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Diesmal hatte alles Brunnentrinken und Waldwandern im Emser Hügelgelände und die schönsten Sonnenuntergänge hoher Sommertage dem König keine Erholung gebracht.
In die ersehnte Entspannung hatte sich Aufregung und Ärger gedrängt, und nun hielt man eine Depesche in der Hand, die den Krieg bedeutete, wenn Frankreich nicht in letzter Stunde Vernunft annahm. Jähem ersten Erschrecken war Düsterkeit und Unruhe gefolgt, manche Gedanken ließen sich kaum zu Ende denken, und so viel war im Augenblick klar, daß man die Lahn verlassen und an die Spree eilen mußte.
In angstvoller Liebe an den König geschmiegt, fuhr Augusta mit ihm zur Bahn. »Warum läßt man dich nicht in Ruhe«, klagte sie, »warum hast du dir diesen rastlosen Menschen gesellt? Du Armer, Guter, hast du dir nicht einen heiteren Abend verdient? Du bist mit deinen dreiundsiebzig Jahren kein Greis, aber du darfst erwarten, daß man dich nicht mehr mit schweren Entschließungen plagt.«
Der König zog die Hand seiner Frau empor und küßte zärtlich die über feine, blaue Adern gespannte Haut.
»Ach«, sagte sie mit einem leichten Schmollen, das ihr noch immer jugendlich anstand, »ich gelte ja doch nichts bei dir; im Herzen gibst du mir recht, aber dann packt er dich zwischen seine eisernen Klammern und preßt aus dir, was er will. Er hat dich zum Krieg gegen Österreich gezwungen, und nur durch Gottes Gnade ist er gut für uns ausgegangen. Aber nun spielt er sein tolles Spiel weiter, und du sollst alles daransetzen, was du damals gewonnen hast. Und diesmal geht es wirklich um Sein oder Nichtsein Preußens.«
Schweren Hauptes nickte der König.
»Du wirst sehen«, fuhr Augusta fort, »die deutschen Staaten werden dich alle verlassen, die annektierten Provinzen werden sich gegen dich erheben. Österreich wird dir in den Rücken fallen. Denn ein Krieg gegen Frankreich ist ein Verbrechen gegen die Zivilisation, die ganze Welt wird sich gegen dich empören, du wirst unterliegen.«
»Unsere Armee ist in zwei siegreichen Kriegen gestählt«, sagte der König, und sein gutes Gesicht straffte sich soldatenstolz.
»Was hilft das gegen die Armeen Frankreichs? Bleibe stark, wenn sie dich gegen Napoleon hetzen. Unterliegst du, so ist Preußen verloren, und siegst du, so hast du nichts als den Ruhm erworben, die Menschheit ins Herz getroffen zu haben, denn Paris ist ihr Herz. Ich beschwöre dich, denke an die Zukunft Preußens und an die Zukunft unserer Kinder.«
Tränen kamen unter den gesenkten Lidern vor, die Königin schluchzte in ihr Taschentuch; tief erschüttert drückte der König seine Schulter gegen die ihre.
Sie fuhren im runden Bogen den Bahnhof an und verließen den Wagen. Da war der graue Bahnsteig bis zum wartenden Zug hin von einer Blütenwolke in Weiß und Rosa und Hellblau überstäubt. Hunderte von Frauen und Mädchen standen da, und als der König kam, begann ein helles Rufen und Wehen von Taschentüchern.
»Siehst du!« flüsterte die Königin, »sie erwarten dich, um dich zu bitten, daß du den Krieg verhüten mögest.«
Zwischen einigen Herren in feierlichstem Schwarz trat ein ganz junges Mädchen vor, Sonnenglanz fing sich in blondem Haar, Rosen dufteten stark und heiß dem König entgegen. »Dem König«, sagte sie mit zitternder Stimme, »der Deutschland siegreich gegen Frankreich führen wird.«
Am Schlag des Wagens aber, als der König schon den Fuß auf den Tritt gesetzt hatte, sah er noch einmal in seiner treuen Gefährtin vergrämtes Gesicht. »Denke an Jena und Tilsit«, sagte sie leise, »denke an die Schmach deiner Mutter in Tilsit.«
Der König fuhr aus der wehenden und klingenden Blütenwolke ins Freie. »Sie wissen nicht, was sie tun«, dachte er, »es sind junge Mädchen und Frauen. Sie haben noch nie ein Schlachtfeld gesehen.«
Und seine trüben Gedanken wollten ihn nicht verlassen; er saß wortlos neben dem Adjutanten, der bisweilen scheu von der Seite nach seinem greisen Herrn sah, um diesem unbewegten Gesicht etwas abzulesen.
Vor einer kleinen Station zögerte der Zug mit der Einfahrt. Auf der Straße, die sich hier ganz nahe an die Bahn heranzog und ein Stück neben ihr hinlief, kam ein Bauernwagen heran mit einem Dutzend von Marktbesuchern, die aus der Stadt in ihr Dorf heimkehrten. Sie hatten alle die Hüte mit Sträußen und bunten Bändern besteckt, und Sankt Gambrinus hatte einige von ihnen gesegnet. Als sie bei der Bahnübersetzung vor dem wartenden Zug halten mußten, sah der Weichenwächter aus seinem Blockhäuschen. »Der König«, sagte er, indem er auf die Wagenreihe deutete, »der König fährt nach Berlin.«
Und plötzlich reckten alle Bauern die Hälse, rissen die buntfarbigen Hüte ab und begannen zu brüllen, daß die Erde vom Bahndamm bröckelte: »Nieder mit die Rothosen! Wir hauen Napolium den Hintern aus!«
Der König zeigte sich nicht, sah nur verstohlen nach dem Wagen voll kriegerischer Bauern und dachte: »Sie wissen nicht, was sie schreien. Sie müssen es ganz vergessen haben, wie es war, als wir die Franzosen im Land hatten und alle Saaten von Pferdehufen und Geschützrädern in den Boden gestampft wurden. Es hat wohl keiner von ihnen ein Schlachtfeld gesehen.«
Gleich darauf fuhr der Zug weiter, und sogleich sogen sich wieder die traurigen Gedanken wie Blutegel an des Königs Herz.
Aber dann kam man nach Göttingen, und da zeigte der Bahnhof das allerbunteste Farbenspiel. Alle Studenten und Professoren waren ausgerückt, die lehr- und die lernbeflissene Wissenschaft, die ehrwürdigen und hochmögenden Zylinder als kleine Insel inmitten einer Brandung von Kappen. Schläger stießen gegen das Pflaster, Fahnen waren entfaltet, und die ganze glorreiche Alma mater Georgia Augusta vom Rektor bis zum letzten Couleurdiener brüllte wie aus einem Munde: »Den Krieg, Majestät, wir wollen den Krieg!«
Und auf einmal kam ein schwerer Wellenschlag in die Brandung, Rhythmus und Gesang, halb festlich und halb kriegerisch, hämmernde Begeisterung, Marsch von Tausenden, ein Lied; ein Lied, so unmittelbar, als habe es eben erst dieser Augenblick heiß und jung aus dem Herzen der Menschen gerissen. Wilhelm verstand die Worte nicht ganz; aber als es am Ende jeder Strophe hieß:
»Lieb Vaterland, magst ruhig sein …
Fest steht und treu die Wacht am Rhein …«,
da wehte es ihn wie Längstvertrautes an, wie das Wiederfinden eines Dinges, das man vorzeiten als unscheinbar und wenig brauchbar in eine unachtsame Bewahrung getan hat und dem nun an neuen, unvorhergesehenen Ereignissen ein niemals geahnter Wert zugeflossen ist.
»Was für ein Lied ist das wohl, das da gesungen wird?« fragte er nachdenklich.
Der Adjutant lächelte, aber sein Mund zuckte in Ergriffenheit: »Majestät erkennen es nicht …? Es ist gegen Frankreich gedichtet, ich weiß nicht von wem, und ich weiß nicht, von welchem Kapellmeister in Musik gesetzt. Aber ich erinnere mich, es vor ein paar Jahren beim Sängerbundesfest in Dresden gehört zu haben … man vergißt es nicht so bald wieder … und damals sagte man mir, es sei zur Feier von Eurer Majestät silberner Hochzeit in Krefeld komponiert worden.«
»1854 also«, nickte der König und blickte der Vergangenheit nach, »1854! Das ist lange her. Ich glaube, man hat es mir schon bisweilen vorgesungen.« Und auf einmal kam es ihm vor, als müßte Gott doch etwas Besonderes damit meinen, wenn ihm gerade dieses Lied, das zuerst zur Feier seiner Vereinigung mit Augusta in die Welt geklungen hatte, hier als Kriegslied entgegenbrauste. War etwa dies der Verstand dieser absonderlichen Wandlung, daß der Himmel durch die Stimmen des Volkes anzeigen wollte, er habe sich von den allzu Friedfertigen weg, den Kriegswilligen zugewendet?
Aber ehe er noch aus dem tosenden Bahnhof ganz draußen war, fraß schon wieder der Zweifel, und die Düsterkeit senkte sich herab. »Sie wissen nicht, was sie wollen«, dachte er, »es sind unreife und unerfahrene junge Menschen, die ihre Lehrer angesteckt und mitgerissen haben. Sie wollen die Langeweile der Schulbank mit Lagerfeuern und einem Soldatenleben vertauschen, das sie sich nicht romantisch genug vorstellen können. Sie haben alle miteinander noch kein Schlachtfeld gesehen.«
In Berlin war Ruhe und Ordnung, denn die Polizei hatte das Publikum von den Bahnsteigen zurückgedrängt und preßte es in schmalen, schwarzen Leisten gegen die Wände. Während der König mit dem Kronprinzen, Bismarck, Moltke und Roon, die ihm bis Brandenburg entgegengekommen waren, dem Wartesaal zuschritt, bemerkte er in der ersten Reihe der Menschen, fast verdeckt von dem breiten Rücken eines Schutzmannes, einen einbeinigen Krüppel. Der Mann trug die Kriegsdenkmünze auf dem Rock und drehte den Hut in der Hand und hing mit so treuen, leuchtenden Augen an dem König, daß dieser, wie von einem plötzlichen Anruf getroffen, anhielt.
»Wo hast du dir deine Medaille geholt, mein Sohn?« fragte der König.
Der Veteran richtete sich, so gut es auf einem natürlichen und einem hölzernen Bein gehen wollte, stramm auf und antwortete: »Bei Königgrätz, Majestät.«
Da überkam den König der Wunsch guter Menschen, die in schwerer Bedrängnis und großer Seelennot sind, dieses Verlangen nach einer edlen und reinen Tat, und er sagte rasch und beinahe schamhaft: »Du sollst dir etwas ausbitten, mein Sohn«, und als er den Mann zögern sah, drängte er: »Rasch, bitte dir etwas aus, was kann ich für dich tun? Was willst du haben?«
Der Mann stand vor seinem König und sah ihm fest ins Gesicht. »Den Krieg gegen Frankreich, Majestät!« antwortete er mit soldatischer Bestimmtheit.
Der König senkte den Kopf und nickte leise, denn dieser da, der wußte, was er sagte, der hatte Schlachtfelder gesehen und fallende Kameraden und wimmernde Verwundete, und dennoch wollte er den Krieg wie alle andern, ungeachtet alles Jammers, der hinter ihm drein zog. –
Auf dem Potsdamer Platz hatte die Polizei keine Macht über die ungeheuere Menge. Man wußte, daß Gramont in Paris gesagt hatte, Frankreich mache seine Armee mobil, man wußte, daß der König, den Napoleon beleidigt hatte, ankam, und nun standen sie wartend, wie sich das Schicksal enthüllen würde.
Aus dem Bahnhof lief es über die Stufen hinab, das Schwirren und Drängen der Tausende lähmend: der Zug war eingefahren, der König war da! Und man hatte nur mehr wenige Minuten zu warten, da sah man plötzlich die hohe Gestalt des Kronprinzen auf der obersten Stufe, weithin über dem schwarzen Schwarm sichtbar.
Er hob den Arm und rief: »Die Mobilmachung der Armee ist befohlen.«
Da zogen alle die Hüte ab, und es stockte noch ein kurzes Schweigen, dann aber war es, als brächen alle Schlünde der Erde und des Himmels los, jubelnde Donner schlugen hoch, und alle Häuser erzitterten von den Grundmauern bis unter die Dächer.