Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25

Als Moltke und Roon mit strahlendem Ernst abgezogen waren, ging Bismarck langsam in sein Arbeitszimmer, wo er Keudell seiner wartend fand.

»Ist die Depesche besorgt?« fragte er.

Sie war es, und zur Stunde lief sie alle Telegraphendrähte entlang und klapperte in unzähligen Stationen ihre Striche und Punkte auf den schmalen Papierstreifen hin, und morgen las es alle Welt, daß der Abgesandte Frankreichs den greisen König beleidigt hatte und von ihm zurechtgewiesen worden war. Es war, als ticke diese Maschinenarbeit bis in die Stille des Arbeitsraumes hinein und dringe körperlich in Bismarck, so daß er sie wie feine Nadelstiche im Pulsen der Schlagadern fühlte.

»Es ist gut so!« sagte er sich, »es ist gut so; denn es ist das einzig Mögliche.«

»Schreiben Sie, Keudell«, sprach er laut, »eine Depesche an den König. Die Chiffrierbeamten sind da?« Drüben warteten sie, in einem Raum des lautlosen Hauses, an den kleinen Tischen, über deren jedem dieser unablässig rinnende gelbe Schein lag. Bismarck nahm von dem mit Papieren überhäuften großen Tisch ein Heft auf, blätterte in Rethels Totentanz, sah den Tod auf der Barrikade stehen. Das war vorbei, die Barrikadenzeit; nun ging es auf anderem Wege zum großen Ziel, und wenn der Tod schon mit dabei war, so trug er doch nicht die Schärpe und Fahne der Revolution, sondern das alte deutsche Kaiserschwert.

Losnächte, dachte Bismarck, Schicksalsnächte eines Volkes!

»Schreiben Sie«, begann er: »Eurer Majestät Depesche in der von Abeken mitgeteilten Fassung zu veröffentlichen, konnte ich mich nicht entschließen. Daß dem Publikum ein Recht darauf eingeräumt werden muß, von den ganz Deutschland erregenden Verhandlungen unmittelbar Nachricht zu erhalten, ist einleuchtend, und der Schlußpassus von Eurer Majestät Depesche stellt es mir ja anheim, sie unseren Gesandten und der Presse mitzuteilen …«

Keudell saß über das Papier gebeugt, und sein Stift flog hinter dem rasend schnellen Gang von Bismarcks Worten her.

»Schreiben Sie«, fuhr Bismarck fort, indem er diesen gebeugten Rücken und das Stück des aus dem Rockkragen kriechenden Kopfes betrachtete. »Leider läßt jedoch die Fassung die Deutung zu, daß die Verhandlungen keineswegs durch die Zurückweisung Benedettis beendet seien, sondern weiteren Fortgang nehmen und erst in Berlin zum Abschluß gebracht werden würden. Dieses scheint mir aber unangebracht gegenüber einer Dreistigkeit … schreiben Sie: Zudringlichkeit, der König hat das Wort ja selbst gebraucht … also: Zudringlichkeit, die nicht vor persönlicher Belästigung der Königlichen Majestät haltgemacht hat. Es übersteigt die Grenzen, die dem Verkehr zwischen dem Gesandten eines Landes und dem Souverän des anderen gezogen sind, wenn jener diesem sozusagen nachstellt und die Neigung Eurer Majestät zu einfacheren Verkehrsformen und persönlicher Besprechung schwebender Angelegenheiten dazu ausnützt, um Forderungen an ihn zu richten, die, an sich schon überspannt, niemals mit Umgehung des amtlichen Weges an ihn zu bringen wären. Die allgemeine Empörung hat ein Recht darauf, zu verlangen, daß die Zurecht- und Zurückweisung, die Euere Majestät dem Geschäftsträger Frankreichs haben zuteil werden lassen, als eine endgültige und abschließende angesehen werden kann. Ich habe deshalb in der zur Veröffentlichung bestimmten Fassung von Euerer Majestät Depesche … zwanglos … nein, schreiben Sie: durch Hinweglassung einiger belangloser Wendungen der Mitteilung … einen solchen … einen solchen endgültigen und abschließenden Sinn gegeben.«

»Es ist gut so«, sagte er sich abermals, »es war das Richtige. Es war das einzig Mögliche.« – »Nein, … es ist nicht gut so«, wurde ihm plötzlich geantwortet, »es ist gar nicht gut so …«

Bismarck übersah vollkommen, daß ihm diese Antwort auf Gedanken gekommen war, die er gar nicht hatte laut werden lassen, und fuhr heftig dagegen ab: »Und warum nicht? Warum nicht? Sollte es etwa in diesem Stil weitergehen, mit Unverschämtheiten und Herausforderungen? Sollte es den Franzosen erlaubt sein, uns ihre Absätze in den Bauch zu stoßen und mit der Peitsche vor dem Gesicht zu fuchteln?«

»Gewiß nicht«, war die Antwort, »gewiß nicht. Sosehr die Franzosen schätzbar sind, indem sie der Menschheit eine Reihe der erleuchtetsten Geister dargeboten haben, so sind sie doch eine allzu unruhige Nation, nur allzeit geneigt, ihre politique nach dem Grundsatz einzurichten, es sei, wenn daheim die Kinder greinen, des Nachbars Haus anzuzünden, damit die Bälger ein Schauspiel hätten.«

»Nun also«, sagte Bismarck, »und was wollen sie noch weiter? Ist der Erbprinz von Hohenzollern-Sigmaringen nicht von der spanischen Kandidatur zurückgetreten, als er das Getöse in Frankreich hörte?«

»Es ist richtig«, sprach die Stimme, »und das sieht wahrhaftig ganz so aus, als hätte Preußen selbst, sit venia verbo, den p. t. Schwanz eingezogen. Aber noch mehr ist gewiß Spanien selbst in der Sache engagiert; denn man will ihm verbieten, sich den König zu holen, der ihm paßt, und füglich hätte Spanien vor allem Grund und Ursache, an Frankreich den Krieg zu erklären.«

»Das sollte man meinen«, schwoll Bismarcks Grimm, »aber die Spanier mögen tun, was sie wollen. Finden sie, sie könnten es sich gefallen lassen, so ist das ihre Sache; aber daß wir es uns nicht gefallen lassen können, das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Und wäre es bloß an dem, so könnte man die Sache noch mit ein paar diplomatischen Rippenstößen einrenken oder mit ein paar Abführpillen regeln, obzwar es immer so aussehen würde, als wären wir vor kriegerischen Drohungen gewichen. Aber was soll man zu dieser neuen Unverfrorenheit sagen, zu dieser Zumutung, unser König solle sich verpflichten, nie wieder zu einer hohenzollernschen Kandidatur auf Spanien seine Zustimmung zu geben. An den Aspantikönig oder den Sultan von Marokko können sie solche Forderungen stellen, aber nicht an den König von Preußen.«

»Ja, es ist wahr«, wurde ihm entgegnet, »und es scheint wirklich, daß sie eine solche Forderung nur gestellt haben, weil sie entschlossen sind, es zum Krieg zu treiben.«

»Nun also«, triumphierte Bismarck klingend, »dann war es auch gut, der Sache einen Schliff zu geben, der ihre Böswilligkeit ans Licht und sie vor der ganzen Welt ins Unrecht setzt.«

»Und es war doch nicht gut«, kam die Antwort hartnäckig und ein wenig traurig; »denn dabei hat etwas Schaden genommen, ein heiliches Gut, die deutsche Wahrhaftigkeit.«

Es war unerhört, daß sich Keudell herausnahm, so zu sprechen, daß er seine Werkzeugbescheidenheit vergessen hatte und sich vermaß, seinem Meister peinvolle Dinge vorzuhalten, so blutig und schmerzhaft, als schneide er sie aus seinem Innern. Wie konnte er sich unterstehen, Fetzen von Bismarcks Gedanken loszureißen und sie vor ihn hinzuwerfen. Und höchst seltsam auch dies, daß er in einem gelben, geblümten Schlafrock dasaß, eine Kielfeder hinter dem rechten Ohr, und daß er mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte trommelte.

»Hören Sie, Keudell …«, sagte Bismarck; aber da wirbelte der gelbe Schlafrock plötzlich auf dem Drehstuhl herum, in beängstigender Schnelligkeit, eine rote Schnur zischte hervor, hob sich im Schwung zur Waagrechten. Das Ganze war ein kreisender gelber Kegel, um den die Schnur als rote Scheibe flog, und das Rotationsphänomen schraubte sich eilig mit der Platte des Drehstuhles aus dem Gestell hervor, immer höher, bis es oben, hoch über Bismarcks Kopf unter der Decke tanzte. Bei alledem war Bismarck im Augenblick nichts so erstaunlich, als daß im Drehstuhl eine so endlos lange Schraubenstange stecken konnte. Während er noch darüber nachsann, wandelte sich der rotumflirrte gelbe Wirbel oben in seine Gegenbewegung und sank langsam herab, in immer bedächtigerem Drehen, bis ein Männlein im gelben Schlafrock mit roten Quasten, ein skurriles und vertrauliches Lächeln auf dem Gesicht, unmittelbar unter Bismarcks Augen saß.

»Ja, Bismarck«, sagte es, »die deutsche Wahrhaftigkeit hat Schaden genommen.«

Es war Bismarck, als habe dieser Mensch ein Recht, da zu sitzen, als könne er nicht so ohne weiteres hinausgewiesen werden; denn wenn er auch in seiner Kleidung und seinem Gebaren höchst fremdartig und sonderbar war, so sprach Bismarck doch in dessen unaufhörlich wechselndem Mienenspiel jeweils etwas längst Bekanntes, und es war beinahe, als bediene er sich des Muskelzuckens in seinem Gesicht nur, damit nicht festgestellt werden könne, wem er eigentlich gleiche.

»Gewiß«, sagte der Mann mitten in Bismarcks Gedanken hinein, »ich habe Sie doch auf den Armen getragen. Jawohl, auf den Armen getragen, mein Bester; mein Name ist Kapellmeister Kreisler, aufzuwarten!«

Ein blendender Feuerschein schoß herab, Feuervögel flogen flatternd hoch, eine große Volksmenge drängte und stieß. Bismarck nickte, losgelöst vom Raum, in dem er stand.

»Und darum, mein Bester … jawohl, die deutsche Wahrhaftigkeit: Eine schöne Tugend, nicht wahr, wir haben allerlei Gutes errungen, Macht, Herrlichkeit, Ansehen, lauter neue und glänzende Dinge, darüber kann man ein solches altes Erbstück schon dahingeben. Wir haben Deutschland mit neuem Möbel versehen, da muß wohl der Großvaterstuhl in die Rumpelkammer!«

»Ich habe«, sagte Bismarck, sich ermahnend, »ich habe nichts getan, was ich nicht verantworten könnte. Es ist kein Wort verändert worden, ich habe nur gestrichen und zusammengezogen …; es ist eine Redaktion, keine … Fälschung.«

»Hoho«, lachte das Schlafrockmännlein, indem es sich auf die dürren Schenkel klatschte, »hoho, ein Sophisma, ein prächtiges Sophisma. Wickelt man sich jetzt in Sophismen ein. Als ob der Graf Bismarck, der erste Staatsmann Europas, nicht wüßte, daß es in Aktenstücken auf jedes Wort ankommt. Daß in solchen Dingen Weglassen dasselbe ist wie Hinzufügen und Umdrehen. Logik! Logik, Verehrtester! Ist der Ton durch die salva venia, Redaktion nicht ganz und gar verändert worden, aus einer Schamade in eine Fanfare.«

Das waren Moltkes Worte gewesen, und so war es klar, daß der Mensch schon den ganzen Abend über in Bismarcks Nähe gelauscht und gelauert haben mußte. Man war also im eigenen Haus nicht sicher, und Bismarck wollte heftig auffahren, als er sich von einem so wehmütig liebevollen Blick umfangen fühlte, daß er innehielt. Auch in diesem Blick waren viele andere Blicke wie in einem Strahlenbündel zusammengefaßt, seines Vaters derbe Geradheit, Blanckenburgs anhängliche Treue, Maries schwärmerische Schlauheit, und vor allem der weiche Glanz aus Johannas Augen, die Blicke aller Menschen, die er geliebt hatte und liebte.

»Ich habe meinen Abschied nehmen wollen«, sagte er leise, »aber Moltke und Roon meinten, ich dürfe es nicht tun. Wenn wir zurückgewichen wären … das hätte ich nicht ertragen. Ich wäre von der Bühne abgetreten, da kam die Depesche, die mir die Möglichkeit gab, den Streich auf Frankreich zurückprallen zu lassen. Glauben Sie mir, ich wäre zurückgetreten, wenn ein anderer da wäre …«

Das Männlein hielt sein Vogelgesicht ganz still, und man konnte jetzt sehen, daß es von unzähligen Furchen durchzogen war, aus denen sich die Nase krumm und schmal über dünnen Lippen hervorarbeitete. Es nahm die Schlafrockschnur in die Hand, und sogleich richtete sich diese straff empor und stand senkrecht wie eine rote Blume. Die große Nase senkte sich über die Quaste, als rieche sie wirklich an einer Blüte.

»Das ist wahr«, sagte das Männlein, indem es die rote Schnur sinken ließ, die sich sogleich wieder weich und geschmeidig um den gelben Schlafrock schlang, »das ist wahr … es ist kein anderer da!«

»Es ist nicht leicht, sich für den Krieg zu entscheiden«, fuhr Bismarck in seinen Gedanken fort, »ich werde selbst zwei Söhne im Felde haben.«

Lautlos glitt der fremde Gast vom Stuhl und setzte sich mit einem kleinen Tanzmeistersprung in eine seltsame Bewegung, indem er zwei Schritte vor und einen zurück machte. So ging er mehrere Male durch den Raum, schaukelnd und murmelnd und manchmal den Kopf nach Bismarck wendend, bis er plötzlich klein und unansehnlich vor diesem stehenblieb. Den Kopf drehte er schief nach dem Überragenden, die Falten spielten und jagten einander, die Augen hatten einen weißlichen Schimmer. »Und Deutschland?« fragte er. »Und Deutschland? Wird Deutschland einig sein?«

»Es ist die gebietende Stunde«, sagte Bismarck, »Deutschland wird einig sein. Woran wir gelitten haben, das war ein Zuviel an Selbständigkeit, an eigenem Sinn, an Eigensinn. Jeder muß etwas von sich preisgeben …«

Die Landschaft schwand wieder zum Schlafrock um dürre Glieder.

»Euer Hochgeboren submissest beizupflichten«, tänzelte das Männlein mit skurrilem Gesichterschneiden. Plötzlich fuhr es mit der Hand nach dem rechten Ohr, als werde ihm dort von einem ärgerlichen Jucken zugesetzt. Es knetete, walkte, drückte und rieb, und da die gewaltsame Behandlung nicht zu genügen schien, zog er das Ohr aus dem Kopf heraus, wie man die Mandel aus der Torte zieht, äugte in die gewundene Muschel, blies zweimal heftig hindurch und steckte sie wieder an ihren Platz. »Beizupflichten!« wiederholte der Fremde, »aber – einer muß alles auf sich nehmen!«

Da verstand Bismarck mit einemmal, daß dieses abenteuerliche Betragen des Mannes nur der Wall um einen tiefen Ernst war, alles Grimassieren und Hopsen schamhaftes Verbergen zärtlichster und sorgenvollster Liebe. »Ja«, dachte er, »ich verstehe, einer muß das auf sich nehmen, was bei großen Dingen an Peinvollem, Erniedrigendem und Unzulänglichem mit unterläuft. Der göttliche Strahl trübt sich in der Wirklichkeit; wer Gold aus dem Schlamm wäscht, kann nicht ganz saubere Finger behalten, allem Irdischen haftet ein Stück Erbsünde an. Man muß den Mut haben, trotzdem zuzugreifen; es ist besser, etwas Unrichtiges als nichts zu tun und zu warten, bis die Gunst des Geschickes von selbst kommt. Brust an Brust mit den Ereignissen, wenn sie sich nicht fügen, müssen sie vergewaltigt werden. Das Maß von Schuld, das an aller Gewalt haftet, will ich tragen. Ich nehme es auf mich.«

Er hatte die Augen mit der Hand bedeckt. »Ich nehme es auf mich«, sagte er laut. Er nahm die Hand fort, blickte auf, um dem gelben Kapellmeister in die Augen zu sehen. Aber der war fort, und verwundert sah Bismarck niemand anderen als Keudell auf seinem Drehstuhl am Schreibtisch, Keudell in seinem in keiner Hinsicht merkwürdigen schwarzen Rock, aus dessen Kragen der Kopf leicht nach Bismarcks Seite hingedreht war.

»… und abschließenden Sinn gegeben«, wiederholte Keudell in dem Ton, in dem er die letzten Worte des Kanzlers nach kurzem Stocken im Diktat aufzufrischen pflegte; und da merkte Bismarck, daß die Erscheinung des Schlafrockmännleins und die ganze Unterredung in einem Sekundenflattern vor sich gegangen sein mußte, ganz so, wie von jenem Kalifen aus Tausendundeine Nacht während des Eintauchens ins Waschbecken ein volles Lastträgerleben durchlitten worden war.

»Das sind Losnächte«, dachte er, »Nächte, in denen alles frei wird, was am Schicksal eines Volkes webt.«

Und als er Keudells Erwartung noch immer angespannt sah, sagte er: »Es ist genug … sorgen Sie jetzt nur dafür, daß die Depesche morgen mit dem frühesten beim König in Ems ist.« Noch einmal sann er über den Entwurf mit rasch fliegenden Blicken. Die geballte Faust lag auf das Papier gestemmt, dann öffnete sie sich, knitterte das Blatt zum Knäuel: »Nein … wozu soll er hineingegangen sein … ich hab's gewagt.«


 << zurück weiter >>