Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Zwanzigstes Kapitel

In seiner prächtigen, von einem schwül feierlichen Ernst durchwitterten Amtsstube saß am anderen Morgen der Bürgermeister Johann Springintgut und ihm gegenüber Gotthard Henneberg, der dem Lenker der Stadt soeben ausführliche Meldung von der gestrigen Gesellenversammlung in der Heide gemacht hatte.

Die beiden Männer waren so recht die natürlichen Vertreter der gesamten Einwohnerschaft Lüneburgs und jeder einzelne von ihnen das ausgeprägte Bild seines Standes. Der Bürgermeister, von Geburt ein Angehöriger und durch seine Stellung das Haupt des alten Stadtadels mit den anerkennenswerten Vorzügen und den nicht zu bemäntelnden Schwächen seines Standes, war stolz, herrschsüchtig und voll Ehrgeiz bemüht, nicht nur die Vorrechte, sondern auch die Machtbefugnisse seines Amtes geltend zu machen und über die Gebühr auszudehnen. Der Böttchermeister aber, ein kernfester und bei aller Bescheidenheit doch selbstbewußter Handwerker, war mit seinem angeborenen und stark ausgebildeten Unabhängigkeitssinn wachsam und entschlossen, keins der althergebrachten bürgerlichen Rechte durch den Rat und die Geschlechter verkümmern zu lassen. Dem Bürgermeister, der sich als Regierender der reichen Hansestadt fast einem Reichsfürsten gleich dünkte, erwies er alle schuldige Ehrerbietung, versagte ihm aber jede schmeichelnde, eines freien Mannes nicht würdige Huldigung. Sie verkehrten auf Grund gegenseitiger Achtung in einer gemessenen und doch gefälligen Höflichkeit miteinander, bei der keiner seiner Stellung etwas vergab.

Herr Springintgut hatte in lässig vornehmer Haltung in seinem hohen Lehnstuhl sitzend der Erzählung des Meisters Gotthard mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Die harten, strengen Züge seines durchgeistigten Gesichts mit der hohen Stirn und den durchdringenden Augen hatten nicht gezuckt, die schmalen, blaugeäderten Hände, die aus der feinen dunklen Kleidung sahen, hatten sich nicht geregt, während der Meister in seiner einfachen Art den Vorgang schilderte und gar nichts daraus machte, daß er ganz allein den Aufrührern entgegengetreten war. Der Bürgermeister kannte ja den Böttcher seit langen Jahren, aber die Kraft, die Ruhe und Sicherheit, die aus des Meisters Worten und Wesen sprachen, flößten ihm in dieser Stunde soviel Vertrauen und Neigung zu dem Mann ein, wie nie zuvor. Er schickte an Dalenborg und Sengstake den Befehl, sogleich auf dem Rathause vor ihm zu erscheinen, und sprach dann: »Ihr haltet also den Aufstand damit für abgetan, Meister Henneberg?«

»Ja, Herr Bürgermeister!« entgegnete Meister Gotthard. »Sie haben entweder sehr schnell ein gebührliches Einsehen getan, daß sie nur verführt und gebraucht werden sollten, oder sie hätten sich erbärmlich feige benommen, und Feigheit kann man unseren Handwerksknechten gemeiniglich nicht nachsagen.«

»Nein, da habt Ihr recht. Und Eure Amtsbrüder von den anderen Gilden sind derselben Meinung wie Ihr?«

»Ganz derselben Meinung, und sie hoffen auch ebenso wie ich, daß Ihr den Knechten gegenüber diesmal noch Gnade vor Recht ergehen laßt.«

»Den Knechten gegenüber, meinetwegen, wenn Ihr selber für sie bittet; aber gegen den Schusterknecht auch?«

»Dem könnte ein kleiner Denkzettel nicht schaden, indessen ich rate auch ihm gegenüber zur Nachsicht. Hesterwegen könnte ihm einen scharfen Verweis in Gegenwart seines Meisters erteilen und ihm für das nächste Mal eine desto härtere Strafe ankündigen.«

»Sehr milde, sehr milde, lieber Meister! Aber es mag geschehen, wie Ihr wünscht.«

»Es ist klug, Herr Bürgermeister, glaubt mir!« sprach Meister Gotthard. »Wir tun besser, wenn wir den Aufstand als einen dummen Streich behandeln, den wir den Gesellen nicht hoch anrechnen, um ihnen zu zeigen, daß sie sich damit nur lächerlich gemacht haben.«

»Nehmt Ihr die Sache wirklich so leicht, Meister Gotthard?« fragte Springintgut.

»Nein, durchaus nicht, Herr Bürgermeister!« erwiderte der Meister. »Und ich habe meines eigenen Sohnes wegen am meisten Grund, sie sehr ernst zu nehmen. Aber die Gesellen müssen glauben, der Rat und die Ämter fühlten sich viel zu stark, als daß wir uns vor ihnen zu fürchten und schon gegen den mißlungenen Versuch eines Aufstandes mit Strenge einzuschreiten hätten. Dagegen würde ich – doch das soll auf der Herren Behagen stehen.«

»Sprecht es nur aus, Meister!« lächelte Springintgut. »Dagegen würdet Ihr die beiden Schufte Dalenborg und Sengstake desto fester anfassen. Ja, das versteht sich! Seht, Meister Henneberg, da sind wir schon wieder einmal einerlei Meinung, nicht wahr?«

»Ganz und gar!« erwiderte der Meister.

Da wurde die Tür aufgestoßen, und der Ratsherr Ludolf Töbing sauste unangemeldet herein, wie das so seine formlose Art war.

»Guten M – Blut und Blau, der Sülfmeister bei unserer hochedlen Wohlweisheit!« rief er, starr vor Staunen, ehe er die Tür krachend zuwarf. »In aller Sumpfsiedehöllenteufel Namen! Kinder, was gibt's? Soll's losgehen in Lüneburg?«

»Beinahe wär's losgegangen, Töbing«, lachte der Bürgermeister, »wenn Meister Gotthard Henneberg nicht dazwischengefahren wäre.«

»Erzählt, Meister, erzählt! Wo seid Ihr zwischengefahren?« fragte Töbing neugierig und warf sich rittlings auf einen Stuhl, die gekreuzten Arme vor sich auf die Lehne stützend. Nun ward ihm von der gestrigen Gesellenversammlung auf grüner Heide und von Dalenborgs und Sengstakes Teilnahme daran erzählt.

»Her mit den Halunken!« rief er da. »Laß sie einstecken, Springintgut! Ins steinerne Weinfaß mit ihnen! Da sitzen sie sicher und ohne Rauch und Trauf, wie es die Geturnten verlangen können.«

»Ich habe sie schon entbieten lassen«, sprach der Bürgermeister und zog an einer Glockenschnur. Ein Ratsdiener trat ein. »Sind Dalenborg und Senkstake noch nicht da?«

»O doch, Herr Bürgermeister! Sie warten draußen«, sagte der Diener.

»Laß sie eintreten, und der Schließer soll sich bereithalten.«

»Sehr wohl, Herr Bürgermeister!« Der Diener entfernte sich wieder.

»Da bin ich ja zur guten Stunde gekommen«, lachte Töbing. »Springintgut, soll ich dich nicht erst noch ein wenig warm machen?«

»Danke, Freund! Ist nicht nötig«, lächelte der Bürgermeister.

Dalenborg und Sengstake traten ein und verbeugten sich, was ihnen niemand erwiderte.

»Ihr seid gestern mit den Handwerksknechten auf grüner Heide gewesen, habt sie zum Aufstand verleitet und gegen den Rat und ihre Meister aufgewiegelt«, begann der Bürgermeister in strengem Ton.

»Wir haben niemand verleitet oder aufgewiegelt«, entgegnete Dalenborg.

»Ganz das Gegenteil haben wir getan, hochedler Herr Bürgermeister«, sprach Sengstake. »Wir haben die Handwerksknechte zu stillen und in ihren Forderungen zu mäßigen gesucht, damit keine Weitläufigkeit verursacht werde.«

»Ihr seid bei einem aufrührerischen Vornehmen betreten und betroffen worden, dem ihr euren Beistand zugesagt habt. Wie kommt ihr dazu?« fragte der Bürgermeister.

»Auf inständige Bitten vom ältesten Sohne des Meisters Henneberg hier haben wir uns nach langem Weigern dazu bereitfinden lassen, sonder allen bösen Wahn«, erwiderte Sengstake.

»Und um schädliche Irrungen zu vermeiden, daraus Unlust, Unkosten und Schaden entstehen, und um allerhand Behinderung und Benachteiligung von gemeiner Bürgerschaft abzuwenden«, setzte Dalenborg hinzu.

»Warum habt ihr, wie es eure beschworene Pflicht war, dem Rate von den Verabredungen zu der Rottierung nicht vorher Anzeige gemacht?« fragte der Bürgermeister.

»Weil wir vorher nichts davon gewußt haben.«

»Das ist eine verdammte Lüge!« sagte Meister Gotthard. »Ich habe glaubliche Kundschaft, daß ihr die Rotterei schon am Dienstag vor acht Tagen mit meinem Sohn und dem Schusterknecht hier im Weinkeller beraten habt.«

»Ihr werdet gut bedient von Euren Kundschaftern«, bemerkte Dalenborg bissig.

Der Meister gab darauf keine Antwort. Aber Töbing sprach: »Auf Halunken wie ihr muß man ein fleißiges Aufsehen haben.«

»Herr Ratsherr –!« brauste Dalenborg auf.

»Herr Halunke! Was beliebt?« fuhr ihn Töbing an.

»Ich lasse mich nicht mit Scheltworten betasten und verunglimpfen«, versetzte Dalenborg zornrot.

Töbing packte mit beiden Händen die Stuhllehne, als wollte er aufspringen. Der Bürgermeister machte jedoch eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand, und Töbing blieb sitzen und schwieg.

»Genug!« sagte Springintgut und klingelte; der Ratsdiener trat ein. »Der Schließer!« Als auch dieser kam, befahl er: »Diese beiden hochachtbaren Herren sperrst du sofort ins steinerne Weinfaß und läßt sie erst einen Tag nach der Kopefahrt wieder los. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Bürgermeister!«

»Gut! Vorwärts!«

»Einen Tag nach der Kopefahrt, gestrenger Herr Bürgermeister?« grinste Dalenborg höhnisch. »Das ist ja fein ausgerechnet. Also, ihr Herren, auf Wiedersehen einen Tag nach der Kopefahrt!«

Dann gingen die beiden mit dem Schließer ab.

Was war das? Was wollte Dalenborg mit dieser höhnischen Bemerkung sagen? – so fragten sich die drei Zurückbleibenden.

»Sie haben zur Kopefahrt etwas vor«, sagte Töbing, »vielleicht wollen die Handwerksknechte doch noch losbrechen.«

»Ich glaub' es nicht, Herr Ratsherr«, sprach Meister Gotthard. »Es könnte jetzt auch nicht mehr geschehen, ohne daß wir Meister vorher Wind davon kriegten.«

»Gefaßt müssen wir auf alles sein«, meinte der Bürgermeister.

»Schlagfertig und gerüstet!« sagte Töbing.

»Auf die Gilden könnt Ihr zählen«, sprach Meister Gotthard. »Aber was Dalenborg meinte, kann ich nicht erraten.«

»Es ist kein Zweifel«, sagte der Bürgermeister, »er weiß etwas, was wir nicht wissen.«

»Blut und Blau!« rief Töbing. »So laß ihn doch peinlich befragen; vielleicht drückt er los. Wozu haben wir denn die hübschen Dinger da hinten in der schwarzen Kammer?«

»Meinst du?« fragte der Bürgermeister.

»Freilich! Und den anderen zur Gesellschaft gleich mit!« Und wieder packte er den Stuhl, daß der in allen Fugen knackte.

»Laß mir nur den Stuhl ganz«, lächelte Springintgut, »der sagt dir nichts. Warten wir ab, was geschieht; gewarnt sind wir ja.«

»Auch meine Meinung!« sprach Meister Gotthard und erhob sich, um zu gehen; Töbing mit ihm. »Was ich eigentlich bei dir wollte, Springintgut«, sagte er, »hab' ich nun vergessen; also auf ein andermal! Kommt, Sülfmeister! Ich bring' Euch ein Stück, daß Euch keiner was tut«, lachte er, und die beiden großen und starken Männer ließen den Bürgermeister allein in seinem Gemach.

Von denen, die den Ratsherrn Ludolf Töbing mit dem Meister Gotthard Henneberg gehen sahen, dachten die einen: ›Hm! Der Ratsherr wirbt um Freundschaft bei den Ämtern, das ist ja etwas ganz Neues.‹ Und die anderen: ›Wie sich der Sülfmeister an die Großen drängt. Das war doch sonst seine Art nicht.‹

Als sich ihre Wege schieden, sprach Töbing: »Sülfmeister, wenn's losgeht – ich sag' Euch: wo ich dann hinschlage, da wächst kein Gras wieder.«

»Glaub' ich, Herr Ratsherr!« lächelte der Meister. »Jeder Hieb muß eine Schmarre geben, daß ein Gaul daraus saufen kann.«

Der Ratsherr lachte, daß es über die Straße schallte und sich neugierige Köpfe an den Fenstern zeigten.

Sie schüttelten sich die Hände und trennten sich.

Der Weg des Schließers mit den beiden Gefangenen führte von des Bürgermeisters Amtsstube in die große, überaus prächtige Gerichtslaube mit ihren herrlich gemalten Fenstern, Wänden und Deckengewölbe und ihrem bunten Fußboden, wo in rautenförmigen Fliesen der blaue Lüneburgische Löwe mit einem grünen gotischen Blattkreuz abwechselte. In dem Fußboden befand sich eine Falltür zu einer schmalen Wendeltreppe. Diese führte hinab zum Ratsweinkeller und zu der alten Luftheizungsanlage, backofenähnlichen Gewölben, durch die vermittels Röhren die große Halle der Gerichtslaube von unten her geheizt wurde. Drei Gewölbe lagen hier übereinander; das oberste war die Laube, das unterste die Herrentrinkstube des Ratskellers, der sich noch unter der Kapelle des kleinen Heiligen Geistes bis zum Ochsenmarkt hinzog. In der Mitte war das Heizungsgewölbe und dicht an der Treppe ein enger, stockfinsterer Kerker, der wegen seiner Lage über dem Weinkeller das steinerne Weinfaß genannt wurde. Dahinein wurden Dalenborg und Sengstake gesperrt, und es ward ihnen übel zu Sinne, als sie sich in der Finsternis der dicken Mauern zurechttappten, was mit wenig Schritten getan war.

»Vergnügte Pfingsten!« brummte der Schließer und schob auch den letzten Riegel vor die eisenfeste Tür.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht durch die Stadt: der Sülfmeister hätte einen großen Gesellenaufstand unterdrückt, ehe noch irgendein anderer Bürger in Lüneburg von dem Vorhandensein eines solchen oder den Vorbereitungen dazu etwas gemerkt hatte. Wieder war er es gewesen, der die Stadt zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit vor Hader und Streit bewahrt hatte. Wie er nach der ratsfeindlichen Predigt am Sonntag Rogate die aufgeregten Meister mit seiner Rede im Bierkeller beschwichtigt, so hatte er jetzt draußen in der Heide ganz allein, mit dem Schwert in der Hand, die aufrührerischen Gesellen zu Paaren getrieben. Mit Stolz und Staunen, mit Dankbarkeit und Hochachtung blickten die meisten Bewohner der Stadt auf diesen ihren Mitbürger. Viele sahen auch mit Besorgnis und nicht wenige mit Neid die immer noch wachsende Gewalt des einen Mannes, der nichts weiter war und nichts anderes werden wollte als ein ehrbarer Handwerker und Amtsmeister seiner Gilde.

In den Werkstätten ging es die nächsten Tage still her. Es wurde fleißig gearbeitet, aber kein lustiges Lied erklang dabei, kein munteres Scherzwort wurde laut; die Knechte ärgerten und schämten sich, und die Meister hegten Unwillen und Mißtrauen gegen sie, ersparten ihnen auch hier und da nicht bittere Vorwürfe. Die Meisterfrauen ergriffen zwei verschiedene Maßregeln gegen ihre Knechte im Hause. Die Mutigen verdroß es, daß für alle freundliche Behandlung und gute Pflege nur Unzufriedenheit und Aufsässigkeit der Lohn sein sollte, und sie beschlossen, den Undankbaren den Brotkorb fortan etwas höher zu hängen und ihnen ein ernsteres Gesicht zu zeigen. Die Ängstlichen aber, die vielleicht auch in bezug auf die Verpflegung ihrer Leute kein so gutes Gewissen hatten, suchten die Mißvergnügten durch kleine Aufmerksamkeiten versöhnlich zu stimmen, strichen ihnen die Butter dicker aufs Brot, kargten weniger mit dem Fleisch und hatten öfter ein gnädiges Wort für sie. Die so Geschmeichelten waren die einzigen, denen der Aufstand noch etwas anderes einbrachte als Rügen und Mißtrauen; sie nahmen das bessere Leben gern und gelassen hin.

Dagegen hatten die Gesellen samt und sonders einen schweren Stand mit ihren Schätzen, wer von ihnen ein Schätzchen besaß. Wie auf Verabredung machten die Mädchen ihren Herzallerliebsten die Hölle heiß, und bis Pfingsten – übermorgen war Pfingstsonntag – gab es in Lüneburg keinen heimlichen Kuß.

Auch Timmo hatte es die nächsten Abende nicht so gut wie sonst bei seiner Florentine, der hübschen Zofe von Frau Walpurg Grönhagen. Sie war nichts weniger als spröde, aber diesmal machte sie es wie die anderen und stellte sich auf die Seite der Meister, die von einem derartigen geheimen, aber nachdrücklichen Beistande keine Ahnung hatten.

Eine Mädchenverschwörung schien die nächste Folge der Gesellenverschwörung, und die jungen Helden mußten wieder einmal alle ein und dieselbe Predigt hören mit nachdrücklichster Vorhaltung ihres Leichtsinns, sich in Dinge eingelassen zu haben, die zur Auswanderung aus der Stadt hätten zwingen können. Was dann aus ihnen armen Mädchen hätte werden sollen, von wem sie sich hätten lieben und drücken lassen sollen, mitgenommen hätten die weitherzigen Gesponse sie doch nicht. Die Gesellen mußten ihren schmollenden Liebchen alles mögliche versprechen, ehe wieder Rück und Schick in die zärtlichen Verhältnisse kam.

Den traurigsten Eindruck aber machte die Kunde auf Ursula Dippold. Ihr war es kein Zweifel, daß der eigentliche Anstifter des Aufstandes Arnold war, und zwar aus Liebe zu ihr, um dadurch seinen Vater zum Nachgeben zu zwingen und sich von der Pflicht, ins Amt zu heiraten, zu befreien. Sie selber also war die freilich schuldlose Urheberin des Unternehmens gewesen, das um ein Haar die schwersten Folgen für das gesamte Handwerk in der Stadt gehabt hätte. Und wieder war es gerade Arnolds Vater gewesen, der die hochfliegenden Pläne kurzerhand niedergeworfen hatte. Der würde wohl wissen, wo er den Keim zu der Verschwörung zu suchen hatte, und sein Groll auf sie würde nun erst recht ohne Maß und Grenzen sein. Das also war Arnolds letzte Hoffnung gewesen, auf die er sie vertröstet hatte und nach deren Fehlschlägen ihnen nun nichts mehr übrigblieb, als Entsagung oder Flucht.

Am Abend kam Arnold. Weder von Ursula noch von ihren Eltern hörte er ein Wort der Klage, aber in den Augen der Geliebten las er den grausamen Jammer eines verzweifelnden Herzens. Weil sie nicht fragten, so erzählte er beklommenen Mutes alles von selbst und fügte hinzu, sein Vater wäre heute drauf und dran gewesen, ihn zu verstoßen, und nur durch die heißen Bitten von Mutter, Schwester und Bruder hätte sich der Meister bewegen lassen, ihn im Brote zu behalten, aber er spräche nun kein Wort mehr mit ihm, weder bei Tisch noch bei der Arbeit, schiene ihn gar nicht mehr zu sehen im Hause. Von einem Fluchtplan sagte Arnold in Gegenwart von Ursulas Eltern natürlich nichts, und um seinen Fragen auszuweichen, geleitete sie ihn bei seinem Weggehen nicht hinaus. Auf seinen tiefen, forschenden Blick neigte sie traurig das Haupt und schwieg.

Timotheus Schneck wartete am Freitagmorgen nicht ab, daß Meister Daniel sein Reisegepäck, das bekannte Paar Schuhe, unter den Arm nahm und sich auf seine Wanderschaft durch die Stadt begab, um zu Mittag mit einem ganzen Sack voll Neuigkeiten zurückzukehren, bei deren Ausschüttung er, Timmo, zweifellos weit schlechter fahren würde, als wenn er selber seinen Meistersleuten die erste Mitteilung von dem Geschehenen machte. Langsam und vorsichtig brachte er es ihnen bei und suchte es so harmlos wie möglich darzustellen. Er fing von dem schönen Regen an, wie rein und erquickend die Luft danach geworden wäre; er wäre gerade mit einigen guten Bekannten auf einem Spaziergange nach dem Mönchsgarten gewesen, und da hätte sie der Regen in der Heide überrascht. Es hätte sich eine ganze Menge Handwerksknechte dort zusammengefunden, um sich über ein paar unbedeutende Brüderschaftsangelegenheiten zu verständigen, die sie ihren ehrbaren Meistern vorlegen wollten, deren erfahrenen und günstigen Rat sie doch nicht ganz dabei entbehren möchten. Es hätte sich freilich meist um Dinge gehandelt, die ihn eigentlich gar nichts angingen, zum Beispiel um das Heiraten ins Amt, was ihm sehr gleichgültig sein könnte, denn er dächte überhaupt nicht an Heiraten. Dann wären auch noch andere Vorschläge gemacht worden, er glaubte zum Beispiel über die Mutzeit vor dem Meisterwerden; er hätte gar nicht mal recht hingehört, denn das läge ihm ja ebenso fern wie das Heiraten. Dalenborg und Sengstake wären dann auch erschienen und hätten, von einigen Gesellen befragt, ihre Meinung auch beiläufig abgegeben, aber viel Gescheites wäre dabei nicht herausgekommen. Mit einem Male wäre wie aus dem Boden tauchend der Sülfmeister dazwischen getreten und hätte auf sie losgescholten, als wenn sie mitten in einem Aufstande begriffen gewesen wären, woran noch kein Mensch gedacht hätte. Sie hätten das im Bewußtsein ihrer Unschuld ruhig über sich ergehen lassen und sich darauf still und friedlich nach Hause begeben.

Die ganze Beschreibung kam nicht in einem Fluß aus Timmos Munde, sondern in einzelnen Bruchstücken, die er sich geschickt mehr abfragen ließ, als daß er sie im Zusammenhange aneinandereihte. Er wollte ja damit nur vorbereiten, um, je nachdem der Mittagsbericht Meister Daniels lauten würde, dann noch manches zu ergänzen, einzuräumen, zu drehen und zu wenden, vor allem aber sich weiß zu waschen und alle Schuld demjenigen in die Schuhe zu schieben, den man in der Stadt für den Schuldigsten außer ihm selber halten würde, mochte dies nun Arnold oder Sengstake sein.

Meister und Meisterin hatten ihrem Gesellen mit aufmerksamer Neugier zugehört und in der Hauptsache Glauben geschenkt. Als er aber Sengstakes Namen in die Erzählung einflocht, war Frau Gesche mißtrauisch geworden, und als er gar das Auftreten des Sülfmeisters erwähnte, stiegen selbst Daniel bedenkliche Zweifel an der Unschuld der in der Heide versammelt gewesenen Handwerksknechte und ihrer Absichten auf, und er traf den Nagel auf den Kopf, als er am Schlusse von Timmos Mitteilungen sagte: »Kurz und gut, ihr seid gestern auf grüne Heide gegangen.«

»Ah ein, Meister! Nein! So dürft Ihr's nicht gleich nennen, so böse war's nicht gemeint«, erwiderte Timmo.

»Nun, wir werden ja mehr darüber hören«, sprach Gesche mit einem lauernden Seitenblick. »Daniel, da liegen deine Schuhe; mache, daß du fortkommst!«

Dieser Aufforderung bedurfte es kaum, um dem Meister Daniel Beine zu machen. Im Umsehen war er wanderfertig und zum Hause hinaus.

Timmo hatte nun bei der Arbeit manche ihm höchst unbequeme Frage seiner Meisterin über die näheren Umstände der gestrigen »harmlosen Besprechung von unbedeutenden Brüderschaftsangelegenheiten« während des langen Vormittags auszuhalten, wand sich aber glatt wie ein Aal aus allen ihm listig gelegten Schlingen heraus. Trotzdem war es ihm auf seinem Schusterschemel nicht recht geheuer, und daß auch der pfiffige Junge, der Hans, aus den Fragen der Meisterin allerlei Unrat witterte, bewiesen ihm dessen ängstliche, wechselvolle Gesichter. Timmo selber war übrigens darauf gefaßt, daß die Haupthandlung noch ein kleines Nachspiel haben würde, und zwar eines unter seiner mehr oder minder lebhaften Beteiligung. Er überlegte sich daher im stillen alle Möglichkeiten von rächenden Schritten, mit denen man ihm allenfalls zu Leibe gehen könnte, und der Schlaufuchs besann sich im voraus auf eine Unzahl von Winkelzügen und Seitensprüngen, um sich nicht fassen zu lassen.

Endlich kam der gefürchtete Mittag heran und mit ihm Meister Daniel zurück. »Na! fing er an. »Schöne Geschichten! Dalenborg und Sengstake sitzen im steinernen Weinfaß.«

»Das hab' ich mir gedacht!« rief Timmo schnell.

»Ja, und nachher kommst du dran!« sagte Daniel.

»Ich, Meister? Ich? Wieso denn ich?«

»Du bist ja der schlimmste von allen gewesen, hast ja das Regiment geführt!«

Gesche schlug die Hände zusammen; Hans sperrte Maul, Nase, Ohren und Augen auf. Timmo sagte: »Meister, dankt Eurem Schöpfer, daß ich das Regiment geführt habe. Ich allein habe noch Zucht und Ordnung gehalten; sonst wäre alles drüber und drunter gegangen, und sie hätten euch diese Nacht die Häuser über den Köpfen angesteckt.«

»Ach du mein Himmel!« jammerte Daniel. »Was muß man alles erleben! Gesche, es ist 'ne Tränenwelt! Können wir essen?«

»Wenn ich nicht gewesen wäre, Meister«, sprach Timmo weiter, »so wäre heute kein Handwerksknecht mehr in Lüneburg. Denn das war Sengstakes Wille; wir sollten alle fremd werden.«

»Sengstake?« fragte Daniel.

»Ja, und Dalenborg. Denen geschieht ganz recht, daß sie eingesperrt sind. Wie lange müssen sie denn sitzen?«

»Weiß ich nicht, aber nur Geduld! Du kommst auch noch dran.«

Sie setzten sich zu Tisch, und wenn Blicke aus weiblichen Augen töten könnten, so hätte Timmo diesen Mittag an vergiftetem Lammfleisch sterben müssen.

Am Nachmittag blieb der Meister zu Hause, denn er besorgte, Timmo würde in seiner Abwesenheit davonlaufen, ehe der Fron käme und ihn abholte, was Daniel bestimmt erwartete. Timmo dachte nicht an Fortlaufen, sondern wurde mit jeder schwindenden Viertelstunde vergnügter in der Hoffnung, daß man ihn ungeschoren lassen würde.

Hans war gegen Abend einen Weg ausgeschickt. Plötzlich kam er zur Werkstatt hereingesprungen und rief: »Meister Hesterwegen kommt!«

»Ach du lieber Gott!« barmte Daniel.

»Viel Glück auf den Weg!« nickte Gesche ihrem Gesellen hämisch zu.

»Der Amtsmeister ist nicht der Büttel«, sagte Timmo ruhig und zog sich in Gedanken sein dickstes Fell wie einen Harnisch an.

»Gott ehr' ein ehrbar Handwerk!« sagte der Amtsmeister beim Eintreten. Diesmal fehlte der Gruß nicht, und Daniel antwortete: »Willkommen wegen des Handwerks!« Dann wies er auf Timmo: »Da sitzt er; ich weiß von nichts, ich bin unschuldig.«

»Schon recht, Daniel«, sprach Hesterwegen, »aber ein gutes Licht wirft es auch auf Euch nicht, daß Euer Knecht die Rotterei ins Werk gesetzt und das Regiment dabei geführt hat. In der ganzen Stadt heißt es: Daniel Spörken sein Knecht war's; da muß schlechte Zucht im Hause sein. Das macht Euch und unserem Schusteramt wenig Ehre.«

»Nun krieg' ich's wieder!« seufzte Daniel.

Liebesblicke waren es nicht, die Gesche an Hesterwegen und Timmo gleichmäßig austeilte.

»Ich soll im Auftrag eines hochedlen Rates Eurem Knechte hier ernstlich zu Wege sagen und ihm gebührendermaßen einen scharfen Verweis geben«, sprach der Amtsmeister. »Steh mal auf, Darmstädter! Und gib fein Achtung, was ich dir sage.«

»Jetzt kommt's!« dachte Timmo. »Aber es ist ein Übergang.« Er erhob sich und stellte sich vor den Amtsmeister hin.

»Du bist ein Friedensstörer«, begann Hesterwegen, »ich weiß nicht, ob aus Unverstand oder aus mutwilliger Bosheit. Wer aber einen Aufstand macht, die Meister lästert und drängt und zu Kummer, Kosten und Schaden bringt, und welcher Knecht seines Meisters Brot schändet, dem soll auch der Meister den Tisch zu decken nicht schuldig sein, den soll der Meister nicht setzen, nicht hausen und hofen, nicht halten und herbergen, der soll aus der Stadt verfestet und friedlos gelegt werden auf ewige Zeiten. Das merke dir, Darmstädter! Und wenn dir's in Lüneburg nicht bequem ist, so kannst du ja von deinem ehrbaren Meister fein säuberlich Urlaub nehmen und zum Tore hinauswandern, es soll dir die Hacken nicht abschlagen, so gern wir es auch hinter dir zumachen werden. Läßt du dich aber noch einmal auf krummen Wegen betreten, so wollen wir dich vor die Wette bringen, und du sollst deine Strafe nicht wissen.«

»Amtsmeister, ich bin unschuldig!« sprach Timmo.

»Ein Hans Narr bist du!« fuhr ihn der Amtsmeister an. »Schweig, um Gottes willen, still und schreib dir's hinters Ohr, was ich dir eben noch viel zu glimpflich gesagt habe. Und Ihr, Daniel, habt ihn in guter Versorgung zu halten und bei rechter Zeit mit Tür und Angel zu verschließen; das ist Eure schuldige Pflicht bei Verlust des Amtes und der Freiheit.«

»Ach, du lieber Gott! Ich Unglücksmensch!« sagte Daniel.

Hesterwegen ging. Als er fort war, sprach Timmo zu seiner Gebieterin: »Meisterin! Nun tut mir mal den Gefallen und sagt kein Wort, wenn Ihr das fertigbringen könnt. Ich pflanze Euch zu Pfingsten einen Maibusch vor die Tür, der sich gewaschen haben soll.«

Gesche schluckte eine lange Rede wirklich herunter; Daniel war froh, daß alles noch so gut abgelaufen war, und noch froher war Timmo, daß er nicht auch hinter Schloß und Riegel gesetzt wurde, denn in diesem traurigen Falle hätte er ja das Kopefahren versäumen müssen, was ihn sehr hart angekommen wäre.

Als aber in der Sonntagsfrühe die große Apostelglocke auf dem Johannisturm mit tiefem Klange das Pfingstfest einläutete und alle anderen Glocken der Stadt feierlich einstimmten, stand vor jeder Haustür in Lüneburg der hellgrüne Schmuck des Frühlings, und der vor Daniel Spörkens Löwengrube konnte sich neben den anderen sehen lassen.

Auch vor dem kleinen, baufälligen Hause auf der Rübekuhle zitterte eine junge Birke mit ihren zarten Blättern in der sanft bewegten Morgenluft, und Ursula wußte wohl, wer sie aus der Heide geholt und ihr als stillen Liebesgruß heimlich an die Tür gestellt hatte.


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