ihn hinterlistig zu seinem Freunde Viskule bestellen wollte. Wer würde dieser Bote sein? Wer war in Lüneburg außer den vieren, die das Bubenstück ersonnen, so gottverlassen und verrucht, sich zu dem heimtückischen Dienste herzugeben? Oh, er wollte dem in die Augen sehen, der ihm mit einer erlogenen Bestellung von seinem Freunde Viskule käme. Oft trieb es ihn hinauf in seine Rüstkammer, wo er sich mit den Waffen zu tun machte, und ganz gegen seine Gewohnheit war er jetzt bei der Arbeit in der Werkstatt gesprächig und suchte auch Arnold und Jakob zum Sprechen und Erzählen zu veranlassen.

»Arnold«, sagte er, mit einem Risse beschäftigt, diesen Nachmittag zu seinem ältesten Sohne, »der Zirkel hat auch schon mehr erlebt als ich und du, er dient nächstens volle hundert Jahr, sieh her! Jahr und Tag sind darauf eingeschnitten.«

»Da wird er uns wohl an seinem hundertjährigen Geburtstag einen guten Trunk spenden müssen«, erwiderte Arnold.

»Der Zirkel?« fragte der Meister.

»Oder der, der ihn am meisten gebraucht«, lächelte Arnold.

»Als du sechs Jahre alt warst«, sprach der Meister, »und noch nicht so hoch wie dieser Zirkel, habe ich dich einmal dabei erwischt, daß du ihn als Steckenpferd benutztest. Weißt du's noch?«

»Ja, ich weiß es noch«, entgegnete Arnold; »ich wollte ihn gar nicht wieder hergeben, da nahmst du ihn mir weg, beschriebst auf dem Fußboden einen großen Kreis damit und zogst ihn mit Kreide nach. In diesem Kreise mußte ich zur Strafe eine ganze Stunde lang wie gebannt sitzenbleiben. Das war mir sehr langweilig, und ich habe nie wieder auf einem Zirkel geritten.«

Der Meister lachte: »Wenn man euch doch noch mit einem Kreidestrich von allen Streichen absperren könnte!«

»Heute machen wir keine mehr, Vater!« erwiderte Arnold.

»Na, na!« war des Vaters Antwort. Arnold lachte, und Jakob lachte mit. »Übrigens, alles was recht ist«, fuhr der Meister freundlich fort, »ich bin mit dir zufrieden! Und mit Jakob auch; habt eure Sache gelernt, macht's besser als mancher Meister und versteht euch auf Handwerks Gebrauch und Gewohnheit, wie ich es liebe.«

»Vom wem haben wir es denn gelernt, Meister«, sprach Jakob.

»Aha! Also du meinst auch, Jakob, daß wir den Zirkel, wenn seine hundert Jahre voll sind, mit einer Kanne Bier begießen müssen?« sagte der Meister gut gelaunt.

»Wird sich wohl nicht anders mit ihm schicken, Meister«, lächelte Jakob; »hundertjähriges Holz wird sonst allzu trocken und kriegt Sprünge.«

Arnold gab Jakob einen Wink, daß er ihn mit seinem Vater allein lassen möchte, und Jakob ging auch gutmütig hinaus. Lutke drehte ganz hinten in der Diele den Schleifstein, um ein Beil zu schleifen, und konnte nicht hören, was vorn gesprochen wurde.

Da trat Arnold an seinen Vater heran und sprach etwas verlegen: »Vater, ich habe dir eine heimliche Bestellung auszurichten vom Herrn Ratsherrn Viskule; du möchtest ihn diese Nacht im blauen Turm besuchen, er hätte dir eine wichtige Eröffnung zu machen; Meister Dippold, sein Schließer, würde dich zu ihm führen.«

Gotthard Henneberg stand wie vom Donner gerührt; er hätte aufschreien mögen: Mein Sohn! Mein leiblicher Sohn! Er nahm alle Kraft zusammen, sich zu bezwingen, aber es dauerte eine Weile, bis er sprechen konnte und unter mächtigem Arbeiten seiner Brust mühsam hervorbrachte: »Wer hat dir's gesagt?«

Arnold schlug die Augen nieder und antwortete: »Dippolds Tochter, die Ursula; ihr Vater hat es ihr selbst aufgetragen.«

»So, so! Dippold der Ursula, die Ursula dir und du mir, deinem Vater!« sagte der Meister mit bebender Stimme. »Ganz recht, alles richtig! – Und wann soll es sein?«

»Heute nacht zwischen zehn und elf.«

»Gut«, sprach der Meister mit einem Blick auf seinem Sohn, der diesem alles Blut zum Herzen jagte, »ich werde kommen.«

Arnold ging wieder an seine Arbeit.

Da hatte nun Meister Gotthard die ersehnte Botschaft, aber wie! Von wem! Sein Sohn stand mit seinen Todfeinden im Bunde und bot ihnen die Hand, den Vater ins Verderben zu locken. Von dieser Seite, von seinem eigenen Fleisch und Blut hatte er sich des Verrats nicht versehen; und doch – es lag so nahe, klang so glaubhaft, so unschuldig und natürlich! Viskule hatte seinen Wächter beredet oder mit Versprechungen bestochen, ihm seinen Freund Henneberg zuzuführen; Dippold ließ es durch seine Tochter ihrem Liebsten bestellen, daß dieser, der Sohn, es dem Vater ausrichtete. Wer sollte da an Verrat denken? Er selber, Meister Gotthard, hätte ohne des Kellermeisters Warnung keinen Verdacht geschöpft. Es war fein ausgesponnen, Zufall und Verhältnisse waren wie gemacht dazu, auch den Vorsichtigsten zu täuschen. Oh, über die Falschheit, die heiligsten Bande des Blutes und der Liebe zu einer mörderischen Schlinge zu drehen! Vielleicht wußte es Arnold schon seit mehreren Tagen und war nur darum so gefügig, so freundlich und zutunlich gewesen, um den Vater irrezuführen. Oder – sollte Arnold und vielleicht auch Ursula selber getäuscht und betrogen sein und in gutem Glauben handeln? Unmöglich war es nicht, und den Schurken, die das eingefädelt hatten, war alles zuzutrauen. An diese Möglichkeit klammerte sich das Herz des Vaters, um sich vor dem Versinken in den grausamsten Verdacht gegen den Sohn zu retten. Aber noch ein anderes Oder erhob sich aus der wirbelnden Flut von Gedanken, die den Meister immer höher und wilder umschwoll. Gerade dem Glück dieser beiden, Arnolds und Ursulas, stand er ja, Gotthard, im Wege; war er über Seite gebracht, so konnten sie heiraten, Arnold, als ältester Sohn, übernahm die Werkstatt im Goldenen Ei und Dippolds Tochter war gut versorgt. Hatte Arnold – das fiel ihm jetzt ein – bei seinem letzten Versuch, des Vaters Einwilligung zu seiner Heirat zu ertrotzen, nicht gedroht, jede Gelegenheit benutzen zu wollen, auch eine, die mit Blut und Schrecken käme? Hier war nun die Gelegenheit. Sollte Arnold wirklich fähig sein, sie zu benutzen? Es wäre eine herzbrechende Erfahrung, wenn der Sohn seine Hoffnung auf den mit seiner Hilfe bereiteten Untergang des Vaters gebaut hätte. Und um das zu erleben, um diese Erfahrung zu machen, hatte der Meister gegen den Wunsch und Willen seiner Genossen mit dem Zeichen zum Aufstand gezögert und gewartet!

Er hatte wie auf den Knauf eines hohen Schwertes beide Hände auf den Kopf des Zirkels gelegt, dessen Spitze auf dem Bodenholz zu seinen Füßen stand, und das Kinn auf die Hände gestützt, in finsteres Brüten verloren. Nun warf er einen langen Blick zu seinem Sohn hinüber, der dort ruhig eine Tonne band. Arnold sollte von seines Vaters argen Gedanken, mochten sie nun auf richtiger oder auf falscher Fährte sein, nichts ahnen; darum schwieg der Meister und blieb bei seinem Entschluß, dahin zu gehen, wohin man ihn rief.

Der Abend kam und auch die zehnte Stunde. Meister Gotthard machte sich in seiner Ungeduld früher bereit, als verabredet war. Er schickte seine Kinder zu Bett, bat aber seine Frau, noch aufzubleiben, er habe noch mit ihr zu reden. Arnold schlich sich in die Diele und setzte sich dort auf eine Schneidebank. Der Meister aber ging hinauf in seine Rüstkammer, schnallte sich einen Harnisch um, umgürtete sich mit Schwert und Dolch und bedeckte den Kopf mit einer Eisenhaube.

Als er so gerüstet herabkam, erschrak Johanna und rief: »Gotthard! Wohin? Was hast du vor?«

»Johanna«, erwiderte er sehr ernst, »ich soll zu Viskule kommen, in den blauen Turm; er wünscht mich heimlich zu sprechen.«

»In Wehr und Waffen?« fragte sie, wenig beruhigt.

»Es ist nur für alle Fälle«, sagte Gotthard; »in einen festen Turm, der vom Feind bewacht wird, geht man nicht wie zu einer Lustbarkeit. Gib mir den Holken.«

Johanna holte ihm seinen langen Mantel und hing ihn ihm über die Schultern. Da übergab er ihr die Stabhölzer, die er sich gleich nach der Beratung in Schnewerdings Hause hergerichtet hatte, und sprach: »Johanna, nimm diese fünf Täfelchen mit unserer Hausmarke und verwahre sie wohl, ich fordere sie von dir wieder. Wenn ich aber bis morgen früh zu der Stunde, da ihr aufsteht, nicht zurück bin, so schicke je eines dieser Hölzer an Hans Laffert, Schnewerding, Eekholt, Schuttenhelm und Stephan Bartels. Sorge dafür, daß diese Zeichen schnell und sicher in ihre Hände gelangen, und laß jedem der Meister sagen, wohin ich gegangen bin. Ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen, liebes Weib, daß dies alles genau und pünktlich geschieht; nicht wahr, Johanna?«

»Unbedingt, mein Gotthard!« erwiderte sie. »Aber sage mir doch –«

»Frage nicht, du treues Herz!« sagte der Meister. »Sondern vertraue mir, wie du es von je getan hast, und erschrick nicht, wenn morgen die Glocken läuten. Lebe wohl, Johanna!«

Er umschlang sie und küßte sie herzlich. Dann zog er die Kapuze des Mantels über die Stahlhaube und ging.

In der Diele erhob sich Arnold, um seinem Vater die Tür zu öffnen und hinter ihm wieder zu verschließen. »Ich werde aufbleiben, Vater, bis du wiederkommst.«

Ohne Antwort schritt Gotthard Henneberg in die Nacht hinaus. –

Am blauen Turm angekommen, pochte er an die Pforte, und es ward ihm so schnell geöffnet wie einem, den man erwartet hat.

Als Dippold, der Schließer, in der matt erleuchteten Halle die hohe, vom Mantel umhüllte Gestalt Gotthard Hennebergs erkannte, wich er einen Schritt zurück und raunte erschrocken: »Henneberg, du kommst?«

»Hast du mich nicht bestellen lassen?« erwiderte ihm der Meister.

»Verrat! Sie wollen dich fangen!« flüsterte Dippold.

Gotthard Henneberg traute seinen Ohren nicht. »Dippold, du warnst mich?« sprach er.

»Geh! Geh!« drängte Dippold. »Ich will nicht sagen, daß du hier warst. Wenn du eintrittst, bist du verloren.«

»Laß mich ein!« sagte der Meister. »Ich weiß alles.«

»Du willst es wagen, Henneberg? Traust du mir nicht? Sieh, ich schließe die Tür nicht zu und lasse die Lampe hier brennen, damit du fliehen kannst.«

»Ich fliehe nicht, ich will den Buben ins Gesicht sehen.«

»Dann, in Gottes Namen, komm!« sprach der Schließer.

Sie gingen ein paar Stufen hinauf und traten in ein erhelltes, leeres Gemach. Es war eine Art Wachstube, gewölbt, ziemlich geräumig, und hatte noch eine zweite Tür.

Dippold winkte mit den Augen ängstlich nach dieser zweiten Tür, als ob ein Lauscher dahinter stünde, und sprach dann laut: »Du willst Viskule sprechen, sagst du; gut, warte hier, ich will ihn rufen.«

»Kann ich nicht mitgehen?« fragte Meister Gotthard darauf ebenso laut.

»Nein, ich hole ihn her«, erwiderte Dippold und verschwand durch jene Tür.

Meister Gotthard, dieselbe fest im Auge behaltend, blieb mit dem Rücken nahe der Wand ihr gegenüber und in seinem langen Mantel gewickelt stehen. Bald öffnete sie sich auch wieder und herein kam Bürgermeister Dalenborg.

Er trat dem Meister mit einem höhnisch siegbewußten Ausdruck im Gesicht langsam ein paar Schritte entgegen, verschränkte die Arme auf der breiten Brust und sagte in hochmütigem Tone: »Herr Sülfmeister, wen sucht Ihr hier?«

»Einen unschuldig Eingesperrten, Herr Bürgermeister!« antwortete Meister Gotthard, ohne sich zu rühren und denselben Ton anschlagend wie sein Gegenüber.

»Wißt Ihr nicht«, fragte Dalenborg, »daß der Rat jeden Verkehr mit den Gefangenen bei höchster Wette verboten hat?«

»O ja«, erwiderte der Meister, »und wenn ihr euch selber als Kettenhunde vor die Kerker legt, so haltet ihr eure Gefangenen wohl in sicherer Hut?«

»Ich sehe, daß es not tut, sie scharf zu bewachen vor Aufrührern und Empörern«, sprach Dalenborg.

»Wer ist hier der Aufrührer?« fragte Meister Gotthard heftig. »Wer hat sich gegen den rechtsmäßigen, vollmächtigen Rat der Stadt empört, Ihr oder ich?«

»Wer die Macht hat, hat auch das Recht«, gab Dalenborg zur Antwort.

»Wenn er kein Gewissen hat wie Ihr!« sprach der Meister. »Was tut Ihr zur Nachtzeit im blauen Turm?«

»Ich habe einigen Grund zu dem Verdacht, daß Ihr Viskule diese Nacht befreien wolltet«, erwiderte Dalenborg, »und das zu verhüten bin ich hier.«

»Das lügt Ihr in Euren Hals hinein!« rief der Meister. »Ich weiß die Wahrheit. Nicht Viskule – Ihr, Ihr habt mich herbestellt, herbestellt durch meinen eigenen Sohn!«

»Wer hat Euch das gesagt?« fragte Dalenborg betroffen.

Aber Meister Gotthard fuhr grimmig fort: »Daß ich Euch unbequem bin in der Stadt, das glaub' ich wohl; und daß Ihr mich gern unschädlich machtet, wenn Ihr könntet, will ich Euch auch nicht groß verübeln; aber daß Ihr mir meinen Sohn verführt und ihn zum Schelmen an seinem Vater gemacht habt, das – das sollt Ihr mir entgelten, Dalenborg!«

»Was schiert mich Euer Sohn! Mit dem hab' ich nichts zu schaffen; ich halte mich an Euch, und Euch hab' ich hier auf verbrecherischen Wegen ertappt wider des Rates Verbot.«

»Ertappt? Oder in den Hinterhalt gelockt und mir aufgelauert?«

»Wir wissen, wessen wir uns von Euch zu versehen haben«, erwiderte Dalenborg, »und daß Ihr hier seid, ist Beweis genug. Ihr bleibt auch hier; Ihr seid mein Gefangener, Henneberg! Es ist noch Platz im Turm.«

»Haha! Das wollt' ich bloß hören!« lachte der Meister bitter. »Blickt her! So geht man zu Euch!« Rasch schlug er den Mantel zurück; Harnisch und Haube, Schwert und Dolch blinkten dem anderen entgegen.

Dalenborg schoß einen wütenden Blick, sagte aber dann schnell gefaßt: »Das nützt Euch nichts. Ich frage: gebt Ihr Euch gutwillig in Haft?«

»So fragt ein Narr einen bewehrten Mann!« entgegnete Meister Gotthard schroff.

»Henneberg, vergebens bin ich nicht hergekommen!«

»Auch wohl nicht allein?« spottete der Meister. »Ruft Eure Knechte! Oder habt Ihr gleich Mörder gedungen? Aber seht Euch vor! Ich bin nicht gut gelaunt.« Er warf den Mantel ab und zog das Schwert.

Dalenborg stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Da ging die Tür auf, und drei Söldner erschienen.

»Greift ihn! Werft ihn nieder!« befahl Dalenborg,

Die Knechte zauderten, als die den reckenhaften, zornglühenden Mann da vor sich sahen, der sicher mit dem Todesmut der Verzweiflung sein Leben verteidigen würde.

Gotthard Henneberg nahm feste Stellung und sprach, die Arme spannend, laut und drohend: »Kennt ihr mich, Leute?«

»Hundert Mark, wer ihn zwingt!« rief Dalenborg.

»Hundert Mark! So billig!« höhnte der Meister. »Nun, wer verdient sich das Blutgeld? Hundert Mark zum ersten!«

Er machte eine Bewegung zum Angriff gegen sie, und nun drangen sie auf ihn ein.

Schnell deckte er sich wieder den Rücken mit der Wand und wie stählerne Schlangen blitzten seine Hiebe und Stöße im Halbkreis herum gegen die umgewandten Fechter, die glücklicherweise auch nur mit dem Schwert bewaffnet waren und ohne Lust und Vertrauen kämpften. Dalenborg sah mit gezogenem Schwert untätig zu; als aber einer der Knechte durch einen Stich in den Arm kampfunfähig wurde, griff auch er Gotthard Henneberg an, der nun, von einem nach seinem Blute dürstenden und dabei waffentüchtigen Feinde mehr bedrängt, in eine sehr schwierige Lage geriet. Es bedurfte der Riesenkraft, der stählernen Ausdauer und der ganzen Fechtkunst des um sein Leben kämpfenden Sülfmeisters, sich der Übermacht zu erwehren. Aber wie lange noch konnte er, einer gegen drei oder vier, sich halten? »Gebt Euch!« rief Dalenborg in das Stampfen und Eisenklirren hinein. »Niemals! Verfluchter Mörder!« schrie Gotthard mit Löwenstimme und suchte Deckung mit sausenden Hieben. Da, in höchster Not, erhob sich draußen in der Vorhalle ein Getöse und Gepolter von eilenden Schritten; laute Rufe erschallten, die Tür flog auf, und herein stürmten Arnold, Gilbrecht, Jakob und zuletzt auch Lutke, nur notdürftig angekleidet, mit bloßen Schwertern und Spießen, Lutke mit einem Beil in der Hand. Dippold folgte ihnen. Mit unwiderstehlicher Wucht stürzten sie sich auf die Söldner; Arnold warf sich auf Dalenborg, auch Dippold stand den Hennebergs bei und fiel mit über die Knechte her. Nach einem kurzen, wütenden Ringen waren die Gegner entwaffnet und in eine Ecke gedrängt. Arnold hielt Dalenborg an der Gurgel gepackt und schüttelte ihn mit nerviger Faust, daß er braun und blau im Gesicht ward. »Du Hund! Du Schuft! Du hast uns betrogen! Der ist schuld, Vater!« schrie Arnold ganz außer sich und hätte seinen Feind erdrosselt, wenn nicht Meister Gotthard den schon Widerstandslosen aus den umklammernden Händen des wild Erbosten befreit hätte. Erhitzt und keuchend standen sich die Kämpfer gegenüber, aber Dalenborg und die Knechte besiegt und wehrlos.

»So!« sagte Meister Gotthard, nachdem sich alle etwas verschnauft hatten. »Jetzt wollen wir das Ding zu Ende bringen. Ihr meintet, Dalenborg, es wäre noch Platz hier im Turm; das ist mir sehr lieb. Dippold, sperre diese Burschen ein, damit sie nichts ausplaudern können. Arnold und Gilbrecht, geht mit!«

Die drei Knechte wurden abgeführt und hinter Schloß und Riegel gebracht. Dalenborg saß auf einer Bank an der Wand, stumm, zitternd und bebend in ohnmächtiger Wut.

Als Dippold mit Arnold und Gilbrecht zurückkam, fragte Meister Gotthard: »Sitzen sie fest?«

»Ganz fest, Vater!« erwiderte Gilbrecht.

»Nun Ihr, Dalenborg!« sprach der Meister. »Ihr tauscht mit Viskule. Den nehmen wir mit, und Euch lassen wir hier; auf!«

Dalenborg sträubte sich. »Sollen wir die Kraft gebrauchen?« fragte Arnold. »Gilbrecht, faß an!«

Nicht mit sanften Händen schleppten die ihrer Stärke nie froher gewesenen Brüder den Gefangenen zu Viskules Kerker, während Dippold leuchtend vorausging und aufschloß.

»Komm heraus, Heinrich! Du bist frei!« rief Gotthard Henneberg freudebewegt, ging aber selber hinein und zog den alten lieben Freund an seine Brust.

»Gotthard! Gotthard! Du kommst! Du holst mich?« sprach der Ratsherr.

»Ja, Heinrich, die Hennebergs kommen und holen dich«, erwiderte Gotthard und führte ihn in seinen Armen hinaus.

Heinrich Viskule verließ den Kerker, und Dalenborg wurde hineingestoßen.

»So!« sagte der Meister. »Einen hätten wir nun schon!«

Auch Arnold und Gilbrecht umarmten den befreiten Ratsherrn, und Gilbrecht küßte ihm dabei sein weißes Haar. Er war bleich und abgehärmt, aber sein Gefängnis war nicht ganz übel gewesen, denn sein Wächter hatte ihn mit Milde und Sorgfalt behandelt. Sie geleiteten ihn in das Gemach, wo der Kampf stattgefunden hatte, und Gotthard Henneberg sagte zu Dippold: »Dippold, du hast mich hier fälschlich hergelockt zu meinem Schaden und Verderben – ich weiß, es geschah auf Dalenborgs Befehl; dann hast du mich gewarnt, als ich kam, hast uns beigestanden im Streite. Gelobst du mir jetzt Hand in Hand, Dalenborg unter keinen Umständen ohne meinen Willen loszulassen, so bin ich dein Freund.«

»Mit beiden Händen schwör' ich's dir, Henneberg!« rief Dippold und ergriff des Sülfmeisters Hand.

Der drückte und schüttelte ihm die seine und sagte: »Über anderes reden wir später.«

Jetzt stellte sich Arnold vor seinen Vater hin und sprach. »Vater, was hast du von mir gedacht?«

Der Meister legte die Hände auf seines Sohnes Schultern, blickte ihm tief in die Augen und sagte: »Arnold, das Schlimmste, was ein Vater von seinem Sohne denken kann. Ich dachte, du wärest mit meinen Feinden im Bunde.«

»Vater!«

»Sage mir: warum warst du so verlegen und ängstlich, als du mir die Botschaft ausrichtetest, aus der du doch selber kein Arg haben konntest?«

»Um derentwillen, Vater, die, als sie die Wahrheit erfuhr, in Todesangst gelaufen kam, um mich zu deiner Rettung herauszuklopfen – wegen der Ursula, Vater, die ich meiden soll und –«

»Sollst sie haben, Junge!« rief freudig der Meister. »Hast sie dir wacker erkämpft.«

Da warf sich der Sohn an des Vaters Brust. »Habt Ihr's gehört, Meister?« sprach er zu Dippold. »Gilbrecht, ich habe eine Braut!« rief er dem Bruder zu, der im Gespräch neben Viskule saß.

»Ich bringe dich wieder ins Amt, Dippold!« sagte der Meister. »Aber nun kommt, daß wir Viskule zu den Seinen führen. Dippold, halte mir Dalenborg fest!«

»Keine Sorge. Henneberg!« erwiderte Dippold. »Ich bürge dir für ihn.«

Nun verließen sie den Turm. Heinrich Viskule schritt zwischen Gotthard und Gilbrecht, auf ihre Arme gestützt, und sog in der lauen Sommernacht die Luft der Freiheit mit vollen Zügen ein. Sie mußten langsam mit ihm gehen und hatten Zeit genug, ihn von allen Vorkommnissen während seiner Gefangenschaft zu unterrichten. Von Hildegunds Aufenthalt im Kloster sagten sie ihm vorläufig nichts. Er dachte nicht anders, als daß ein siegreicher Aufstand der Bürger den neuen Rat gestürzt hätte, um den alten in seine Ehren und Würden wieder einzusetzen, und war nicht wenig erstaunt, als er erfuhr, daß er der erste und einzige der eingekerkerten Ratsherren war, den die Hennebergs befreit hatten, wovon er böse Folgen für seine Befreier fürchtete. Meister Gotthard beruhigte ihn jedoch und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was den Ratsherrn sehr zu erfreuen schien. Dann fragte er, ob Lüneburg verhanset wäre, und atmete erleichtert auf, als ihm diese Frage verneint und ihm mitgeteilt wurde, daß die große Kaufmannsgilde der Zirkeler in Lübeck erklärt hätte, des Lüneburger Salzes für ihren Großhandel nicht entbehren zu können.

Als man am Viskulenhof angekommen war und Martin geweckt hatte, ward der Alte schier unsinnig vor Freuden, seinen geliebten Herrn wiederzuhaben. Er küßte ihm die Hände und hätte ihn am liebsten in seinen Armen die Treppe hinaufgetragen, aber Meister Gotthard und Gilbrecht ließen es sich nicht nehmen, ihren erlösten Freund selber seinen Kindern zu übergeben, und begleiteten ihn hinauf, während Arnold, Jakob und Lutke nach Hause eilten, um Frau Johanna und Ilsabe den glücklichen Ausgang zu melden.

Gilbrecht klopfte ebenso wie gestern früh an Balduins Kammertür und erhielt ein ebenso verdrießliches: »Was denn nun schon wieder?« zur Antwort. Aber die nächtliche Störung wurde Balduin reich vergolten, als er seinen Vater wiedersah.

Von Martin benachrichtigt, erschien auch Hildegund, in der Eile und der Freude ihres Herzens nur von einem leichten Morgengewand umhüllt, wie sie Gilbrecht noch nie gesehen hatte. Er wurde beinahe ebenso verwirrt darüber wie sie, als es ihr erst einfiel, in welcher Kleidung sie sich ihm zeigte. Sie errötete, aber was galten kleinliche Bedenken zu dieser Stunde! Nun hatte er sie einmal gesehen, also blieb sie wie sie war, und schön war sie auch so, erst recht.

»Sage mal, Gilbrecht«, fragte Balduin, »wer kommt denn nun morgen an die Reihe, von dir befreit zu werden? Du bist mal im Zuge, und ich lege für Herrn Marquard Mildehövet ein gutes Wort ein.«

Gilbrecht lachte und winkte dem Freund, zu schweigen.

Herr Heinrich Viskule sollte aber nun der Ruhe wieder in seinem eigenen Bett genießen, und die Hennebergs entfernten sich.

Im Goldenen Ei trafen sie die anderen noch alle beisammen, denn Johanna und Ilsabe, die von dem Lärm der fortstürmenden Hausgenossen aus dem Schlaf gestört waren, hatten ihre Rückkehr in peinvoller Ungeduld erwartet und wollten nun hören, was sich im blauen Turm zugetragen hatte. Es ward ihnen auch alles erzählt, aber Meister Gotthard verschwieg des Kellermeisters Geheimnis und seine Warnung. Bei Erwähnung des heißen Kampfes, den Gotthard zu bestehen gehabt hatte, umfing ihn Johanna tiefbewegt, teils in nachträglichem Schrecken über die große Gefahr, in der er geschwebt hatte, teils in unsäglicher Freude, daß er glücklich daraus entkommen war. »Gotthard! Gotthard!« sagte sie sanft vorwurfsvoll. »Wie kannst du uns das antun und dich wissentlich und ganz allein in ein so verzweifeltes Wagnis stürzen?«

»Dafür hatte ich ja den Panzer umgeschnallt, Johanna«, lächelte er ruhig, »und ich wollte doch sehen, wie weit die Schufte ihre teuflische Frechheit treiben würden.«

Arnold gab nun Aufklärung über den Sachverhalt des Geschehenen, soviel er selber davon wußte und aus Ursulas hastigen Worten entnommen hatte; das noch Fehlende im Zusammenhang des Ganzen ließ sich danach leicht hinzufügen.

Dalenborg, von den Beziehungen Arnolds zu der Tochter des Schließers im blauen Turm unterrichtet, hatte diesem den Befehl erteilt, den Meister Henneberg durch Vermittlung der beiden heimlich Versprochenen in den blauen Turm zu bestellen, unter dem Vorwand, daß ihn sein Freund Viskule zu sprechen wünsche. Dippold war Henneberg feindlich gesinnt, und hier bot sich ihm eine Gelegenheit zur Rache, die er gern ergriff und für die er nicht einmal die Verantwortung zu tragen brauchte. Er leistete also dem Befehl Folge, ohne Ursula von dessen wahrer Bedeutung etwas merken zu lassen, Als aber die Stunde kam, in der er einen so schnöden Verrat begehen oder begehen helfen sollte, regte sich in ihm das Gewissen wie vor einem geplanten Mord, und er eilte zu seiner Tochter, die nach wie vor mit der Mutter in dem kleinen Hause auf der Rübekuhle wohnte, entdeckte ihr den Trug und gebot ihr, Henneberg augenblicks vor der ihm drohenden Gefahr zu warnen. Ursula lief, was sie konnte, kam aber doch mit ihrer Warnung zu spät. Von Arnold, der auf ihr Klopfen öffnete, erfuhr sie zu ihrer Bestürzung, daß der Meister schon fortgegangen war. Schnell weihte sie Arnold in die Hinterlist ein, und dieser flog die Treppe hinauf und weckte die Brüder und Jakob. Ihn marterte das schreckliche Bewußtsein: du selber hast deinen Vater in den Turm bestellt; was muß er von dir denken, wenn er sich dort überfallen und verraten sieht! Diese Angst, zu der sich blitzschnell noch die Gedanken an Dippold und Ursula gesellten, wollte ihn schier rasend machen, und mit herzerschütternden Rufen trieb er die anderen zur höchsten Eile, als sie durch die dunklen Gassen dahinsausten, wo der Vater in Not war. Im Augenblick der größten Gefahr trafen sie ein; um ein Ave später, und ihr Vater wäre verloren gewesen.

Wie glücklich waren nun die Hennebergs, als sie hier zu nächtlicher Stunde im Kreise um den Geretteten saßen! Sie hatten ihn wieder, und er hatte dabei noch seinen besten Freund erlöst; sein ältester Sohn war nicht als ein Schelm und Verräter entlarvt, sondern hatte sich dem Vater in treuer Liebe mannhaft bewährt.


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