Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Viertes Kapitel

Vier Tage schon besaß der erste Bürgermeister, Herr Johann Springintgut, den ihm von Gilbrecht überbrachten Brief als ein drückendes, aber, wie er meinte, wohlbewahrtes Geheimnis, und noch immer war der Briefschreiber selber nicht nach Lüneburg zurückgekehrt.

Wenn aber der Bürgermeister wähnte, die Ankunft des Briefes wäre den Bewohnern der Stadt völlig unbekannt geblieben, so irrte er sich. Die Familie Henneberg hatte zwar darüber geschwiegen und tat es auch ferner, aber nicht der eingewanderte Schuhmachergesell Timotheus Schneck. Dieser glaubte, als er die Arbeit in der Werkstatt Daniel Spörkens angefangen hatte, sich bei Meister und Meisterin nicht besser und bedeutender einführen zu können, als mit der großen Nachricht, er und sein Wanderbursch, der Böttcherknecht Gilbrecht Henneberg – Sohn des Sülfmeisters, fügte er nachdrücklich hinzu – hätten einen sehr, sehr wichtigen, versiegelten Brief des Ratsherrn von der Mölen an den ersten Bürgermeister mit nach Lüneburg gebracht.

Der Meister legte den Hammer beiseite, der Meisterin fiel die Schere aus der Hand, und beide starrten dem Gesellen voll Verwunderung und fieberhafter Neugier ins Gesicht.

Sobald der schlaue Timmo diesen überwältigenden Eindruck seiner Mitteilung merkte, nahm er erst recht den Mund voll und log lustig darauf los, der Ratsherr hätte ihnen beiden zugleich – ihm, Timmo, sowohl wie Gilbrecht – das Schreiben feierlich übergeben und als ein höchst gefährliches Botenstück mit schweren Eiden auf die Seele gebunden. Dabei hätte er sorgenvoll, bleich und düster ausgesehen und dunkle Worte von Krieg und Frieden gesprochen. Sie hätten den Brief aber auch wie einen verzauberten Schatz gehütet, und in Uelzen, wo sie die nächste Nacht zusammen geschlafen, hätten sie sich stündlich abgelöst, während der eine schlief, hätte der andere beim Felleisen Wache gehalten, damit nur der Brief nicht verlorenginge. Der Böttcherknecht, als geborener Lüneburger, hätte es dann auf sich genommen, das ihm anvertraute Schreiben heute morgen dem Herrn Bürgermeister einzuhändigen.

Das kam Meister Daniel Spörken wie gepfiffen, und mit der Schusterei war es nun für heute mal wieder vorbei; alles Pech der Welt hätte ihn jetzt nicht auf dem Dreibein festgehalten. Er nahm ein Paar Schuhe und ging ab. Ganz Lüneburg kannte ihn so, wie er mit einem Paar Schuhe unter dem Arm, die ihm niemand bestellt, und die er auch nirgendwo abzuliefern hatte, durch die Gassen lief, bald hüben, bald drüben in ein Haus trat, und die allerneuesten, oft ungeheuerlichsten Geschichten zum besten gab. Weil aber seine Erzählungen später oft als unwahr und fast immer als übertrieben befunden wurden, so glaubte ihm so leicht niemand mehr. Diesmal aber fand er geneigteres Gehör als sonst, weil die Angelegenheit, um die es sich hier zweifellos handelte, alle Gemüter in der Stadt bewegte, weil ferner die Tatsache bei dem unerwartet langen Ausbleiben des zweiten Bürgermeisters viel Wahrscheinliches für sich hatte, und endlich, weil es dabei über den Rat herging, der die Stadt in so böse Händel verwickelte. Die Ratsherren selber fragte man gar nicht, ob das Gerücht von dem Briefe Grund und Boden hätte oder nicht, denn sie durften ja von städtischen Geschäften nicht das geringste verlauten lassen. Trotzdem begegnete die Kunde auch starken Zweifeln in der Bürgerschaft, zumal in diesen Tagen keine Sitzung auf dem Rathause gehalten wurde, was nach dem Eintreffen eines so bedeutungsvollen Briefes doch selbstverständlich hätte geschehen müssen. So verlief sich das Gerücht bald wieder wie so manches andere, das der biedere Meister Daniel in der Löwengrube aufgebracht und umgetragen hatte, und niemand glaubte mehr daran.

War das Gerede aber auch nicht bis zu dem ersten Bürgermeister gedrungen, so fühlte sich dieser von dem ihm allein bekannten Inhalte des Schreibens doch von Tag zu Tag mehr beunruhigt, so daß er die schwere Verantwortlichkeit dem Rate gegenüber nicht länger tragen mochte. Er beschloß daher, einige ihm näher befreundete und besonders einflußreiche Ratsherren ins Vertrauen zu ziehen, um ihre Meinung zu hören und dann in der demnächst anzuberaumenden Sitzung an ihnen eine Hilfe und Stütze zu haben. Er wählte dazu die Ratsherren Ludolf Töbing, Marquard Mildehövet, Heinrich Viskule und den zeitigen Sodmeister Herrn Matthias Garlop. Letzterer war ebenfalls Ratsherr, mußte es sein, durfte aber nicht im Eide sitzen, solange er das Sodmeisteramt verwaltete.

Der Sodmeister war der erste Beamte oder vielmehr der leitende Oberherr des ganzen Sülzwerkes und hatte eine mühevolle, aber auch sehr hervorragende Stellung. Er wurde jährlich kurz vor Fastnacht neu gewählt, und Herrn Matthias Garlops Amtsdauer war längst abgelaufen; allein unter den gegenwärtigen Verhältnissen hatte sich keiner der Ratsherren zur Übernahme des schwierigen Amtes verstehen wollen, so daß Herr Garlop sich wohl oder übel zur Weiterführung desselben bequemen mußte. Endlich hatte sich der Ratsherr Wigand Kruse dazu bereit finden lassen, war erst vor kurzem gewählt, aber noch nicht vereidigt und eingeführt worden, welche Feierlichkeiten man bis zur Rückkehr des zweiten Bürgermeisters verschoben hatte.

Um jedes Aufsehen zu vermeiden, das durch eine Zusammenkunft auf dem Rathause oder bei einem der Berufenen leidet hätte entstehen können, wurden die genannten Herren zu einer vertraulichen Besprechung nach der Küntje eingeladen, dem Verwaltungs- und Beamtenhause der Sülze, draußen am Sülztor.

Pünktlich trafen die Herren im Gemache des Sodmeisters ein, und nach gegenseitiger Begrüßung teilte der Bürgermeister Springintgut ihnen mit einem Gesicht, das für Lachen zu ernsthaft und für Verzweifeln zu lustig aussah, die Neuigkeit mit, daß er ein Schreiben von Herrn Albrecht von der Mölen erhalten habe.

Er hatte die wenigen Worte mit seiner gewöhnlichen Stimme und gar nicht sehr laut gesprochen, hätte er aber hier im Zimmer ein in des Rates Glocken- und Büchsenhause gegossenes Stück abgefeuert, so hätte es kaum eine größere Überraschung verursacht. Statt jeder Antwort auf die ihn bestürmenden Fragen zog er das Schreiben aus der Tasche seiner kostbaren Pelzhaube, entfaltete es den Hochgespannten viel zu langsam und las es ihnen vor. Es lautete also:

 
Celle, Montag nach Quasimodogeniti
Ao 1454.

Edler, ehrenfester, hochachtbarer Herr!
Großgünstiger, lieber Freund und Collega!

Maßen sich mir heute eine unverhofft verfallende Gelegenheit bietet, wollte ich doch Eurer hochehrbaren Weisheit hiermit eine Botschaft senden, die – Gott sei's geklagt! – Euch mit E. E. E. Rat zu geringem Troste gereichen wird. Wir sind vom Kaiserlichen Hofkammergericht mit allem Ernste verwiesen und angehalten worden, daß es bei der mit dem hochwürdigsten Bischof von Verden geschlossenen Concordie sein unabänderliches Bewenden haben soll, wie und welchergestalt wir also schuldig und verbunden sein sollen, an einem Vierteil der Salzeinkünfte unser bescheidenes Genügen zu finden und das andere Viertel, so wir in den letztvergangenen Jahren den Sülzbegüterten nach E. E. E. Rates Vollbord und Beschluß eingezogen haben, denselbigen ohne alle Ausflucht und Verweigerung ungesäumt und willig aus gemeiner Stadt Säckel wieder herauszugeben. Widrigenfalls soll ohne einige Gnade des Reiches Acht über unsere gute Stadt verhängt werden. Aber lieber, großgünstigster Freund und Collega, das ist noch nicht alles.

Unsere Feinde haben eine Gesandtschaft nach Rom an den Papst abgerichtet und haben von dem heiligen Vater eine Bulle erwirkt – ich hätte fast ein anderes Wort gebraucht, aber das bleibe in der Feder – wonach wir sogar mit dem Anerbieten der Prälaten de anno 1450 notgedrungen uns beholfen sein lassen oder aber als Räuber an Kirchengut angesehen, aller Ehren und Würden verlustig, des Geleites unwürdig erklärt und in den großen Bann getan werden sollen. So stehet denn unsere Sache gar übel, wofern uns nicht Gott der Allmächtige aus unserer großen Bedrängnis gnädiglich hilft und errettet. Ich warte hier in Celle auf die Rückkunft des Herzogs, die jeden Tag zu erwarten steht. Alsobald ich mit Herrn Friedrich mich beredet, kehre ich ungesäumt nach Lüneburg zurück und verhoffe, Eure hochachtbare Weisheit und die anderen edlen und ehrenfesten Herren bei guter Gesundheit anzutreffen.

Wollte Gott, ich könnte Euch mit einer besseren Botschaft unter die Augen treten, der ich bin, großgünstiger, lieber Freund und Collega,

Euer
allezeit dienstwilliger und getreuer
Albrecht von der Mölen.

Die vier zuhörenden Herren hatten das Verlesen des Briefes mit manchem Kopfschütteln und manchem zornigen Ausruf begleitet. Der Bürgermeister und Töbing erhoben sich, schritten in raschem Gange über Kreuz von einer Ecke des Zimmers zur anderen und machten dabei ihrem Unwillen in den heftigsten Ausdrücken Luft. Schalt der eine auf das Reichskammergericht, so schonte der andere ebensowenig den Abgesandten des Rates, aber Kaiser und Papst kamen bei beiden am schlechtesten weg. Dann setzte sich Töbing wieder zu den schweigenden drei anderen Herren, schlug mit der flachen Hand kräftig auf den Tisch, als ob er damit alle Furcht und Sorge niederschlage und rief: »Blut und Blau! Kopf hoch und Faust am Griff! Was schiert uns Kaiser und Papst! Wir haben das Regiment, und wer's uns nehmen will, der soll selber kommen!«

Der Bürgermeister blieb vor ihm stehen und sagte: »Töbing, du hast mir aus der Seele gesprochen, so soll es sein und wenn's an Kopf und Kragen geht!«

»Wäre auch gar nicht unmöglich«, rief Marquard Mildehövet halblaut dazwischen.

»Aber«, fuhr der Bürgermeister fort, »ein kurzweilig Spiel ist's nicht. Bedenke, daß wir's mit Pfaffen zu tun haben und mit Pfaffen, denen wir an Herz und Nieren, das heißt an den Beutel gehen. Es sind nahezu an sechzig Prälaten, Klöster und Domkapitel über ganz Niedersachsen zerstreut, die sich gegen uns verschworen haben.«

»Hinhalten ist mein Rat«, sagte der Sodmeister Matthias Garlop, »scheinbar nachgeben, in Wirklichkeit fest darauf sitzenbleiben, die Verhandlungen in die Länge ziehen.«

»Nun ich sollte fast meinen, lang genug wäre die Sache schon hingezogen«, sprach Mildehövet.

»Und unsere Schulden?« fragte der Bürgermeister. »Da bleiben wir auch darauf sitzen. Und unsere Gläubiger?«

»Hinhalten!« lachte Töbing und reckte seine mächtigen Glieder, daß der Stuhl knackte.

»Wie hoch beläuft sich's denn?« fragte Garlop, weil er schon über ein Jahr aus dem sitzenden Rate und daher nicht so eingeweiht war.

»Auf eine halbe Million lübische Mark ungefähr«, sprach der Bürgermeister.

»Fünfhundertneunundzwanzigtausenddreihundertsechs Mark, zehn Schilling, zwei Pfennig«, ergänzte ruhig und sicher Viskule.

»Und die Kleinigkeit an Zinsen für diese Schuld«, fügte Mildehövet hinzu, »acht vom Hundert, aber nur von drei Jahren.«

Auf diese erschreckenden Zahlen schwiegen sie wieder eine Weile, bis der Bürgermeister anhub: »Vor der Reichsacht fürchte ich mich nicht sonderlich, solange uns die Hansa nicht im Stiche läßt.«

»Das verhüte Gott!« fuhr Viskule heraus, der in Lübeck und Hamburg starke Anteile an Seeschiffen besaß.

»Das zu verhüten ist Eure Sorge, Herr Viskule«, sprach der Bürgermeister, »Ihr habt ja Freunde in Lübeck und kennt die gebietenden Herren der Hansa besser als ich. Über die Acht läßt Kaiser Friedrich wohl noch mit sich reden, aber schlimmer, viel schlimmer ist –«

»Der Bann!« fielen Garlop und Mildehövet gleichzeitig ein.

»Ja, der Bann!« sagte der Bürgermeister sehr ernst und bestimmt.

»Etwa für dich?« spottete Töbing.

»Nein, nicht für mich, so wenig wie für dich und uns alle hier«, sprach Springintgut, »aber für den gemeinen Bürger der Stadt, für die Handwerker, denen die Weiber dann keine Ruhe lassen, bis sie den Bann wieder abgeschüttelt haben, und das können sie nur, wenn –«

»Nun, wenn?«

»Wenn sie uns abschütteln!«

»Ihr habt recht, Herr Bürgermeister«, sagte Garlop, »hier ist die größte Gefahr. Wir müssen uns der Ämter und Gilden versichern; haben wir die, so sind wir geborgen.«

»Ämter und Gilden! Also die Schurzfelle, die Schneiderscheren und Schustermesser, vor denen fürchtet ihr euch!« höhnte Töbing.

»Wenn wir sie auch nicht fürchten«, sprach der Bürgermeister, »so können wir sie doch diesmal nicht entbehren; es fragt sich nur, ob wir sie einschüchtern oder fangen, ihnen schmeicheln oder drohen.«

»Drohen mit Galgen und Rad, wenn sie sich mucksen!« rief Töbing. »Für meine Schneider steh' ich ein.« Er war nämlich Morgensprachsherr beim Schneideramt.

»Versprecht nicht zuviel, Herr Töbing!« warnte Mildehövet, während seine rundliche Gestalt sich bequem in den Sessel zurücklehnte. »Neun Schneider machen auch einen Mann. So gut wie Ihr für Eure tapferen Schneider glaubt einstehen zu können, so gut kann ich es auch für meine unruhigen Schuhmacher, ein so vermessentliches Haupt der ganzen Schustergilde mein querköpfiger Amtsmeister Jochen Hesterwegen auch ist. Viskule, was meinst du?«

»Freunde der Prälaten sind die Handwerksmeister nicht«, nahm Viskule das Wort.

»Etwa des Rates?« fragte Töbing.

»Aber«, fuhr er fort, ohne diesen Einwurf zu beachten, »wenn sie unsere Gegner würden, so stünde es nicht gut mit unserem Regiment, denn nicht wir, die Kaufleute und Geschlechter, sondern die Handwerker sind der gesunde Kern, der feste Grund und Boden des gemeinen Wesens. In den Handwerksgilden ruht die Kraft und die Freiheit unserer Stadt.«

Die anderen hörten ihm erstaunt und betroffen zu, und Mildehövet sagte: »Wenn du sie zählst, Viskule, so magst du recht haben; mit der Kraft ihrer Arme sind sie uns über, aber die Gewalt haben doch wir.«

»Wunderbar genug, daß wir sie haben«, sprach Viskule unbeirrt weiter, »und daß sie sich's gefallen lassen! Sie tun es aus Gewohnheit und aus ehrfürchtiger Achtung vor dem alten Herkommen, an dem in allen Dingen festzuhalten ihr Recht, ihr Glück und ganzes Leben ausmacht.«

»Das kommt ihnen auch zu«, sagte Mildehövet.

»Und doch«, sprach Viskule, »haben es in anderen Städten die Ämter schon öfter versucht, sich in den Rat zu drängen und Anteil am Regiment zu fordern. Und Hand aufs Herz, ihr Herren! Könnt ihr's ihnen denn so ganz und gar verdenken? Wenn sie es jetzt auch in Lüneburg versuchen wollten, die Gelegenheit wäre nicht schlecht dazu.«

»Hören wir denn hier einen hochedlen, wohlweisen Ratsherrn aus altem lüneburgischen Geschlecht oder einen Böttchermeister aus der Roten-Hahn-Straße sprechen?« fragte hochfahrend Matthias Garlop.

»Einen Ratsherrn, Herr Sodmeister«, entgegnete Viskule scharf, »der die Handwerksmeister kennt und darum glaubt, daß wir am besten tun, wenn wir ihnen unsere Lage mit füglichen Worten klarmachen und ihnen in freundlicher und gütlicher Meinung ernstlich zu Wege sagen, daß sie sich wohl vorsehen und nichts beschließen, was gegen Notdurft, Nutz und Wohlfahrt dieser Stadt wäre. Auf meinen Freund, den Meister Gotthard Henneberg in der Roten-Hahn-Straße, kann ich mich verlassen, wenn ich nach rechter Maße mit ihm rede, so wird er ein gebührliches Einsehen haben und unbilliger Gewalt mit Vernunft begegnen. Den einen Mann sehen die meisten Handwerker hier, auch die von anderen Gilden, als ihren Führer an, ihm folgen sie alle –«

»Wie eine Herde Schafe dem Leithammel«, lachte Töbing, »jawohl! Gegen den Rat, aber nicht für uns. Oh, diese Wetterhähne! Diese Stubenhelden!«

»An den Sülfmeister habe ich auch schon gedacht«, sprach der Bürgermeister. »Sehet zu, Herr Viskule, was Ihr bei ihm ausrichtet. Eure Meinung ist gut; die Morgensprachsherren müssen in ihren Gilden ein fleißiges Aufsehen haben und bei gelegener Zeit aller Unordnung und allem Mißdünken klug und vorsichtig begegnen.«

»Wir müssen sie gewinnen«, sprach Mildehövet; »es sind noch manche Punkte in ihren Rollen, nach deren Änderung sie schon lange trachten; da ließe sich aus besonderer günstiger Gnade vielleicht noch dieses und jenes versprechen –«

»Was natürlich nachher nicht gehalten würde«, unterbrach Töbing.

»Was wir ihnen dann auch halten würden, Herr Töbing!« entgegnete in zurechtweisendem Ton Mildehövet, und sein freundliches, vollblütiges Gesicht verdüsterte sich und wurde noch röter. »Bei den großen Ämtern ist das freilich schwierig, die Brauer, die Bäcker, die Knochenhauer sind trotzige Gesellen.«

»Und Herr Dietrich Dassel steht mit seinen Brauern keineswegs auf gutem Fuße«, meinte Viskule.

»Ist seine Schuld«, murrte Töbing, »weiß nicht gehörig mit ihnen umzuspringen.«

»Ist wohl nicht so geduldig, nicht so sanft wie du?« lachte Springintgut.

»Ihr Herren«, sprach Matthias Garlop, »ich weiß ein Mittel, das seine Wirkung nicht verfehlen wird. Bestechen lassen sich die Handwerksmeister nicht und mit Gewalt einschüchtern auch nicht, aber sie lassen sich ködern und kirren, wenn wir ihnen zu verdienen geben von Rats wegen. Laßt von den Maurern und Zimmerleuten noch ein paar Türme oder Wieghäuser bauen, laßt wenigstens die Pläne und Risse dazu machen; bestellt bei den Goldschmieden ein paar Trinkgeschirre für des Rates Silberzeug; die Bänke in der Gerichtslaube und in der großen Audienz könnten vielleicht neue Lederkissen brauchen; für die Schmiede, Schnitzer, Maler und Glaser findet sich auch wohl Beschäftigung im Rathause, und wegen der Harnischmacher werdet ihr auch nicht in Verlegenheit sein mit Werk und Arbeit für allerhand kriegerische Notdurft. Auch im eigenen Hause muß jeder von uns nachsehen, was er sich wohl machen lassen könnte der guten Sache wegen.«

»Nicht übel, gar nicht übel!« meinte Töbing.

»Jeder Morgensprachsherr«, fuhr Garlop fort, »muß außer dem Amtsmeister nicht etwa die geschicktesten Meister, sondern die gefährlichsten, die größten Schreihälse in seiner Gilde, die heftigsten Gegner des Rates auskundschaften, und denen müssen wir die Arbeit geben.«

»Und bezahlen!« sagte Viskule. »Und das Geld dazu?«

»Findet sich«, sprach der Bürgermeister.

»Eilt auch nicht«, sagte Töbing.

»Nur vergeßt ihr dabei«, sprach Mildehövet, »daß ihr damit in jeder Gilde ein paar Meister kirrt und die anderen dafür desto grimmiger auf den Rat macht.«

»Und ihr vergeßt dabei noch etwas ganz anderes«, erwiderte Garlop, »etwas, das zehnmal stärker wurmt und bohrt als das bißchen Groll auf den Rat. Ihr vergeßt den hündischen, bissigen, giftigen Brotneid, der lügt und verleumdet, der Ehre und Schamgefühl im Menschen erstickt und überwuchert wie Unkraut die Blumen im Garten. Ich kenne kaum etwas Elenderes, Erbärmlicheres und Nichtsnutzigeres, aber das Messer sitzt uns an der Kehle; im Guten kommen wir nicht weit mit den Kumpanen, versuchen wir einmal, ob sie so viel Ehre im Leib haben, sich vor dem Neid zu retten. Ich glaub's nicht.«

»Aber wo soll denn das hinaus?« fragte Mildehövet.

»Ich merk's, ich merk's!« rief Töbing.

»Sehr«, sprach Garlop mit einem listigen Blick und einem häßlichen Lächeln, »wenn wir vorerst einmal drei oder vier Meistern in jeder Gilde Arbeit, reiche, lohnende Arbeit geben, so werden die anderen einen solchen Brotneid auf sie werfen, werden sie so lange anfeinden und schimpfieren, bis der helle, lichterlohe Streit ausbricht und sie sich darüber in den Haaren liegen. Ist aber in den Ämtern nicht mehr Eintracht und Friede, sind sie erst uneins unter sich, so haben wir leichtes Spiel mit ihnen. Hab' ich recht oder hab' ich unrecht?«

»Recht, recht habt Ihr, Matthias Garlop!« riefen Springintgut und Töbing. Mildehövet sagte: »Mir will das nicht gefallen; es ist kein ehrliches Mittel.«

Viskule schüttelte bekümmert sein graues Haupt.

»Und den tollsten Schreiern, den schofelsten Neidern sagt man dann im Vertrauen, jedem einzelnen heimlich: ›Schweig fein still, stelle dich gut zum Rat, gib deine Stimme für den Rat, so bekommst du auch noch zu tun, wir haben noch Arbeit für unsere Freunde – hörst du? Für unsere Freunde!‹ Das werden sie wohl verstehen, werden sich ducken, und dann, dann haben wir sie im Sack.«

»Dazu biete ich meine Hand nicht«, sprach Viskule, »und ich warne euch, liebe Herren! Ihr geht da einen gefährlichen Weg. Wenn die Ämter dahinterkommen, wie wir mit ihnen gespielt haben, so stellen sie sich Augenblicks auf die Seite unserer Gegner.«

Aber die anderen schlugen seine Warnung in den Wind, und der Bürgermeister sprach: »Herr Matthias Garlop, Euer Vorschlag ist gut und wohlbedacht, und also soll's geschehen. Ich will mich des Tages freuen, an dem Euch zum ersten Male die Glocke wieder zu Rate ruft, großgünstiger Freund! Und ich hoffe, er ist nicht fern, wir wollen bald Kopefahrt halten, dann seid Ihr Eures Sodmeisteramtes quitt und wieder der Unsrige. Im übrigen bleiben wir bei dem, was wir gefordert und genommen haben, die Hälfte der Sülzeinkünfte trotz Kaiser und Papst. Ich hab's gesagt, und solange ich zu Rathause auf meinem Stuhle sitze, halt' ich's fest, mag's mich gereuen oder nicht!«

Die Herren besprachen sich nun, wie man die Sache wohl am besten in der nächsten Sitzung durchbrächte und der Bürgerschaft die Wahrheit verheimlichte. Jeder einzelne von ihnen fühlte den vollen Ernst der Lage mehr, als er eingestehen mochte, und jeder ließ sich gern vom anderen durch mutige Reden und kluge Vorschläge trösten und über die Größe und Nähe der Gefahr hinwegtäuschen. Freilich, ein kaiserliches Reichsheer vor den Toren Lüneburgs erscheinen zu sehen, brauchten sie nicht zu fürchten, und ihr Landesherr, Herzog Friedrich der Fromme, konnte ihnen auch nicht viel anhaben. Auch der angedrohte Bann drückte die eigenen Gewissen der Ratsherren nicht schwer, aber wenn als die nächste Folge die Geistlichkeit ihre Verrichtungen in der Stadt gänzlich einstellte, so würde den Bürgern der Hausfriede von Stund an gründlich gestört werden, und es gab dann kein anderes Mittel, die bedrängten und erregten Gemüter zu beruhigen, als Wiederlossprechung vom Banne, der ihnen nach dem Schreiben des zweiten Bürgermeisters so gut wie sicher war. Darin lag aber eben das Verzweifelte der nächsten Zukunft, daß entweder jetzt die Abwendung des Bannes oder nachher seine Aufhebung nur für den einen Preis zu haben war: Unterwerfung des Rates und Zurücknahme seiner Forderung an die Sülzbegüterten. Wie sollten sie sich da herauswinden? Und nun die Hansa. Diese würde zwar niemals zur Unterstützung der Prälaten Maßregeln gegen die Bundesstadt ergreifen, vielmehr ließ sich im Fall einer Fehde mit äußeren Feinden auf ihren Beistand hoffen. Wenn aber Acht und Bann über die Stadt verhängt wurde, so war auch die Verhansung Lüneburgs sehr wahrscheinlich. Eine Verhansung aber, besonders wenn sie längere Zeit aufrechterhalten wurde, ging der betroffenen Stadt geradezu an Mark und Leben. Wie der Kirchenbann die Wohltaten und Segnungen des Glaubens und die Hoffnung auf die himmlische Seligkeit vernichtete oder wenigstens in Frage stellte, so traf eine Verhansung die irdischen Güter, die Sicherheit des Verkehrs und Besitzes, kurz die zeitliche Wohlfahrt der ganzen Bürgerschaft mit schwerem Schlage. Sie hatten alle ohne Ausnahme mehr oder minder, selbst in kleinen, beschränkten Lebensverhältnissen, darunter zu leiden, am meisten aber der Großhandel Lüneburgs in seinen Verbindungen mit dem Auslande, also zunächst die Kauf- und Handelsherren, auf deren Aventiure wertvolle Güterladungen über See und Land beständig ein und aus gingen. Die meisten Ratsherren und ihre Freunde und Verwandten waren Kaufleute oder Sülfmeister oder beides zugleich. Was sollte nun aus ihrem Handel werden, in dem der größte Teil ihres Vermögens steckte? Wo sollten sie mit den fünfundzwanzigtausend Wispel Salz hin, wenn die anderen Hansestädte, in deren Häfen und Märkten es seinen Absatz fand, nicht mehr mit ihnen handeln und wandeln durften? Litten aber die Großen Lüneburgs Not, wie sollte es den Kleinen ergehen? Wovon das Handwerk seine Nahrung haben? Die gesamte Einwohnerschaft der Stadt war ja durch vielfach verschlungene Fäden miteinander verbunden, jeder Bürger gehörte zu irgendeiner Genossenschaft, sei es zu einer Handwerksgilde oder zu einer weltlichen oder geistlichen Brüderschaft, in der sich vornehm und gering zusammenfand. Das ganze Gemeinwesen war ein einziger lebendiger Leib mit vielen tausend Köpfen und Gliedern, die unter sich fast niemals einig waren, die aber doch geschworen hatten, Liebe und Leid miteinander zu leiden, und kein Glück oder Unglück konnte in ihre Ringmauern einziehen, ohne daß jeder einzelne auch sein Teilchen davon abkriegte.

Das wußten die fünf edlen Herren hier im Sodmeistergemach auf der Küntje recht gut. Sie dachten freilich zunächst an sich und ihr eigenes Schicksal, an die Ehre und die Zukunft des Rates und der ratsverbündeten vornehmen Geschlechter, und wenn sie angesichts der drohenden Gefahren noch scherzen konnten, so erhielt sie teils die noch ungebrochene Macht, der noch nie gedemütigte Stolz und der angeborene und anerzogene Hochmut, mit dem sie auf den gemeinen Bürger und Handwerker herabsahen, noch bei so guter Laune, teils ein bequemer Leichtsinn, der oft dem Zaghaften gestattet, seine Angst hinter einer erzwungenen Lustigkeit zu verstecken, und den Mutigen verführt, ernste Sorgen mit einer herausfordernden Keckheit zu bekämpfen.

Die Herren trennten sich, und der Bürgermeister ging in lebhaftem Gespräch mit seinem trutzigen Freunde Ludolf Töbing zur Stadt. Viskule und Marquard Mildhövet folgten ihnen langsam, denn der letztere ging an einem Stocke, und als er auch noch Viskules Arm zu seiner Stütze nahm, fragte ihn dieser: »Was ist denn? Zwickt es dich wieder einmal?«

»Ach ja!« seufzt der andere mit einem Stirnfalten, das doch ein verschämtes Lächeln und ein lustiges Blitzen seiner klugen Augen nicht verhinderte. »Da, da!« Und er zeigte mit dem Stock nach seinem linken Fuß.

»Ja, ja, lieber Alter!« sagte Viskule. »Nun, du weißt doch wenigstens, wovon du es hast.«

»Das ist das Schändliche bei diesem vermaledeiten Gebresten, daß man zum Schaden auch noch den Spott selbst seiner besten Freunde hat!« sagte Mildehövet, und sie setzten ihren Weg, der eine führend, der andere hinkend, in ernsterem Gespräche langsam fort.

Der Sodmeister begab sich nach dem Sode.

Da lag nun in tiefem Frieden und segensreicher Werktätigkeit der eigentliche Herd des großen Streites, das edle Kleinod der Sülze, wie es die Lüneburger mit gerechtem Stolz nannten. Dort aus der Erde strömte die Quelle, die Hunderten von Arbeitern mit ihren Familien im eigentlichen wie im bildlichen Sinne des Wortes das Salz zum Brot gab, ihren Eigentümern und Pächtern Wohlstand und Reichtum und der Stadt Lüneburg Macht und Ruhm verlieh. Da standen die vierundfünfzig Siedehütten, einem regelmäßig gebauten Dorf mit rechtwinklig sich kreuzenden Gassen ähnlich, das in einer mäßigen Vertiefung wie in einem offenen Schacht lag, so daß von fern gesehen nur die Strohdächer über dem das Häuserviereck umgebenden Erdboden hervorragten.

In diesen Häusern und Gassen, in den abseits gelegenen Werkstätten und auf den Ladeplätzen war ein lautes, geschäftiges Treiben. Unter der Aufsicht von Beamten, des Barmeisters und des Fahrtmeisters, der Ober- und Untersegger, der Stiege- und Flodschreiber, hantierten dort die Sülzknechte, die Gestängewärter und Brunnenmacher, die Pfannengießer und Büttenträger, die Sieder und Hüter, die Holzträgerinnen und die Salzführer, weit über dreihundert fleißige Menschen.

In jedem Hause brodelten vier Pfannen mit der flüssigen Sole über dem Feuer, und das Innere der Hütten schimmerte und glänzte wie Silber von den feinen, blitzenden Kristallen, die sich mit dem Wasserdampf noch verflüchtigt und an Wänden und Gebälk niedergeschlagen hatten. Aber das war geringfügig gegen den vollen Segen, der in den Pfannen als trockenes Salz zurückblieb und von hier auszog, um in den Küstenländern der Ostsee den Fisch und das Fleisch des Reichen und des Armen schmackhaft zu würzen.

Die Lüneburger Sülze war eine Welt für sich und ohne ihresgleichen. Wer sie in ihrem wohlgeregelten, Tag und Nacht unausgesetzten Betriebe sah und den weißen Dampfwolken, die aus den Strohdächern zum blauen Himmel aufwallten, träumerisch nachschaute, der kam schwerlich unbelehrt auf den Gedanken, daß die allen Menschen unentbehrliche Gottesgabe hier der Gegenstand eines erbitterten Streites werden konnte, der eine mächtige, blühende Stadt mit Acht und Bann bedrohte.


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