Julius Wolff
Der Sülfmeister
Julius Wolff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Auf der Rübekuhle, einer engen, krummen Gasse unweit der Lambertikirche, wohnte in einem kleinen, ziemlich baufälligen Hause, das über und über verschuldet war, der Freiböttcher Meister Alhard Dippold, und außer Weib und Kind waren Armut und Sorge seine Hausgenossen. Böttcher war er fast nur noch dem Namen nach, denn zur Gilde gehörte er nicht mehr, er hatte kein Geld, sich das nötige Holz zu kaufen, und auch keine Kundschaft mehr, die ihm Arbeit bestellt oder abgekauft hätte. Nur dann und wann brachten ihm mitleidige Nachbarn einen schadhaften Bottich, ein Waschfaß oder ein paar Eimer zum Verholen, aber dann mußten sie ihm auch gleich das Geld zum Erwerb der wenigen Dauben und Bände vorstrecken, und für die geringe Arbeit erhielt er nachher bei der Abrechnung nur noch blutwenig ausbezahlt. Die dreiköpfige Familie hätte noch mehr darben müssen, als sie ohnehin schon zu tun gezwungen war, wenn nicht Mann, Frau und Tochter kleine Nebenverdienste gefunden hätten, die sie wenigstens vor dem Hunger schützten. Der Fahrtmeister auf der Sülze war ein weitläufiger Verwandter der Frau, und dieser beschäftigte, so viel er konnte, den Meister Dippold in der Fahrt, dem unterirdischen Stollen, durch den man zu den Solquellen gelangte und dessen hölzerne Stützen, Träger und Bretterwände einer aufmerksamen Instandhaltung und jeweiligen Ausbesserung bedurften. Eigentlich war dies Sache der Zimmerleute, aber es drängte sich niemand zu der beschwerlichen und nicht gefahrlosen Arbeit, und niemand erhob dagegen Einspruch, daß man sie dem Freiböttcher überließ, der ja auch mit Beil und Säge umzugehen wußte. Nur war die Beschäftigung in der Fahrt nicht beständig, und manchen Tag, ja, manche Woche mußte der nicht fest Angestellte ledig gehen. Die Meisterin, Frau Druda, trieb als Hökerin auf dem Mittwochsmarkt eine kleinen Handel, und weil sie ebenso ehrlich wie bedürftig war, so schenkten ihr die Krämer, bei denen sie einkaufte, Treu und Glauben auf kurze Frist. Ursula, die Tochter, stickte zu Hause Hüte für den Hutfilter im Stücklohn. Für einen flandrischen Lammwollhut bekam sie einen Schilling.

Dippolds Ausstoßung aus dem Böttcheramte war ein harter Schlag für die Familie gewesen, und schuldlos war er ja nicht, aber niemand außer ihm selber und einem einzigen anderen wußte, wie gering die Schuld war, um derentwillen er so schwer büßte. Dieser eine war ein armer Schiffer und Eichenführer, der den Böttcher dazu verleitet hatte, die Salztonnen etwas kleiner zu machen, als vorgeschrieben war, nur damit er einige mehr auf seinen Kahn laden konnte und also mehr Fracht erhielt, als ihm von Rechts wegen zukam. Niemand wurde um die fehlende Menge Salz betrogen, denn dieses wurde in Hamburg neu vermessen oder gewogen, und der Kaufmann bezahlte nur, was er wirklich empfing. Die Fracht aber wurde tonnenweise berechnet; der Schiffer steckte den ungerechten Vorteil ein; und der Böttcher, dem die untermäßigen Tonnen wie vollmäßige bezahlt wurden, sparte etwas Holz daran. Die Wardierer hatten im Vertrauen auf seine Rechtlichkeit nicht sorgfältig bei ihm nachgemessen, aber im Ohmhof auf dem Ochsenmarkte, wo die Tonnen von Zeit zu Zeit geeicht wurden, entdeckte man eines Tages den Betrug, der es ja doch immerhin war, und vor der unerbittlichen Strenge der Handwerksordnung galt keine Nachsicht und Vergebung. Das erste Gebot war: Das Handwerk muß so rein sein, wie von den Tauben zusammengetragen, und dem Amtsmeister Gotthard Henneberg war es eine Greuel, eine Unehrlichkeit an einem Werkbruder zu erleben; es wäre für ihn selber ein Schandfleck gewesen und geblieben, wenn er das ungerügt und ungestraft hätte hingehen lassen. Dem betrogenen Böttcher aber hätte es wenig geholfen, wenn er den Schiffer als seinen Verführer und Hauptschuldigen angegeben hätte. Dann wäre auch dieser aus dem Schifferamte gestoßen, und was hätte er dann anfangen sollen, der weiter nichts gelernt hatte, als seinen Kahn zu führen, und der nicht ein Kind, wie Dippold, sondern deren sechs hatte; die hätten ja dann hungern müssen. So schwieg der Böttcher und trug seine Schande, sein Leid und seine Not, und niemand ahnte, am wenigsten sein Amtsmeister Henneberg, daß der unehrlich gewordene Mann besser und braver war als mancher andere, dem kein Wardierer etwas am Zeuge flicken konnte.

Auf drei Jahre war er aus dem Amte gestoßen. Wenn diese Zeit um war, dann konnte er sich wieder redlich machen lassen und wieder in die Gilde eintreten. Aber mittlerweile hatte sich seine Kundschaft zu anderen, unbescholtenen Meistern gewandt. Würde sie je wieder zu ihm zurückkehren? Würde er je aus seinen Schulden heraus und wieder zu Beschäftigung und nur einigermaßen gedeihlichen Wohlstand gelangen? Was ihn am meisten dabei kümmerte, war der Gedanke an Weib und Kind, besonders an seine Tochter Ursula. Er hatte sie durch seinen Frevel um ihr Glück gebracht. Ein Sohn des Sülfmeisters warb um sie, als Arnold Hennebergs Gattin hätte sie ein sorgenloses behagliches Leben gehabt. Diese Aussicht war nun für immer dahin. Ursula saß mit ihrer hoffnungslosen Liebe im sehnenden Herzen und stickte sich an den Hüten die Finger wund, und keiner würde sie zum Weibe begehren, wenn Arnold Henneberg sie sitzen ließ.

Ihre Eltern sparten sich den Bissen vom Munde, um sie bei gutem Aussehen zu erhalten, daß ihre Wangen nicht bleichen, ihre Gestalt nicht abfallen sollte und das hübsche Mädchen auch in Kleidung stets anständig und sauber einherginge. Nur zu diesem Zweck ließ sich auch Frau Druda bewegen, und zwar heimlich, ohne Wissen ihres Mannes und ihrer Tochter, von Arnold den größten Teil seines sehr mäßigen Wochenlohnes anzunehmen, den er erst nach langer Überredung der Abwehrenden zustecken durfte, ihr fast jedesmal aufs neue förmlich aufdringen mußte.

Heute, am Mittwochvormittag, war Ursula allein im Hause, der Vater war auf der Sülze, die Mutter saß auf dem Markt. Da tat sich die Tür auf, und Arnold trat in die ärmliche Stube. Schnell hing sie am Halse des Geliebten, und als sie bemerkte, wie ernst, wie beinah verstört er aussah, fragte sie besorgt: »Arnold, was ist dir? Was hat es wieder gegeben?«

»Nichts Neues, Kind!« erwiderte er im bitteren Ton. »Ich habe mal wieder einen Tanz mit dem Alten gehabt, und einen schlimmeren denn je.«

Sie seufzte tief und barg das Haupt an seiner Brust.

»Es gibt noch eine letzte Hoffnung«, sagte er; »schlägt auch die fehl, so bleibt uns nichts übrig als ein mutiger Schritt, der dem Dinge mit Gewalt ein Ende macht.«

»Ein Ende, Arnold? Ein Ende?« fragte sie traurig.

»Nicht unserer Liebe, mein Herzensmädchen!« beruhigte er. »Die soll uns keiner nehmen, er sei, wer er sei, nicht Vater oder Meister und nicht der Herrgott im Himmel.«

»Lästere nicht, Arnold!« sprach sie erschrocken.

»Ach! Der tut es ja schon von selber nicht«, lächelte er, »der trennt uns nicht, solange wir uns Treue halten.«

»Meine hast du bis in alle Ewigkeit, Arnold!« rief sie mit blinkenden Augen.

»Wie du die meine!« sprach er und drückte sie fester an sich.

»Komm her, setze dich und erzähle«, bat sie; »was hat es gegeben?«

Er setzte sich auf ihren Stuhl und nahm die Geliebte auf seinen Schoß. »Laß nur«, sagte er dann, »du kannst dir's wohl denken. Ich soll dich nicht freien.«

Aber sie ließ nicht nach; er mußte ihr den heftigen Wortwechsel mit seinem Vater berichten und ihr erklären, warum er gerade gestern wieder davon angefangen hatte. Er hätte nämlich zu bemerken geglaubt, vertraute er ihr nun, daß eine Verbindung Balduin Viskules mit seiner Schwester Ilsabe im Werke und gestern zur Freude aller Beteiligten auch wirklich geschlossen worden wäre. Und das glaubte er auch heute noch, obwohl man es ihm verheimlichen wollte. Da hätte er denn gemeint, den günstigen Augenblick und die frohe Stimmung seines Vaters benutzen zu sollen, um diesem den höchsten Wunsch seines Lebens noch einmal recht dringend ans Herz zu legen, in der festen Hoffnung auf Gewährung. Aber darin hätte er sich bitter getäuscht; der Vater hätte ihn gleich von vornherein schroff abgewiesen, so daß auch ihm bald der Ton der frommen Bitte abhanden gekommen und der helle Streit zwischen ihnen ausgebrochen wäre.

»Und das alles meinetwegen!« seufzte sie. »Ich trage den Unfrieden in euer Haus. Wie werden mich die Deinigen alle hassen und verwünschen!«

»Niemand haßt und verwünscht dich, du Liebe!« sprach er, »und das übrige nehme ich auf mich, dich darf es nicht kümmern.«

»Deine Schwester soll eine Viskule werden, und du verlangst eine Dippold zum Weibe!« sprach sie demütig. »Wie verträgt sich das?«

»Ich gönne jedem sein Glück«, erwiderte er, »aber das meine bist du, und den Kampf um dich nehme ich auf mit jedem, der sich mir dabei in den Weg stellt.«

»Steht dir denn keiner bei?« fragte sie. »Auch deine Mutter nicht?«

»Oh, die Mutter täte es von Herzen gern, aber sie richtet gegen den harten Willen meines Vaters nichts aus.«

»Und die Hoffnung, von der du vorhin sprachst?«

»Sicher ist sie nicht.«

»Was ist es denn, worauf du baust?« fragte sie.

»Frage mich nicht«, erwiderte er, »ich darf dir's nicht sagen.«

»Mir nicht sagen, woran unser Schicksal hängt?«

»Nein«, sprach er, »es ist ein gefährlich Ding, und ich habe Schweigen gelobt, denn unserer viele sind daran beteiligt.«

»Eurer viele? Arnold, was soll ich davon denken? Willst du meinetwegen dich und andere in Gefahren stürzen?« fragte sie besorgt.

»Es ist nicht bloß deinet- und meinetwegen«, erwiderte er, »es steht mehr dabei auf dem Spiele.«

Sie bat und schmeichelte, ihm das Geheimnis zu entlocken, aber er blieb fest und verriet ihr nichts. »Es ist ja nur eine Hoffnung«, sagte er.

»Und wenn sie fehlschlägt? Arnold, was dann?«

»Dann? Ursula, hättest du wohl den Mut, Vater und Mutter zu verlassen und mit mir heimlich in die weite, weite Welt zu gehen?«

Sie hatte den einen Arm um seinen Nacken geschlungen, umfing ihn nun auch noch mit dem anderen und schmiegte den Kopf an seine Schulter; aber sie antwortete nicht. Er fühlte, wie sie zitterte.

Endlich kam es leise von ihren Lippen: »Wohin, Arnold? Wohin?«

»In die Fremde, Kind«, sagte er, »ganz gleich, wohin, und wenn es nicht anders ist, meinetwegen unter die fahrenden Leute.«

»Arnold!« fuhr sie auf und sah ihn bestürzt an.

»Unehrlich sind wir dann sowieso«, sagte er, »haben nicht den Segen von Vater und Mutter und nicht den Segen der Kirche, haben nichts als unsere Liebe und vier gesunde Arme. Unter den Elenden und Fahrenden gibt es auch noch gute Menschen, und der uns zu den Geächteten getrieben hat, der mag es vor Gott und sich selber verantworten.«

»Laß uns noch warten, Arnold! Laß uns noch hoffen«, sagte sie, »wir sind ja noch jung.«

»Warten, worauf?« fragte er düster.

»Auf Gottes Hilfe«, sprach sie. »Du sagst ja selber: der trennt uns nicht, wenn wir uns treu bleiben.«

»Nur dem Mutigen hilft Gott«, sprach Arnold, »keinem, der die Hände faul in den Schoß legt. Ich will dich besitzen als mein ehelich Weib, und du ersehnst dasselbe, Ursula! Oder nicht?«

Wieder barg sie bebend das Haupt an seiner Brust.

»Also frage ich dich: bist du zum Äußersten bereit? Willst du mir folgen, wohin ich dich führe? Willst du kommen, wenn ich dich rufe?«

»Wenn deine letzte Hoffnung fehlschlägt – ja!«

Und heiß fühlte er ihren Mund auf seinem Munde.

»Steh auf«, sprach er dann, »und laß mich gehen; es ist Zeit für uns beide. Ich habe dein Wort. Schweige still und warte der Dinge, die da kommen werden und dann – auf Wiedersehen! Lebewohl!«

Aber er ging noch nicht. Sie hielten sich fest umschlungen, ohne Worte, aber mit glühenden Wangen, bis sie ihn mit sanfter Gewalt ängstlich hinausschob. Da ging er hinweg.

Ursula verriegelte schnell die Tür und preßte die Hand auf den wildwogenden Busen: »Alles, alles, was du willst, ohn' Ende, ohn' Ende!«


 << zurück weiter >>