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Man konnte im Zweifel darüber sein, ob etwa die Mitrailleuse nach Jules Favres Vorbild erfunden worden sei oder ob man sie erst erfunden und dann eine davon in Herrn Jules Favre eingebaut habe, menschlichen Verhältnissen entsprechend umgewandelt, freilich, nicht eine Kugelspritze, sondern ein Wortschnellfeuergeschütz. Beide waren echt französischen Geistes, die Kanone und der Diplomat, nur daß die eine über das Schlachtfeld dahinfegte und der andere alle Debatten niederkartätschen wollte.

Wie wollte da ein Pommer dagegen aufkommen, und wenn er zehnmal Ministerpräsident und Bundeskanzler sein mochte, da ihm doch das Französische nur als eine gut gehandhabte erlernte, aber nicht als seine heimatliche Sprache zu Willen war. Es blieb also nichts anderes übrig, als auf alles Überzeugen von vornherein zu verzichten und sich vor diesem Wortkugelregen in einem festen Beharren zu verschanzen.

Wenn Jules Favre am Ende einer Stundenrede eine Atem- oder Trinkpause machte, dann schob man eben wieder hin: ja, aber wenn Frankreich den Frieden wolle, so müsse es Elsaß und Lothringen hergeben. Und Punktum. Das lag da wie ein Klotz, und nun konnte der Franzose wieder schießen. Und er schoß und focht mit den Händen und rief Gott und Europa zu Zeugen an, daß dem französischen Volk das grimmigste Unrecht angetan werde, und daß die Kulturvölker nicht dulden könnten, daß man die Wiege aller Zivilisation so barbarisch vergewaltige.

Man erzählt vom großen, dem ersten Napoleon, daß er beim Schauspieler Talma Unterricht genommen habe, um seinem Auftreten mehr kaiserliche Würde geben zu lernen. Dann war aber Jules Favre gewiß in die Schule von mindestens drei Tragöden und einer Tragödin gegangen, von denen er unterwiesen worden war, seine rasenden Sätze mit den ergreifendsten Gesten der Verzweiflung zu versehen.

Von der Tragödin hatte er die Rührungstränen gelernt.

So kam es wenigstens Bismarck vor, denn er wußte von sich, daß dem höchsten Schmerz nicht viele Achs und Ohs beigegeben und daß die großen Ausrufungszeichen und klagenden Gebärden meist nur von außen angeklebt sind. Wenn er aber den ersten Ärger über die Fruchtlosigkeit dieser Unterredungen verwunden hatte, dann vermochte er es über sich, einen ehrlichen Untergrund der theatralischen Überhitztheit zuzugeben; und bei weiterem Besinnen sagte er sich, daß Gott eben recht verschiedene Sorten von Menschen erschaffen habe, die einen mit engeren, die anderen mit weiteren Mäulern, die einen mit Armen und Händen, die starr und knorrig in den Gelenken saßen, die anderen mit so wohlgeölten Knochenkapseln, daß ihnen jeder einigermaßen angewärmte Gedanke gleich Arme und Beine ins Zappeln brachte; er erinnerte sich der weniger verärgerten und bebürdeten Jahre, in denen ihm solcherlei Studium verschiedener Gottesgaben bei Menschen und Landschaft Freude bereitet hatte, und in denen er, ohne jemals nach einem Umtausch seiner deutschen Haut zu verlangen, auch andere Häute als schön und zu den bezüglichen Seelen passend gelten ließ.

Es war vielleicht wirklich nur darum so schlimm, weil seinem Blut in diesen Wochen wieder so viel Tinte zugesetzt worden war, daß man sich, in Betracht dessen, daß dieser Saft ja aus Galläpfeln erzeugt wurde, gar nicht darüber verwundern durfte, wenn der Lebensbrunnen nun schwärzlich und bitter dahinfloß. Aus war es mit dem freien Reiter- und Soldatendasein, vom Feldbett oder Stroh in den Sattel und auf Landstraßen hin, hinter marschierenden Regimentern drein, in Staubgewölk und Regengeklatsch, und dann von donnernden Höhenriegeln auf stürmende Schützen sehen. Nun war es klar geworden, zu welchem Zweck man das ganze Auswärtige Amt in einer gekürzten Ausgabe: Abeken und Keudell und den Vetter Karl und den Grafen Hatzfeldt mitgeschleppt hatte, samt einem ganzen Anhängewagen voll namenloser Beamter für die elfhundertsiebzehn Zeremonien und Mysterien des Dienstes. Nun war der Wagen verdammt schwer geworden, er ließ sich nur mit Mühe ziehen, man fühlte die Sieben am ganzen Leib und bekam eine Hornhaut auf dem Denkvermögen. Die besetzten Gebiete wollten verwaltet sein, das gab viel Reibungen an den Kanten, wo das Zivilistische mit dem Militärischen zusammenstieß, und neben dem heiligen Bürokratius machte sich jetzt auch der heilige Ressortinus sehr breit, als welcher darauf zu achten hat, daß keine Grenzüberschreitung und Kompetenzverletzung stattfindet. Daheim blieb die Aktenmaschine auch nicht stehen, und da der Maschinenmeister einmal wieder glücklich eingefangen war, sauste ihm auf den dienstlichen Gleitbahnen das Amtspapier nur so zentnerweise nach. Daneben war viel wichtiges Kommen und Gehen im Rothschildschen Schloß zu Ferrières, denn es wollte und wuchs etwas Neues und Gewaltiges heran, dessen Werden aber noch im abendlichen Geheimnisdunkel behütet werden mußte.

Wenn Bismarck solcherart alles überdachte und erwog, wieviel an Ärgerlichem in ihm selbst und wieviel an seinem Verhandlungsgegner lag, da stellte er sich zuletzt doch immer wieder auf das in seiner tiefsten Seele aufgemauerte Fundament um der Gerechtigkeit; und er fand den Monsieur Jules Favre, wie er wirklich war, als einen vertrauens- und liebenswürdigen Menschen, der nur seinem Schmerz auf abenteuerliche Weise Luft machte.

Es verstand sich, daß dieser Schmerz echt war, denn seit dem 19. September hatte man ja Paris selbst am Kragen, und es benahm sich bei diesem Unglück wenig würdig, war vielmehr, wie es auch sonst in Kreisen galanter Damen vorzukommen pflegt, aus einem koketten, lächelnden Ding plötzlich in eine keifende Vettel gewandelt. Seit man Napoleons Thron vom gallischen Podium abgesägt hatte, stritten sich im Namen der glorreichen dritten Republik die Parteien um Schuld und Sühne dieses Krieges, daß die ausgerissenen Haarbüschel die Sonne des französischen Ruhmes verfinsterten. Und jetzt schlugen sie sich schon gegenseitig die Köpfe ein, hatten gar Geschütze in die Straßen gepflanzt und schossen hin und wieder.

Trotz aller dieser Einsichten in Jules Favres und der französischen Nation mißliche Lage fand Bismarck an dem Verlauf der Ereignisse keinerlei mitleidsvolle Änderung für nötig, meinte im Gegenteil, daß alles dies Sonne für das deutsche Korn sei. Und am Ende aller Debatten lag immer wieder sein Klotz da, der Elsaß-Lothringen hieß. Nachdem Jules Favre und seine Begleiter vergebens versucht hatten, ihn wegzuschieben oder um ihn herumzukommen, ließen sie den ganzen Handel sein und gingen unverrichteterdinge zurück, wobei Favre bemerkte, mit Bismarcks Dickschädel ließen sich wohl die stärksten Festungstore einrennen.

So hatten sich also die Friedenstauben aus dem Schloß von Ferrières wieder verflogen, und man stand vor einem großen, rings von Fragezeichen umränderten: Was nun?

Nun könne man sich auf die Volkserhebung gefaßt machen, meinte der König; die Not würde nun durch das Land trommeln, und wenn die Franzosen den geeigneten Mann fänden, so könne die Sache nicht ungefährlich werden.

Moltke glaubte nicht recht an die Gefährlichkeit so rasch zusammengeraffter, ungeschulter Massen; aber da fuhr der König auf: er möge sich an die Franzosen der Revolutionskriege erinnern, an diese sieghaften Volksheere, oder noch besser und glorreicher, an die Kämpfer von 1813, diese ungeübten Landstürmer, die dem großen Napoleon auf die Socken geholfen hätten. Noch sei nicht aller Tage Abend, wenn man auch vor Paris stehe, und jetzt fange der Krieg erst an.

Das war ganz nach Bismarcks Sinn gesprochen; er sah den König mit ja-sagenden Augen an und richtete sich im gründamastenen Armstuhl, in dem er unter dem Bilde des alten Jakob Rothschild saß, etwas auf. So müßte man wohl, meinte er, allen solchen Erhebungen durch eine rasche Einnahme von Paris zuvorkommen.

»Ja«, sagte Moltke, »es wird aber schon einige Wochen dauern, bis sie der Hunger mürbe gemacht hat.« – »Ach was, Hunger«, rief Bismarck, »Hunger? Darauf dürfen wir nicht warten. Wir müssen ihnen ein paar tausend Tonnen Eisen hinüberschicken, so heiß, wie es nur aus den Kanonenrohren kommt. So ein paar Granaten zum Frühstück, Mittag- und Abendessen – bei solcher Kost brauchen wir uns nicht auf den Hunger zu verlassen.«

Moltkes Blick lag kalt auf Bismarcks stürmischem Eifer: »Das ist schwerer, als Sie sich vorstellen, Graf Bismarck. Paris ist eine starke Festung; wenn wir die Beschießung mit ungenügenden Mitteln unternehmen und dann keinen Erfolg haben, so stehen mir jämmerlich da.«

Es war deutlich, daß der Feldherr den Laienunverstand des Ministers zurechtgewiesen hatte. Schwarzgallig rann das Blut durch Bismarcks Adern: »Ich maße mir nicht an, Sie belehren zu wollen; es wird Sache des Generalstabes sein müssen, sich über die Durchführung klar zu werden.«

»Sie begnügen sich damit, die Beschießung anzuordnen.« Trockener Humor knisterte in jedem Wort. Bismarck hielt an sich: »Ich kann sie nicht anordnen; ich kann sie nur empfehlen. Dringend empfehlen, denn es erscheint mir geraten, den Frieden zu beschleunigen. Sie sind ja doch selbst der Ansicht, daß wir ohne Metz keinen Frieden machen können. Wie wollen Sie aber die Franzosen dazu bewegen, wenn Sie Paris nicht beschießen? Wir müssen uns beeilen, den Krieg zu Ende zu bringen; Thiers reist bei den Neutralen herum und weint allen Ministerien Europas die Ohren voll über den Untergang Frankreichs. Und ich spüre wahrhaftig auch schon den Neutralitätsrheumatismus in allen Gliedern, das heißt, die Anzeichen eines schlechten Wetters bei den Nachbarn. Wenn wir lange im Kreis um Paris herumstehen und warten, bis sie drinnen bei Hundebraten und Katzenragout angelangt sind, so kriegen die Zuschauer zuletzt den Einmischungswahn. Ich sehe Konferenzen auftauchen … Sie haben es leicht, Sie bleiben bei Ihren Karten … aber setzen Sie sich einmal mit zwanzig Diplomaten an den grünen Tisch. Ich möchte mit Ihnen tauschen, Moltke, auf der Stelle … wenn dies ginge und mir mit Ihrer Aufgabe auch die strategische Genialität angeflogen käme.«

Der Feldherr wies dieses Ansinnen durch eine gefrorene Miene ab. Selbst im Scherz sollte so etwas an ihn nicht heran, starre Falten klammerten die dünnen Lippen ein, auf den eingesunkenen Wangen rötete sich die Haut über den Backenknochen: »Paris ist viel zu weitläufig«, sagte er, indem er sich nun ganz ins Sachliche stellte, »wir haben etwas über hundertsechzigtausend Mann auf hundertvierzig Kilometer Front verteilen müssen; und wenn wir die Belagerungsarmee auf zweimalhunderttausend Mann erhöhen, so genügt das höchstens zur Einschließung, aber nicht zum Sturm auf den Fortsgürtel. Die Franzosen haben eine ungeheure Menge ihrer schwersten Marinegeschütze herangebracht, die sind vortrefflich an den wichtigsten Punkten verteilt. Wir können nicht entfernt so viele. Kanonen und so wirksame Kaliber herbeischaffen. Die Eisenbahn, die wir benutzen können, endet in Nauteuil, das ist etwa hundert Kilometer von unseren Linien. Wie wollen Sie schwere Geschütze auf den Straßen befördern, die bald von dem Herbstregen unter Wasser gesetzt sein werden? Wir haben überdies auch weder Wagen noch Pferde, und ich weiß auch nicht, woher wir sie nehmen sollen.« Er schloß und sah Bismarck nach dieser Rede dauernd unverwandt an: »Genügt Ihnen das?« fragte er mit stählernem Klang.

Bismarck zuckte die Achseln: »Darauf kann ich Ihnen nur antworten, daß die Italiener bereits überlegen, ob sie den Franzosen nicht doch zu Hilfe kommen sollen, daß die Russen bereits die Hand ausstrecken, um die Gelegenheit bei einem Zipfel zu packen, und daß die Engländer darüber nachdenken, was sie uns bei der Gelegenheit antun können. Es ist nur ein Glück, daß sich Österreich neutral erklärt hat und uns nicht in den Rücken fällt; freilich würde ich es vermeiden, ihm zu viel Zeit zum Nachdenken über seine Neutralität zu geben.«

»Es tut nichts«, dachte Bismarck, »wenn ich den König daran erinnere, daß ich es gewesen bin, der ihm damals den besten Rat gegeben hat.«

Der König hatte sich still verhalten, und nur seine Augen waren von einem zum andern gegangen, je nachdem einer ans Wort geriet; aber es war nicht abzusehen gewesen, zu welchem von ihnen er sich stellte. Er saß vor dem Kamin, eine pantherartig gefleckte Plüschdecke über den Beinen, die vom Feuer rot angestrahlt war. Jetzt sank die Decke herab. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte der König, »wir wollen schlafen gehen.«

Für Bismarck aber war die Schlafenszeit noch nicht da, denn drüben in seinem Zimmer wartete Delbrück, der in München gewesen war, um zu hören, wie sich Süddeutschland den Anschluß an den Norddeutschen Bund dachte.


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