Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

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Zweite Kapitel

Ziemlich am nordöstlichen Ende der Stadt, in der Roten-Hahn-Straße, wohnte der Amtsmeister der Böttchergilde, Meister Gotthard Henneberg, in einem aus braunen Backsteinen erbauten Hause, dessen nach Osten schauender, in vier rechtwinkligen Abstufungen aufgeführter Giebel vorn an der Straße stand, wie dies bei allen Häusern Lüneburgs der Fall war. Jede dieser vier Abstufungen hatte die Höhe eines Geschosses, das von dem darüber- und darunterliegenden durch ein doppeltes Gesims getrennt war, und in dem sich auf Säulen ruhende Stichbogen für die Fenster und Luken befanden. Hinter dem davorgesetzten Giebel, auf dessen Spitze eine Wetterfahne stand, war das glatte, steile Dach, und nur so weit dieses reichte, waren noch Kammern und Bodenräume; die übrigen, kleineren und paarweis gekoppelten Fensterwölbungen der Giebelfront, also die höchsten und die äußersten zu beiden Seiten, waren verblendet, und dahinter war nichts als die freie Luft. Die Gesimse, die Bogengurte und die Säulen waren alle rund gemauert und in hervortretenden Wülsten so gedreht und gewunden, daß sie ganz dicken Schiffstauen glichen. Die Haustür, zu der ein paar Stufen emporführten und vor der sich ein Beischlag, das heißt ein zu beiden Seiten mit hochlehnigen Steinbänken umhegter Vorplatz befand, war spitz gewölbt und mit fünf solcher gedrehten steinernen Wülste eingefaßt, so daß sie einem kleinen Kirchenportal ähnelte.

Diese Bauart war in der ganzen Stadt gleich; nur daß die Häuser der vornehmen Geschlechter mit allerlei Zierat, mit menschlichen Figuren, Köpfen und Bildnissen, von gemauerten Schiffstaukränzen umrahmt, mit Tiergestalten, Blumen und Laubwerk, in Stein gehauen, reicher geschmückt waren und kunstvoll gemeißelte und bemalte Familienwappen zeigten. Dadurch, daß sie den Giebel mit seinen vier bis sechs treppenartigen Abstufungen alle vorn und alle den gleichen bräunlichen Farbton hatten, erhielt die Stadt ein ganz eigentümliches und doch keineswegs einförmiges Gepräge, weil die Giebel bald höher und spitzer, bald breiter und niedriger und auch in ihrer Ausschmückung voneinander verschieden waren.

Die Häuser hatten auch alle ihren besonderen Namen, den manche nur einem launigen Einfall ihrer Besitzer verdankten. In der Heiligen-Geist-Straße zum Beispiel hatten sich vier Nachbarn darüber geeinigt, die ihrigen Sonne, Mond und Stern zu nennen. Meister Gotthard Hennebergs Haus in der Roten-Hahn-Straße, in dem seit Menschengedenken das Böttcherhandwerk betrieben wurde, hieß das Goldene Ei, nach einem großen, steinernen, über der Haustür eingemauerten Ei, das früher einmal vergoldet gewesen war. Neben dem Ei über der Tür befand sich die Hausmarke, ein Kreuz, dessen Spitze in einem breiten Beil endigte, und dessen Querbalken an jedem Ende ein lateinisches H trug; vielleicht hatte der Erbauer Heinrich Henneberg geheißen. Diese Hausmarke wurde jedem Gefäß eingebrannt, das aus der Werkstatt im Goldenen Ei hervorging, und solcher Beilkreuze fuhren jährlich eine ganze Menge in die Welt.

In dem Hause herrschte Friede, Fleiß und Frömmigkeit, und der Segen blieb nicht aus. Wenn es nicht ein Verstoß gegen die strenge Handwerksordnung gewesen wäre, so hätte Meister Henneberg wohl mehr als zwei Knechte und einen Lehrjungen halten können, so viel hatte er zu tun, alle die Salztonnen, die Fässer und Bottiche fertig zu schaffen, die von ihm verlangt wurden. Der eine der beiden Gesellen war sein ältester Sohn, Arnold, der andere ein fremder, zugewanderter aus Soest, namens Jakob, und der Lehrjunge wieder sein jüngster Sohn, Lutke. Wer beim Meister Henneberg arbeitete, der lernte das Handwerk gründlich, aber viel freie Zeit gab es nicht, und die täglichen Arbeitsstunden, die genau vorgeschrieben waren, wurden streng eingehalten. In alledem Lärm, den die Böttcherei mit Hämmern und Klopfen, mit Stoßen und Schneiden hervorbrachte, waltete der stille Ordnungssinn und die liebevolle Fürsorge der Hausfrau, der die blühende Tochter fleißig zur Hand ging, so wohltuend und ersprießlich, daß es in der Wirtschaft an nichts fehlte, was gerechte und bescheidene Ansprüche der Hausgenossen fordern durften.

Als in der Dämmerung des Tages von Gilbrechts Heimkehr, die ja niemand voraussehen konnte, die Vesperglocke läutete, band der Meister sein Schurzfell ab und machte Feierabend. Seine Gehilfen folgten dem Beispiel. Jakob und Lutke brachten das Handwerkszeug an den gehörigen Ort und schufen in der Diele zwischen den angefangenen und fertigen Tonnen, den Schneidebänken, den Vorräten an Stab- und Bodenholz, den Reifen und Spänen, welche die Werkstatt in buntem Durcheinander füllten, einen freien Durchgang von der Haustür zu den drei Stufen, die rechter Hand in die Wohnstube führten, und weiter bis zu der schweren Wendeltreppe im Hintergrunde.

Die sehr geräumige Diele ging in ihrem größeren Teile durch zwei Stockwerke, und alles Holz, aus dem sie gezimmert war, die Wände mit ihren Pfosten und Riegeln, die Decke mit ihren dicken Trägern und Balken, und die Türen und Treppen hatten eine natürliche dunkelbraune Färbung. An der linken Seite lief in zwei Drittel Höhe über dem Fußboden eine mit der Treppe verbundene breite Galerie mit durchbrochenem Geländer; sie führte in ein paar abgeschlagene Kämmerchen, die in den oberen Raum der Diele hineingebaut waren und aus dieser ihr spärliches Licht durch kleine Fenster empfingen. Auf dem Balken unter dem Geländer stand der Böttcherspruch eingeschnitten:

Noch keine größere Kunst erfunden,
Als Holz mit Holz zusammengebunden.

Meister Gotthard schloß die Haustür, begab sich langsam, bedächtigen Schrittes in die Wohnstube, setzte sich dort in seinen großen hölzernen Lehnstuhl mit dem strohgeflochtenen Sitz und pfiff leise vor sich hin.

Frau und Tochter, die nähend bei der Lampe am Tische saßen, hörten dieses Pfeifen gern, denn sie wußten, daß es ein besonderes, stilles Vergnügtsein des Meisters bedeutete, und störten ihn darin auch nicht mit Fragen, denn sie wußten ferner, daß er dann selten Antwort gab. Als Ilsabe, sein drittes Kind, bei solcher Gelegenheit einmal gefragt hatte, warum er so lustig pfiffe, hatte er noch vergnügter, ja, halb verschmitzt gelächelt, hatte sie mit seinen ungeheuren Böttcherfäusten bei den kleinen roten Ohren gefaßt und auf das wenige Stirnhaar seines Lieblings einen Kuß gedrückt. Meister Gotthard war überhaupt, wenn auch kein schweigsamer, so doch auch kein sehr gesprächiger Mann, und sein oberster Grundsatz beim Reden war: das Wort soll Kraft und Macht haben oder nicht gesprochen werden.

Auch Arnold trat bald in das Zimmer, warf einen befremdlichen Blick auf den noch leeren Tisch und dann auf seine Schwester, die nun heiter sprach: »Mutter, Arnold meint, es wäre Essenszeit.«

»Ich?« sagte Arnold. »Ich habe gar nichts gesagt.«

»Solchen Hungerblick verstand man auch ohne Worte«, lachte Ilsabe, erhob sich, nahm der Mutter in zarter Weise das Nähzeug aus den Händen und legte es samt dem ihrigen wohlgeordnet beiseite. Dann begann sie den Tisch zu decken. Sechs Teller aus Birkenholz ohne Rand, neben jedem ein Messer und vor jedem ein schlichter, zinnerner Becher, das war das Tischgerät zum Abendessen. Nur vor des Vaters Platz am oberen Ende des Tisches stellte sie statt eines Bechers einen hohen Zinnkrug, auf dessen Deckel das wohlgeformte Bild eines Schützen stand und auf dessen Rundung des Meisters Name mit Tag und Jahr eingeritzt war. Den Krug hatte Meister Gotthard einmal beim Papagoyen-Schießen mit der Armbrust als Preis gewonnen. Auch ein anderes Messer bekam der Vater, ein größeres als die übrigen, mit einem kräftigen Griff daran aus Hirschhorn. Dann trug sie die einfache Kost auf und brachte zuletzt eine Schenkkanne voll Eimbecker Bier, füllte daraus des Vaters Krug und die Becher, und nun war alles zum Zulangen bereit. Sie rief Jakob und Lutke herein, die auf den ersten Ruf so schnell erschienen, als hätten sie schon dicht hinter der Stubentür gelauert. Der Meister rückte sich seinen Lehnstuhl an den Tisch heran und saß in seiner Kraft und Würde gleichsam thronend als König seiner Familie.

Ein ruhiges, verständiges Gespräch, auch heitere Scherze, freundlich gemeint und gut aufgenommen, hatte der Meister gern bei Tisch, hörte aber lieber zu, als daß er selber an der Unterhaltung einen hervorragenden Anteil nahm. Den Seinigen allgemeine Lebensregeln und weise Ermahnungen mit aufs Butterbrot zu geben, war ebensowenig seine Sache, wie er Klatschereien und Hecheleien über den liebsten Nächsten duldete, mochte dieser auch noch so weit von seinem Hause und von seinem Herzen wohnen. Nur schweigsam sollte es bei Tische nicht hergehen, als wenn Friede und Eintracht gestört wären. Ein fröhlich Gespräch nannte der Meister die beste Würze beim Mahle; das liebe Gut in grübelnden Gedanken oder in verhaltenem Groll zu sich zu nehmen, das, meinte er, bekäme nicht und schlüge nicht an. So floß auch am heutigen Abendtisch die Unterhaltung in ruhigem Gleise munter dahin, ohne daß etwas Wichtiges zur Sprache kam. Als aber das einfache Mahl beinah beendet war, erschallten drei harte, langsame Schläge gegen die Haustür. Alles schwieg und horchte.

»Da klopft ein Böttcher«, sprach der Meister; »Lutke, sieh nach!«

Lutke ging hinaus, konnte aber aus der Tür auf die dunkle Straße hinaus nichts erkennen als eine männliche Gestalt, die auf der Schwelle stand und flüsternd fragte: »Arnold, bist du es?«

»Ich heiße Lutke«, sagte der Junge nicht allzu freundlich.

»Lutke! Du? Junge, bist du gewachsen!« sprach der Fremde und trat ein. »Kennst du mich denn nicht? Auch nicht an der Stimme? Bin ja dein Bruder Gilbrecht.«

»Gil –!« Gilbrecht wollte Lutke rufen, kam aber nicht dazu, denn – »Pscht!« machte der Bruder und hielt ihm die Hand vor den Mund. »Schrei doch nicht! Wo sind sie?«

»Gerade bei Tisch«, flüsterte Lutke, »komm!«

Ahnte denn niemand da drinnen etwas von dem, was hier draußen vorging? Mutterherz, klopfst du nicht rascher? Schwester Ilsabe, fährt dir's nicht wie ein Blitz durch den Blondkopf: Das könnte am Ende...? Sie lauschen wie im Bann eines Ereignisses, das etwas Seltsames bringt und die Luft mit einer zitternden Spannung füllt, aber eine bestimmte Erwartung stieg keinem auf. Sie hörten nahende Schritte die Stufen empor, eine Hand tastete nach der Klinke, und jetzt – jetzt stand da in der Tür ein Wandergesell mit Sack und Pack, den Hut in der Hand, und sprach mit volltönender, leise bebender Stimme: »Glück herein! Gott ehr' ein ehrbar Handwerk! Guten Abend, Vater und Mutter!«

Starr, mit weit aufgerissenen Augen, mit stockendem Herzschlag saßen sie da, aber nur einen Augenblick, dann überströmte es sie alle auf einmal, dann umfaßte sie alle zugleich das plötzliche Bewußtsein eines kaum denkbaren Glückes, und – »Gilbrecht! Gilbrecht!« riefen und jauchzten sie, flogen von den Sitzen und stürzten auf ihn los, und Ilsabe hing zuerst an ihres lieben Bruders Halse.

Dann ging er reihum. Die Mutter ließ ihn lange nicht von sich, und als er zum Vater kam, drückten sich zwei wackere starke Hände, und zwei treue Augenpaare schauten eines in das andere. Der Meister sprach: »Frau, wenn ein Böttcherknecht gewandert kommt und bittet um Herberge, so soll es ihm nicht versaget, sondern nach Gewohnheit ein Lager, Essen und Trinken gegeben werden. Lege ab, Gilbrecht, und sei willkommen am Tisch!«

Sie rissen ihm fast das Gepäck vom Rücken, der eine das Felleisen, der andere den Ziegenfellbeutel. Ilsabe nahm den Hut und von dem Hute das Wacholdersträußchen und steckte es sich vorn an das Mieder. Das Schwert aber schnallte sich Gilbrecht selber ab und stellte es schnell in den Winkel, als sollte es der Vater nicht sehen. Der hatte es aber schon gesehen, doch er sagte nichts.

Nun wurde zusammengerückt; Gilbrecht mußte sich zwischen Vater und Mutter setzen, und Ilsabe, die verschwunden war, kam wieder mit einem prächtigen Schinken, den sie vor Gilbrecht auf den Tisch stellte. Arnold blickte in die Schenkkanne hinein und dann auf den Vater. Dieser nickte ihm zu und hielt die flache Hand zwei Fuß über den Tisch, was Arnold richtig deutete: so hoch einen Humpen! Lutke mußte wieder springen, und bald stand auf dem Tische ein voller Steinkrug, der sehr hochnäsig auf die Schenkkanne neben sich herabsah.

Gilbrecht hieb tapfer ein und hatte auf alle Fragen, mit denen er bestürmt wurde, nur ein Nicken oder Schütteln, ein gemütliches Brummen als Antwort, bis der Meister dazwischen fuhr: »So laßt ihn doch ruhig essen, und stört ihn nicht!«

Sie folgten dem Befehle wie immer, wenn der Meister sprach, und machten nun über das erfreuliche, kraftstrotzende Aussehen des zum Manne gewordenen Bruders halblaute Bemerkungen, die er natürlich alle hörte und belächelte. Seelenvergnügt saß er da mit rastlos arbeitenden Kinnladen, die rechte Faust mit dem Messer auf dem Tische haltend, die linke Hand am Kruge, schaute sich die Seinigen der Reihe nach an, und die lachenden blauen Augen glänzten in herzinniger Freude und unsäglichem Behagen. Er war ja wieder zu Hause, mitten im Kreise seiner Liebsten auf Erden, streckte die Füße unter seines Vaters Tisch, fühlte die Hand der Mutter hin und wieder auf seiner Schulter und wandte der Glücklichen dann sein strahlendes Antlitz zu mit einem Blick voll unendlicher Liebe und Dankbarkeit. Wie gut es ihm auch in der Fremde ergangen war, so war er doch nirgends gehegt und gehätschelt worden, hatte nirgends so sicher und breit im Schoße des Glücks gesessen wie hier auf diesem Stuhle zwischen Vater und Mutter.

Die Familie Henneberg war ein stämmiger Schlag Menschen, alle hochgewachsen, markig und von gesunder Farbe. Eine unverkennbare Ähnlichkeit war auf den Gesichtern aller ausgeprägt in der breiten Stirn, der etwas stark hervortretenden Nase und dem kräftigen Kinn; dazu hatten sie alle blondes Haar, in das sich beim Meister schon reichliches Grau mischte. Sein bartloses Gesicht war leicht gefurcht, aber die großen, klaren Augen unter den dichten Brauen fügten seinem etwas herben und derben, fest und rund in sich abgeschlossenen Wesen den Ausdruck von Geradheit und Herzensgüte hinzu, so daß die machtvolle Erscheinung des ernsten Mannes nichts Einschüchterndes, vielmehr etwas Vertrauenerweckendes hatte. Wie die Söhne dem Vater glichen, so war die Tochter das holde Ebenbild der Mutter, der man ihrem Aussehen nach die Mutterschaft über diese Enakskinder kaum glauben mochte. Lutke war ja noch jung und etwas schmächtig vom schnellen Wachsen, aber Ilsabe mit ihrer vollen und doch schlanken Gestalt in herrlich blühender Jugendkraft war solcher Brüder würdig. Gilbrechts Blicke ruhten auf ihr, als könne er sich nicht satt sehen an der Anmut und Schönheit, zu der sich die Schwester entwickelt hatte, seit er vor vier Jahren von der damals Sechzehnjährigen geschieden war. Ilsabe bemerkte die stumme Huldigung des Heimgekehrten wohl und freute sich im stillen, daß ihr das Bruderherz treu geblieben war, denn Gilbrecht, nur zwei Jahre älter als sie, war immer ihr Lieblingsbruder gewesen schon seit den Kinderspielen; sie hatte sein und er ihr vollstes Vertrauen besessen in allen großen und kleinen Angelegenheiten, von denen die jungen Gemüter berührt wurden. Hätten sich jetzt die beiden Geschwister in die Seele blicken können, so würde jedes dort des anderen Hoffnung und Vorsatz gelesen haben, das solle alles wieder so sein und nun erst redet und noch mehr, noch viel mehr als früher.

Aber auch der hungrigste Mensch wird endlich einmal satt, wenn er nur lange genug ißt, und Gilbrecht hatte dem, was auf seines Vaters Tische stand, alle Ehre angetan. Jetzt mußte er erzählen. Und er fing mit dem Anfang an. Wohin er zuerst gewandert und daß er – jetzt durfte er's ja wohl eingestehen, ob auch der Vater dabei lächelnd Frau Johanna drohte – mit den Mutterpfennigen, die ihm diese heimlich eingebunden hatte, doch noch weitergekommen war, als mit des Vaters wohlbemessenem Reisegeld. Dann, wo er zuerst Arbeit gefunden hatte, wie sie gewesen war, und so weiter und so weiter, die ganzen vier Jahre durch. Wie er als Meisterssohn nur drei Jahre zu lernen gebraucht hatte, so hätte er auch nur drei Jahre zu wandern gebraucht, aber als er an den Rhein gekommen war, da hatte es ihm dort so gut gefallen, daß er ein ganzes Jahr zugegeben hatte. Achtzehn Monate war er dort geblieben, erst in Elfeld, dann in den berühmten Delsanschen Kellereien zu Hochheim und zuletzt in der großen Weinhandlung des Herrn Christoffer Hoherath in Mainz. Diese großen rheinischen Geschäfte hielten sich ihre eigenen Faßbindereien unter besonderen, selbständigen Böttchermeistern, und da war Gilbrecht auch ein Dichtbinder geworden für Weinfässer mit eisernen Bändern und hatte dabei die Küferei gelernt mit allen Hantierungen und manchen Geheimnissen bei Behandlung der verschiedenen Weine. Endlich hatte es ihn aber doch heimwärts gezogen nach seinem lieben Lüneburg und zu Eltern und Geschwistern, und nun, schloß er, wolle er hierbleiben und das Handwerk treiben mit eisernen oder hölzernen Bändern, wie es gerade vorkomme und von ihm verlangt werde.

Das hörten sie alle gern; nur einer machte dabei ein trauriges Gesicht. Das war Jakob, denn er sagte sich: Nun wirst du wohl fort müssen aus dem guten Brot, denn mehr als zwei Gesellen darf ja der Meister nicht halten. Meister Gotthard sah seines Knechtes Betrübnis und sagte zu ihm: »Habe keine Sorge, Jakob! Außer der Zeit schicke ich dich nicht fort, und sollst auch gute Förderung von mir haben. Der Gilbrecht mag eine Weile ausruhen, wenn er nicht bei einem anderen Meister eintreten will.«

»Das tue ich nicht«, sprach Gilbrecht, »will mir die Zeit schon vertreiben, und wenn ich auch nicht dein dritter Knecht sein darf, so werde ich doch manchmal ein wenig mit zugreifen oder Arnold ablösen dürfen, wenn er sich mal einen guten Montag mehr machen will.«

Dieses Wortes freuten sich wieder alle, namentlich auch Ilsabe und zuallermeist Arnold, aus freilich ganz besonderen Gründen, die mit blauen Montagen nichts zu schaffen hatten.

Nun stand Gilbrecht auf, holte das Schwert aus der Ecke, bot es seinem Vater und sprach: »Hier, Vater! Das bringe ich dir mit, es soll eine gute Klinge sein, du verstehst dich ja besser darauf als ich.«

»Hm! Hm!« machte der Vater und beschaute die Waffe mit sichtlichem Wohlgefallen, zog blank, versuchte, wie ihm der Griff in der Hand lag, wog es und bog es und sagte dann: »Hast recht, eine gute Klinge! Ich danke dir, Gilbrecht!«

Etwas Willkommeneres hätte ihm der Sohn nicht mitbringen können, denn des Meisters einzige Liebhaberei waren Waffen jeglicher Art, in deren Gebrauch er für einen Handwerksmeister außerordentlich geübt war. Er besaß davon eine kleine Sammlung, die er nun mit Freuden um ein so schönes und wertvolles Stück bereichert sah.

Gilbrecht kramte in seinem Gepäck herum und brachte daraus allerlei hübsche Sachen zum Vorschein, wie sie in Lüneburg nicht oder wenigstens nicht so zu haben waren. Die verteilte er als Geschenke an die Seinigen und erregte damit bei allen herzliche Freude. Der Mutter überreichte er einen schönen Buchbeutel für den Kirchgang. Die gelbseidene Tasche, in die man das Gebetbuch steckte, war an einem Brettchen aus Eichenholz befestigt, das auf der einen Seite mit Pergament beklebt war. Auf dem Pergament war ein Gebet geschrieben und das Bild der Heiligen Jungfrau mit dem Kinde in bunte Seide gestickt, das Ganze bedeckt von einer dünnen, durchsichtigen Hornplatte. Ilsabe erhielt eine lederne Gürteltasche mit einer feinen Silberkette, und in der Tasche steckte etwas ganz Wunderbares, noch nie Gesehenes – ein Blatt Papier, das mit einigen Bibelsprüchen aus den Psalmen – nicht beschrieben, sondern bedruckt – ja, ja! – bedruckt war. Sie wollten's nicht glauben, mußten sich aber doch überzeugen, daß diese Buchstaben von keiner Menschenhand geschrieben waren. Das war das Neueste, was es in der Welt gab, und Gilbrecht erzählte nun von der höchst merkwürdigen Erfindung, die ein Mainzer Bürger namens Johann Gutenberg gemacht hatte. Schon vor Jahr und Tag war eine verworrene Kunde davon nach Lüneburg gedrungen, aber man hatte das für einen Schwank gehalten, von einem müßigen Mönch oder verlogenen Landfahrer ausgeheckt, darüber gelacht und es bald vergessen. Aber hier war nun der Beweis, und Ilsabe war nicht wenig stolz darauf, daß ihr Bruder Gilbrecht dieses Wunder mit nach Lüneburg brachte und sie die erste war, die ein greifbares Stück davon besaß und zeigen konnte.

Dem Bruder Arnold stülpte Gilbrecht eine Pelzkappe aus Otterfell auf und sagte dabei lachend: »Ein rechter Dickkopf bist du dein Lebtag gewesen, sieh zu, ob sie paßt.« Sie saß wie für ihn gemacht.

Als er zum Jüngsten kam, hielt er mit der linken Hand etwas hinter sich auf dem Rücken und kratzte sich mit der rechten am Ohr, indem er sprach: »Jung Lutke, mein Ziegenschurz, mit dir ist es mir absonderlich ergangen. Ich dachte nicht, daß du in den vier Jahren ein so stattlicher Reifenmörder werden würdest, sah dich immer noch als den zwölfjährigen Tintenklexer der Klosterschule vom Heiligen Tal und habe dir nun ein Ding mitgebracht, womit sich eigentlich ein Mann wie du nicht mehr abgibt; Tand nennen sie es im Reiche, bloß um die Nürnberger zu ärgern, die dergleichen machen. Da, nimm hin das Spielzeug!« Damit gab er ihm einen Hering, aus Holz geschnitzt und angemalt; den konnte man in zwei Teile auseinanderziehen, inwendig war er hohl und bildete eine Büchse für Federn. Lutke nahm den Holzfisch, hielt ihn am Schwanz hoch und rief: »Seht doch! Seht doch! So natürlich, als wäre er am Heringsstegel bei der Abtsmühle gekauft; danke, Bruder Gilbrecht! Ich nehme ihn doch!«

Bald saßen sie wieder alle um den Tisch herum, denn während der Unruhe des Schenkens und Beschenktwerdens war der fast geleerte, hohe Steinkrug plötzlich wieder voll geworden, aber wie, das wußte kein Mensch in der Welt außer einem einzigen, rosigen, blondzöpfigen Mädchen.

»Balduin Viskule ist auch wieder hier, hab' ich unterwegs erfahren«, begann Gilbrecht, zu seiner Schwester gewandt, »wie sieht er denn aus?«

Aber Ilsabe bückte sich unter den Tisch und hatte dort etwas zu suchen, so daß die Mutter für sie antwortete: »Schlank und rank ist er geworden, hübsch und ansehnlich; er bleibt nun auch hier in seines Herrn Vaters großem Handelswesen.«

Als Ilsabe wieder auftauchte, hielt sie das Wacholdersträußchen in der Hand, das ihr wohl von der Brust entfallen sein mußte, obwohl das niemand bemerkt hatte. Das Blut war ihr vom Bücken in den Kopf gestiegen, sie sah ganz rot aus. »Und ist die Hilke auch so schön geworden wie du, lieb Schwesterlein?« fragte Gilbrecht.

»Hübsch ist sie«, sprach Ilsabe, »sehr hübsch, aber Hilke hört sie sich nicht gern mehr nennen, sage nur Hildegund, wenn du sie siehst.«

»Ich denke morgen«, sagte Gilbrecht. »Ja so! Vater, ich habe noch etwas mitgebracht, einen Brief an den Herrn Bürgermeister Springintgut.«

»Wo denn her?« fragte Meister Gotthard.

»In Celle traf ich zufällig den Ratsherrn Herrn Albrecht von der Mölen –«

»Bürgermeister, zweiten Bürgermeister«, unterbrach ihn der Vater.

»Also den zweiten Herrn Bürgermeister«, fuhr Gilbrecht fort, »und der gab mir den Brief und machte dabei kein heiteres Gesicht.«

Der Meister nickte gedankenvoll und schwieg.

»Vater, was gibt es denn hier?« fragte der Sohn. »Der alte Torwart Kaspar Rulle sagte zu mir: ›Ich wollte, du brächtest uns den Frieden binnen.‹ Ist denn kein Friede mehr in Lüneburg?«

»So recht nicht«, sagte der Meister; »die Schulden der Stadt sind ins Unerschwingliche gewachsen schon von alters her durch die vielen Fehden und großen Bauten; jetzt betragen sie vier Tonnen Goldes. Da hat der Rat von den Sülzbegüterten die volle Hälfte ihrer Einkünfte als Ungeld gefordert, und das wollen sie nicht geben. Der Streit zieht sich schon ein paar Jahre hin, und der Bischof von Verden hat schon mehr als einmal einen Vergleich zustande zu bringen gesucht, aber vergeblich; der Rat gibt nicht nach und die Prälaten auch nicht. Die haben nun den Rat beim Kaiser verklagt, und seine Sache scheint nicht gut zu stehen. Herr Albrecht von der Mölen ist nach Wien zu Hofe gefahren und an das Reichsgericht.«

»Das hat er mir erzählt«, warf Gilbrecht ein. »Morgen früh will ich dem Herrn Bürgermeister den Brief übergeben.«

»Es sollte mich wenig freuen«, meinte der Vater, »wenn du bei deiner Heimkehr unserer Stadt eine schlimme Botschaft brächtest. Ich fürchte, wir gehen einem heißen Kampf entgegen«, schloß er nach einer kurzen Pause, während alle schwiegen, und blickte nach dem Schwert hin, das Gilbrecht ihm geschenkt hatte, und das an einem Schrank lehnte.

Gilbrecht folgte dem Blick seines Vaters und gewahrte jetzt erst den Schrank aus Nußbaumholz mit krauser Arbeit und reichem Schnitzwerk. »Das ist ja Großvaters Schrank!«, rief er überrascht aus.

»War es, Gilbrecht, war es«, sprach ernst Frau Johanna, »Großvaters Name steht im Buch der Toten, seit zwei Jahren schon, und der Schrank ist ein Erbstück von meinem lieben Vater, Gott hab' ihn selig!«

»Das hab' ich nicht gewußt«, sagte Gilbrecht; »der liebe Großvater! Er war immer so gut gegen mich. Woran ist er denn gestorben?«

»An einem Herzschlag«, sprach die Mutter traurig, »er hat einen raschen, sanften Tod gehabt.«

Ilsabe winkte dem Bruder mit den Augen zu, aber dieser fuhr fort: »Mit Verlaub, Vater, nun bist du Sülfmeister geworden, nicht wahr?«

»Wer hat dir das gesagt?« fragte der Vater.

»Kaspar Rulle am Sülztore. Als ich meinen Namen und mich deinen Sohn nannte, rief er: Aha! Vom Sülfmeister. Ich glaubte, er hätte sich nur versprochen, aber nun kann ich mir's erklären.«

»Es ging nicht anders«, sagte Meister Gotthard, »die Mutter erbte vom Großvater eine halbe Pfanne, und da ließen sie nicht nach, ich mußte in die Gilde.«

»Nun, das ist ja kein Unglück«, lächelte Gilbrecht, »aber ich freue mich, daß du das Handwerk darum nicht aufgegeben hast.«

»Arbeit ist das letzte, was ich entbehren möchte«, erwiderte der Meister.

Ilsabe wandte das Gespräch und sagte: »Also am Rhein, Gilbrecht, am Rhein hat dir's am besten gefallen?«

»Ja, Schwesterlein«, sprach Gilbrecht begeistert, »am Rhein! Da gilt das Wort: die Luft macht frei, das heißt die Luft am Rhein. Ich wollte, du könntest den herrlichen Strom einmal sehen mit seinen Bergen und Burgen und seinen lustigen Städten und Dörfern, da geht einem das Herz auf.«

»Ja«, sagte Meister Gotthard, »ich hab' ihn auch gesehen auf meiner Wanderschaft in jungen Jahren; er ist es wert, daß man ein paar Sohlen daran abläuft.«

»Ich habe auch auf seinen beiden Ufern zwischen Bingen und Mainz und zwischen Rüdesheim und Hochheim manchen Fußstapfen stehen«, sprach Gilbrecht und fing wieder an, von dem fröhlichen Leben am Rhein zu erzählen, daß sie ihm gern zuhörten.

»Ich wollte, ich wäre ein Mannsbild!« rief Ilsabe hingerissen von Gilbrechts lebendiger Schilderung, »dann ging' ich auch in die Fremde und wanderte singend bergauf und bergab. Es muß herrlich sein, sich die Welt besehen zu können.«

»Gewiß, liebe Schwester! Aber sage, was du willst, daheim ist es doch am schönsten«, lächelte Gilbrecht und erfaßte die Hand der Mutter, die ihm den zärtlichen Druck innig erwiderte.

Bald erinnerte Frau Johanna, daß es Schlafenszeit sei, sie wollte dem Wegemüden das Lager rüsten. Aber Arnold sagte. »Laß nur, Mutter! Dazu ist morgen Zeit. Gilbrecht schläft diese Nacht in meinem Bett, ich lege mir einen Strohsack auf den Fußboden.«

Des waren sie zufrieden. Man wünschte sich gute Nacht, und die vier jungen Leute gingen hinauf in ihre Kammern. Auch Ilsabe, die neben dem Gemach der Eltern schlief, begab sich zur Ruhe.

Als sie allein waren, legte Frau Johanna die Hände auf ihres Mannes Schultern, sah ihm in die Augen und sagte: »Er ist uns wiedergekommen so rein, wie er gegangen war; Gotthard, ich bin so glücklich!«

»Ich auch, Johanna, aber man muß das den Jungen nicht merken lassen«, sprach Gotthard. Dann gingen sie, und der Meister nahm das neue Schwert mit in die Kammer und stellte es für die Nacht neben sich.

Gilbrecht lag schnell in des Bruders Bett und streckte sich. Arnold sagte, während er sich sein Lager zurechtpackte: »Gilbrecht, keiner ist froher als ich, daß du wieder da bist. Nun werde ich ja wohl auch endlich zu meinem eigenen Feuer und Rauch kommen. Was meinst du dazu?«

»Ja!« brummelte Gilbrecht wie im Traume, und in der nächsten Minute schlief er den Schlaf des Gerechten.


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