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Und wenn die Eisenbahnwagen, in denen man fuhr, noch dreimal schlechter gewesen wären und die politischen Geschäfte, zu denen man ausgesandt war, noch dreimal verdrießlicher, es lohnte sich, in dieses schlampige und nachlässige Österreich zu fahren, es lohnte sich. Aus den Polstern des Abteils erster Klasse standen wohl hie und da Büschel Seegras hervor, die Fenster klapperten, und von dem Zugriemen des einen war gerade nur so viel übrig, um sich daran in fruchtlosen Versuchen des Öffnens die Nägel umzustülpen. Aber wenn der Schaffner kam und anstatt zu brüllen: »Die Fahrkarten vorzeigen!« die Hand an den Mützenschild legte und im gewinnenden Ton persönlicher Ergebenheit sagte: »Habö die Öhre!«, da wurde einem so ganz wohlgefällig ums Herz, als sei auf einmal nicht alles auf Reibung und Kampf gestellt, sondern könne auch in gegenseitigem Gewährenlassen nebeneinander bestehen.
Bismarck wehrte sich anfangs gegen dieses schlappe Gefühl. »Es kommt mir manchmal vor, als ob ausgerechnet Sie Österreich erfunden hätten, Lynar«, sagte er zu seinem Begleiter. »Hold, sinnig, minnig, träumerisch, weich, schwärmerisch; pfui Deibel, man kriegt Lust nach einem anständigen Nordhäuser Doppelkümmel.« Denn Bismarck war keineswegs mit der Friedenspalme und der Anweisung auf ein Lobet den Herrn nach Wien auf dem Wege, sondern sollte die Zollvereinssache nach den Wünschen Preußens richten, die denen Österreichs gerade zuwiderliefen; die Erkrankung des preußischen Gesandten von Arnim rief ihn zu einem schweren diplomatischen Gesellenstück. So besann sich Bismarck immer wieder auf das schwarze politische Geheimnis in seiner Brust, rief sich allen Ärger zurück, den er je im Taxisschen Palais und in seinen eigenen Kanzleien gehabt hatte, und suchte in allen Bitternissen der letzten Zeit den schwarzgelben Bodensatz. Aber es war schwer, so gerüstet zu bleiben, wenn man an den Haltestellen nur die Hände aus dem Wagenfenster zu halten brauchte, um die Linke mit einem kalten Huhn und die Rechte mit einem Stutzen Wein zurückzuziehen, wenn auf jedem Gesicht das Thunsche Lächeln lag und wenn die Erinnerungen, die längs der ganzen Bahn von Dresden nach Wien standen, alle Johannas Augen hatten. Da waren die mährischen Gebirge, die man damals auf der Hochzeitsreise verschlafen hatte, da war das weite Marchfeld unter der hochgewölbten blauen Junikuppel, und als man auf der großen Eisenbrücke über die Donau setzte, da fuhr man in einen Glanz und ein Flimmern hinein, als ob der Himmel für das Stück Welt zwischen Kahlenberg und Prater eine ganz besondere Affenliebe hätte.
Bismarck konnte Lynar kaum ansehen, wie der dasaß und große Augen hatte und vor lauter Verlegenheit und Bewunderung die Finger knacken ließ. »Sehen Sie, Lynar«, brummte er, »da haben Sie sich gewunden und nicht mitkommen wollen, und nun sitzen Sie da, und die Augen fallen Ihnen aus dem Kopf.« Das war aber so ziemlich das letztemal, daß Bismarck das grobschlächtige Schönhausener Register zog; er sträubte sich nicht länger, sperrte das schwarze politische Geheimnis einstweilen zum Verstand in die Bodenkammer und machte das Herz auf, daß das seidige und silberige Flimmern einziehen könne.
So ein Wiener Tag war wirklich Seide und Silber vom Morgen bis zum Abend, jede Stunde fühlte sich weich an und glänzte. Im Prater fuhr um die Mittagszeit ein heiteres und harmloses Volk in den elegantesten Wagen hin und wieder, zwei lange, schillernde Reihen, in denen jeder den anderen kannte und aus denen die Scherze wie bunte Federbälle aufflogen. Rauschten Frauenröcke noch irgendwo in der Welt so wie in Wien? Dufteten Frauenschultern noch irgendwo so wie in den weiten Spiegelsälen von Schönbrunn und Laxenburg? Und wo, um Gottes willen, hießen Frauen noch so wie hier: Cilli und Lori und Pepi und Jugerl und Wixerl und Guckerl, gleichviel ob Gräfinnen oder Hausmeisterstöchter, und waren auch genau so wie diese Namen: Anmut und lustiger Lebensdurst und Gehaben ohne Faxen – Gräfinnen wie Hausmeisterstöchter? Graf Buol-Schauenstein, der Bruder der Frau von Vrints, nannte seine Frau sogar Tschaperl. Aber als Bismarck fragte, welcher Taufname sich denn so seltsam verzärtlichen lasse, wurde er belehrt, daß gerade dies ein Gattungsname sei, der eine besondere Art weiblicher Anschmiegsamkeit bezeichne. Herr von Bismarck durfte alles das wahrnehmen und sich darüber freuen, denn er war kein eingeschnurrter Wüstenaszet und kein Säulenheiliger, der die Erde verlassen hat und dessen frommer Geruch zum Himmel stinkt. Die Liebe zu Johanna hatte ihm nicht die Augen aus dem Gesicht gestohlen, und so konnte er sich schon gestehen, daß selbst die schmetterlingsfarbigen und lustigen Frankfurter Frauenzimmer hinter diesen raschen und schlanken und zungenfertigen Wienerinnen zurückstehen mußten. Was dort bisweilen bei der juwelenklirrenden Bankiersfrau vermißt werden mußte, fand sich hier oft ungesucht bei irgendeinem Ladenmädel oder einer Nähmamsell, Schimmer des Einzigartigen, Selbstverständlichkeit des Geschmacks, ohne jenes ihm so widerwärtige Gehabe einer geistig herausgeputzten Lüsternheit.
So ein Wiener Tag begann morgens mit einem Frühstück von Forellen, Backhuhn und Gumpoldskirchner und endete abends mit einem Mondscheinspaziergang im Schönbrunner Park oder mit einer Vorstellung des Don Giovanni, bei welcher der Don Juan ein so sympathisch verführerischer Kerl war, daß sich Bismarck trotz aller Bundessymbolik darüber ärgerte, wenn ihn der steinerne Gast schließlich beim Kragen nahm. Und wenn nicht mitten zwischen Frühstück und Oper ein oder zwei Stunden Zollvereinsverhandlungen gelegen hätten, in denen Bismarck nach dem Uriasbrief in seiner Tasche fühlen und die Verstandsbodenkammer aufriegeln mußte, so hätte wahrhaftig die ganze preußische Tüchtigkeit im rosigen Leichtsinn entschwinden können. Manchmal kam sich Bismarck bei seinem Doppelspiel wie ein richtiger Mantelbandit und Verschwörer vor. Er war dazu da, um so zu tun, als ob. Das war bisweilen peinlich, wenn alles um ihn so freundlich und aufgeschlossen schien und jeder Mensch so frei von der Leber sprach, wie er es selber liebte. Und er mußte sich erinnern, daß die österreichischen Diplomaten doch keineswegs die harmlosen Lämmer waren, als die sie zwischen Kahlenberg und Prater in der flimmernden Wiener Luft dastanden, sondern daß auch ihre Offenheit manchmal nur ein mit Folie hinterlegtes Glas vor irgendwelchen schwarzen Bodenkammern war. Aber es war immerhin leichter, im Frankfurter Labyrinth Verstecken zu spielen, auf dem Boden, der niemandes und aller war, als hier, wo man sich als Gast befand, dem jede Tagesstunde mit allerlei Köstlichem behangen wurde.
Der junge Kaiser war in den siebenbürgischen Wäldern zur Jagd gewesen und hatte den Abgesandten seines königlichen Bruders von Preußen eingeladen, ihm nach Ofen entgegenzukommen. Da war Bismarck nun auf einem Schiff die Donau hinab ins alte Hunnenland geschwommen, mit einer ganzen Fracht von Nibelungengedanken, wie auch er wirklich von Rhein und Main zu den brennenden Steppen Ungarns gefahren kämme, und wie es wohl auch diesmal wieder um nichts Geringeres gehe, als um das Gold, dessen Schimmer er einmal, vor nun schon Jahresfrist, zwischen Rüdesheim und Bingen hatte glänzen sehen. Nur daß es diesmal nicht mit Mord und Totschlag endigen müßte und nicht mit stürzenden Brandruinen, sondern daß es in ein Pfeilgeschwirre diplomatischer Noten und in einen Leichenhaufen umständlicher Protokolle auslaufen würde, über die anstatt des Blutes nur Tinte ergossen wäre.
Und indessen wandelten sich Ufer und Menschen langsam aus dem Österreichischen ins Ungarische; es wurde alles noch lauter und bunter, mit Schatten, die manchmal weniger fehlendes Licht als ein klein wenig malerischer Schmutz waren. Der Dampfer überholte lange Holzstöße, die mit gelenkigen Gliedern um die Strombiegungen schwenkten und auf denen Kerle standen, die waren wie die Räuber im Märchenbuch. Unter den breiten Geld-oder-Leben-Hüten verwogene schwarzbraune Gesichter mit Schnurrbärten, die, pechschwarz zusammengedreht, sichelförmig um die Lippen hingen. Die Beine staken jedes für sich in einer Art Weiberrock, so breit und faltig ging es von den Hüften bis zu den Knöcheln, wo sich die weitschichtige Herrlichkeit in ein Gefaser von Lumpen auflöste. So standen sie auf den Flößen, umklammerten mit nackten Füßen die glatten, nassen Balken und tauchten die endlosen Ruder emsig in die gelben Wasser. Das mochte zu Attilas Zeiten nicht viel anders gewesen sein, Berge und Auwälder, zwischen denen die Stromarme gurgelten, und die hunnischen Flößer. Nur daß das Schiff der Nibelungen nicht die königlich preußische Flagge trug, wie der Dampfer, auf dem man sie zu Bismarcks Ehren aufgezogen hatte.
Am Landungsplatz wartete ein kaiserlicher Wagen, vier Schimmel und ein Glaskasten mit vergoldeten Stützen und ein Kutscher wie aus Holz und zwei Lakaien, die den Schlag aufrissen und hinten aufsprangen, daß es dem preußischen Junker wider Willen ganz prinzlich zumute wurde. So viel Glanz hatte sein königlicher Herr nicht aufzuwenden, der hatte einen nüchternen und bescheidenen Haushalt, während hier alles ganz phantastisch und verwirrend üppig zuging, daß man sich eines leisen Neides schwer erwehren konnte.
Nun wohnte man in der kaiserlichen Burg, hoch über der Donau. Unten hing eine schwarze Brücke an eisernen Ketten über den glitzernden Strom, und drüben hatte das junge Pest eine Reihe seiner glänzendsten Häuser gerade an das Donauufer gestellt, die so zuversichtlich aussahen, als wären sie einer zahlreichen Nachfolge gewiß. Nach der anderen Seite sah man auf die Ofener Berge, die zur Hälfte dem Wein und zur anderen dem Wald dienstbar waren und am Abend viele kleine Lichter von Landhäusern unter den Sternenhimmel stellten.
Man wohnte in Zimmern, die wuchtige Gewölbe über die Köpfe spannten. Die Wände waren so dick, als sollte jede von ihnen Geheimtreppen bergen können; uralte braunschwarze Nußbaumschränke nahmen Kleider und Wäsche in unergründliche Tiefen auf; und als Hildebrand alles untergebracht hatte, da war nur gerade hie und da ein Winkelchen und ein Fach ausgefüllt, als wären nicht zwei königlich preußische Beamte mit immerhin ansehnlichem Gepäck, sondern nur zwei wandernde Handwerksburschen mit ihren Bündelchen ins Losament gezogen. Und Bismarck dachte, wieder mit einigem Mißbehagen, was für einer Art von Besuchern wohl diese kaiserliche Burg Rast zu bieten gewohnt sei.
Aber jeder Gang durch die alten Hallen, jeder Blick aus den Fenstern wand ihm die Mißstimmung aus der Seele, und wenn Bismarck sich den mit hellblauer Seide ausgeschlagenen Lehnstuhl vor das schöne Donaubild gezogen hatte, dann vermochte er nichts anderes zu empfinden, als ein tiefes Staunen vor der unendlichen Fülle dieses Landes, vor diesem unermeßlichen, kaum sich selbst bekannten Reichtum. Vier Zimmer hatten sie, zwei für Lynar, zwei für Bismarck und eine Kammer für Hildebrand, deren Wände kaum stark genug waren, um sein Schnarchen zu dämpfen. Denn Hildebrand hatte sich das Schnarchen angewöhnt, und das kam daher, weil seine guten nüchternen Grundsätze, mit denen er noch dem Franken- und dem Rheinwein hatte Widerstand leisten können, betrüblicherweise vor dem Ofener Roten und dem Szamorodner gänzlich zusammengebrochen waren. Also daß er sogar durch Bacchi unerforschlichen Ratschluß und mit Gottes Zulassung ins poetische Elend getrieben wurde und Bismarck abends neben dem Schnarchenden folgende Verse an Karoline fand:
»Wenn sich alle Bande trennen,
Doch unsre Liebe trennt sich nicht.
Ganzen Tag ist nur mein Sehnen
Liebes Mausi nur an dich.«
Das Mausi hatte Hildebrand in der Wiener Schule gelernt. –
Der junge Kaiser war Jäger und Soldat, seinen Diplomaten an beidem fast zu viel, und so ließ er denn Bismarck nach der Rückkehr aus Siebenbürgen nicht lange warten. Gleich am nächsten Tage war Fürst Windischgrätz da, um ihn zu Seiner Majestät zu führen. Während sich Bismarck die Uniform anzog, stand der Fürst in seinem weißen Dragonerrock am Fenster, und rosig rann ihm das Morgenlicht um Schultern und Brust, die blanken Knöpfe waren wie eingedrehte Stücken Licht.
Ja, es war schön. »Ach«, meinte Bismarck, »Österreich weiß vielleicht selbst noch nicht ganz, was es an sich hat. Da sagt man immer: das alte Reich an der Donau! Und es ist vielleicht zum größten Teil noch überhaupt unerforscht.«
Der junge Offizier nickte. »Hätten S' net Lust, bei uns zu bleiben? Wenn der Graf Arnim net mehr könnt' oder wollt'? Wir möchten uns freuen, Sie bei uns zu haben. Und es heißt doch auch, in Wien is die hohe Schul' der Diplomaten.«
»Ja, es ist seltsam«, sagte Bismarck, indem er in den gestickten Frack fuhr, den ihm der Mausisänger hinhielt, »daß ein so junges Volk die Politik in der spanischen Gangart reitet.« Vier junge Augen blitzten in lächelndem Verstehen ineinander. »Aber ich fühle mich in Frankfurt sehr behaglich«, fuhr Bismarck fort, »es gefällt mir in meiner Schützenkönigsherrlichkeit. Ich möchte noch zehn Jahre in Frankfurt mitmachen, dann – vielleicht? – zehn Jahre preußischer Minister sein, und dann möchte ich in Schönhausen bleiben, unter meinen Linden sitzen, über meine Felder reiten, zuschauen, wie die Elbe am Deich frißt, und Obstbäume pfropfen, wie mein Onkel in Templin.«
Ein etwas armseliges Lebensprogramm, dachte der glänzende Adjutant, mit einem preußischen Ministerportefeuille als Gipfel und gar nicht ein bissel Wien darin! Aber er war so höflich, zu versichern, es habe sein Schönes und Gutes. Dann gingen sie, und an der Tür ließ der Offizier den Gesandten in strammer Haltung voraus. Über die Diele der Zimmer zackten große schwarze unregelmäßige Flecken hin, über die Bismarck und Lynar schon vergebens gerätselt hatten. »Sagen Sie, Fürst«, fragte Bismarck, indem er lächelnd stehenblieb, »was sind das für Klecksographien hier? Ist da eine alte Mordgeschichte passiert, deren Blutspuren nicht zu tilgen find? Oder hat da vor mir schon ein anderer Diplomat gewohnt, der hier seine Tintenfässer umgegossen hat?«
Der junge Offizier ließ seinen Dragonersäbel gegen die Diele klirren. »Es sind Brandspuren, Exzellenz!« Sein frisches Reitergesicht war plötzlich ernst. »Das Denkmal eines Tapferen. Hier haben unsere Soldaten auf brennenden Trümmern gegen die Aufrührer gekämpft. Der Generalmajor Henzy ist mit der ganzen Besatzung der Burg von den Ungarn niedergehauen worden. Vor drei Jahren erst … Vor ein paar Wochen hat man die Burg für den Kaiser wieder instand gesetzt.«
Bismarck empfand die Antwort wie einen leisen Stoß vor die Brust. Es war ihm entglitten, daß dieser junge, fröhliche Offizier der wüsten Zeit ein schwerstes Opfer hatte bringen müssen, das Leben seiner Mutter, die in Prag ermordet worden war. Er reichte ihm die Hand, und die niedrigen Gewölbe der Ofener Burg wichen ihm für einen Augenblick zum Kuppelrund der Paulskirche auseinander, unter dem die Bänke standen, von denen man Erinnerungsspäne an den großen deutschen Totentanz abschnitt. Nein, es sollte nie mehr dazu kommen, daß die Saat Beelzebubs in Deutschland aufging.
Dann stand er vor dem jungen Kaiser. Ein schlanker Offizier in der Uniform von Bismarcks König, der ihm ernst und prüfend ins Gesicht sah. Freundliche Würde verdoppelte die zweiundzwanzig Jahre des Herrschers. Hinter dieser leicht gewölbten Stirn gingen klare und verständige Gedanken geordnet ihres Weges. Nichts Spanisches war an ihm; der Offizier und der Jäger hatten ihn frühes Aufstehen gelehrt, das war kein blinder Monarch, sondern ein Arbeitsucher und ein Sehender, von dem sich Bismarck sogleich in ein menschenkundiges Urteil gefaßt sah. Und er begegnete ihm in seinem Innern und fand, daß darin alles sorgsam aufbewahrt stand und daß nicht leichthin über die schwarzen Brandflecken seiner Burg hingewischt war. Mit diesem Mann selbst zu verhandeln, anstatt mit seinen allzu geschickten Diplomaten, wäre der Weg zu Eintracht und Verständigung. Der Uriasauftrag Fra Diavolos brannte Bismarck auf dem Herzen, leise klopfte Scham in seinen Pulsen.
Dann empfand er den Druck einer kühlen, festen, sehnigen Jünglingshand und war mit Herzlichkeit zu Gnaden angenommen. Unmittelbar von der Audienz ging es zum Frühstück, und gleich in das erste Klappern der Teller und Gabeln begann der General Fürst Liechtenstein den neuesten Mikoschwitz zu erzählen. Es war viel Jugend um den jungen Kaiser, keiner reichte nur entfernt an Bismarcks Tischnachbarn, den weißhaarigen Erzbischof von Gran, im Alter heran. Und wie nun alle zugleich zu lachen und zu plaudern anfingen, war es, als sei nicht eine feierliche Tafel an einem der ältesten Höfe Europas eingeleitet worden, sondern als habe sich eine lustige Jagdgesellschaft zu Tisch gesetzt. –
Vier Buchstaben beendeten Bismarcks Schwanken und zugleich seine Sendung. Das kleine Wörtchen »nein«, das der Draht aus Berlin herübergebracht hatte. Die Verhandlungen über Österreichs Beitritt zum Zollverein wurden mit vielem gegenseitigen Bedauern eingestellt, und Bismarck konnte die Heimreise antreten. Er hatte sich noch in die schwermütige Betyarenromantik der ungarischen Pußten gestürzt und hatte die steirischen Berge aufgesucht, er hatte sich trotz seiner Sehnsucht nach Johanna noch mit Österreich angefüllt, mit diesen Zigeunern und Räubern, diesen Schneebergen und Eisenbahntunnels, in deren einem der Tod auf ihn gelauert hatte, mit diesen Weinen und dem Lachen dieser Frauen. So wie einer, der weiß, daß etwas nie mehr wieder so in sein Leben kommt, noch alles an sich ziehen möchte, was in ein paar Tage hineingeht. Mit einer leisen Wehmut verließ er das Reich, und erst als er von Bockenheim aus die Lichter seines Hauses erblickte, schüttelte die freudige Erwartung alles sonderbar Drückende aus seiner Seele.
Johanna empfing ihn auf dem Bahnhof, in den großen schwarzen Mantel gehüllt, der ihren wiederum gesegneten Leib verbarg. Ihr Gesicht war eingefallen und von den gelben Flecken überzogen, die sie bei jeder Schwangerschaft zeichneten.
Zärtlich und sorgsam führte er sie zum Wagen, erkundigte sich nach ihren Augen und ihren Zahnschmerzen und drückte ihr leise die Finger, als sie gestand, daß es diesmal recht arg gewesen sei.
Sie lag ihm weich im Arm, seine Hand fühlte die Wölbung ihrer Hüften; er erzählte von Wien, von dem Bruder der Frau von Vrints, vom jungen Kaiser. Manchmal stieß der Wagen so stark, daß Bismarck die Zähne zusammenbiß und Johanna besorgt ins Gesicht sah.
»Nun«, sagte sie, »und was bringst du Manteuffel mit?«
»Ach, nicht Politik«, warf er ein, »laß das doch! Jetzt, da wir uns wieder haben, gibt's Wichtigeres.«
»Nein, nein«, beharrte sie, »ich weiß doch, was dir wichtig ist. Wie ist es ausgegangen?«
Er wollte nicht widersprechen, sah, wie sich ihre Seele an die seine drängte. »Ausgegangen? Gut ist's ausgegangen. So, wie wir es wollten.«
»Also Österreich tritt dem Zollverein bei?«
Er sah gerührt auf das eingefallene Gesichtchen. Wie sie sich nun um Dinge kümmerte, von denen sie noch vor kurzem so weltenfern gewesen war. »Schritt!« rief er dem Kutscher zu. »Nein!« wandte er sich zu ihr zurück. »Das ist's ja eben, daß Österreich nicht beitritt.«
»Man hat dich doch nach Wien geschickt, um mit Österreich darüber zu verhandeln.«
»Diplomaten! Diplomaten!« lachte er, und es war ein wenig Blech in diesem Ton. »Hast du noch immer nicht begriffen, was das heißen will? Das heißt, Schwarz sagen und Weiß meinen. Heißt links versprechen und rechts tun. Man hat mich nach Wien geschickt, um darüber zu verhandeln, sehr richtig. Österreich wollte in den Zollverein hinein, doch uns liegt gar nichts daran, es mit darin zu haben. Aber das kann man doch nicht ohne weiteres abschlagen. Man muß also sagen, wir freuen uns ungeheuer, und muß dazu so verhandeln, daß durchaus nichts daraus werden kann. Das habe ich getan, habe mich sehr gefreut und war ungeheuer betrübt – als man die Steine, die ich hinschob, nicht aus dem Weg räumen konnte. Der Graf – will sagen: der König wird seinen Diener loben.«
Er fühlte einen leisen Widerstand gegen den Arm, mit dem er Johanna an sich ziehen wollte. »Bismarck …« sagte sie, ein Schlucken bedrängte ihre Kehle, »Otto … ist das recht, was du da tust?«
»Recht! Recht? Es ist der Vorteil Preußens.«
Lichtschein einer Straßenlaterne fiel in den langsam rumpelnden Wagen. Er sah ein trauriges, blasses Gesicht. »Und hast du dich nicht über die Doppelzüngigkeit und Hinterhältigkeit deiner Gegner beklagt? Treibst du es nun anders und besser?«
Alles, alles nahm sie aus seinem Gewissen heraus und stellte es anklagend vor ihn.
»Man muß den Feind mit seinen eigenen Waffen bekämpfen.«
»Nein«, sagte sie so heftig, daß sie zitterte, »man muß ihn mit der Wahrheit bekämpfen. Die Wahrheit ist die Waffe, vor der die Lüge vergeht. Wer die Wahrheit aufgibt, verliert sich selbst.«
Was war zu tun, um die Aufgeregte zu beruhigen? Quälendes Mitleid mit ihr und Bitterkeit quollen würgend auf. Er nahm wieder seine Zuflucht zu seinem Studentenlachen. »Ja, es ist wahr, Liebste, Politik verdirbt den Charakter. Aber was soll man tun, der Zweck heiligt halt, wie der Wiener sagt, die Mittel.«
»Die Wahrheit muß zuletzt doch triumphieren! Gott ist die Wahrheit! Otto … Otto, glaubst du noch an Gott?« Ihr Körper begann ganz zu beben, ein leiser Ton verriet, daß die Tränen sich nicht mehr halten ließen.
»Ach du! Du!« Er preßte sie erschüttert an sich und suchte im Dunkeln ihren Mund. Stumm duldend litt sie seinen Kuß.
Der Wagen tat einen letzten Ruck und blieb vor dem Gartengitter stehen.