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Bis ein Uhr nachts hatte man mit den Franzosen gehandelt, und es war ihnen nicht beizubringen gewesen, daß man ihnen nichts aufgeschlagen habe und also auch nichts nachlassen könne. Dann hatte das Bett bis drei Uhr morgens gesungen wie ein Katzenklavier, bei jedem Umwenden einen ganzen quiekenden und pfeifenden Meyerbeer, schauerliche Melodien, die in die Gedankenbrandung hineinächzten. Es war, als wehre sich dieses französische Bett gegen den schweren Deutschen, der diesen schlimmen Tag herangeführt hatte. Schließlich löschte Bismarck, ungeachtet der Gefahr, sich den braunschwarzen, wimmelnden Nachtfranktireurs auszuliefern, die Kerze im Flaschenhals, sah noch einen Augenblick im Fenster die von einem schwarzen Kreuz in vier Felder geteilte Brandröte und zwang sich dann ernsthaft in den Schlaf.
Aber man hatte wohl kaum ein paar tiefere Atemzüge getan, da sang das Bett wieder seine infernalische Arie, und die erquickende Dunkelheit zerbröckelte in trübes Licht. Der Reitknecht Josef stand da, mit einer Stallaterne, und ein französischer General in einem weiten, dunkeln Mantel, wie eine große Fledermaus. War das wirklich der immer lächelnde General Reille, Muster der französischen Liebenswürdigkeit, Generaladjutant des Kaisers der Franzosen und Tischnachbar in den Tuilerien, der hier in diesem düsteren Nachtstück auftrat und eine Bitte seines Herrn stockend und unsicher überbrachte?
Dann war er fort, seine Botschaft hatte Schlaf und Müdigkeit weggefegt, Josef beleuchtete dem Kanzler die Wege ins Kleiderwirrsal.
»Hast du gehört?« sagte der linke Reitstiefel zum rechten mit leisem Knarren, »Napolium hat um unsern Herrn geschickt.«
»Ja«, antwortete der rechte, indem er seinen hohen Schaft gegen den Nachbar lehnte, »geschieht ihm recht, dem Kujon. Was hat er auch im Busch herumzukrauchen.«
Es waren zwei schwere pommersche Reiterstiefel, ohne Herz und ohne jeden Sinn fürs Tragische. Daun fuhren die Bismarckschen Beine in sie hinein, durch den langen Schaft bis auf den Grund, sie schmiegten sich an, verstummten und klirrten nur noch leise mit den Sporen.
Josef hatte den Onkel Tom gesattelt, der ein unbequemes Biest war und dazu neigte, jeden weißen Meilenstein für ein Feuerwerk und jeden Wegweiser für ein Gespenst mit ausgebreiteten Armen zu halten. Aber das war gut so, man mußte den Sinn aufs Reiten richten, die letzten Schlafdünste verflatterten, und das unbehagliche Gefühl, ein ungewaschenes Gesicht und einen leeren Magen in den Tag zu tragen, verging in der Spannung auf Bändigung des wilden Kerls.
Bayern zogen vorbei, mit ihren Raupenhelmen, sie fangen:
Die Rosen blühen im Tale,
Soldaten ziehen ins Feld – ins Feld.
Gegen Sedan marschierten sie, das drüben in seiner verhängnisvollen Mulde septemberlich dunstete. Da und dort war es noch von Rauch überwölbt, der im Nebel feststand wie schwarze Kirchenkuppeln. O weh, bliesen diese Bayern ihren Soldatenkantus falsch, und Onkel Tom stieg, als sei er von Gott mit musikalischen Nerven begnadet; alle siebenundneunzig Unarten fielen ihm ein, und Bismarck hatte zu tun, ihn durch Schenkelzwang und Zügel wieder mit den vier Hufen auf die Straße zu bringen. Aber auch Bismarck selbst gab beim Singen weniger auf eine gute Meinung als auf ein bißchen Glanz und Klang, und so stocherte er in einem scharfen Trab dahin, bis die Bayern ein gutes Stück zurückgeblieben waren, so daß ihr Lied nur mehr wie ein leiser Schwall im dünnen Nebel lag. Die Landstraße war als ein echt französisches Stück Welt auf beiden Seiten mit Pappelschnüren bespannt. Von den langen Baumspindeln tanzten Herzblätter und wirbelten vor Onkel Toms klappernde Hufe. Bismarck ritt jung und fröhlich dahin, wie seit langem nicht, das erste Frösteln im feuchten Morgen war behaglicher Leibeswärme gewichen, jeder Muskel war in Arbeit und sendete Ströme von Wohlgefühl durch den ganzen Menschen, die Reitstiefel knarrten am Sattel; weiß Gott, es kam einem vor, man hatte die Welt geraubt, und nun lag sie quer vor einem über dem Rücken des Pferdes. Die häusliche zivilisierte Fleischesserei verdarb das Blut, man wurde dick und träg, wenn man die Verwesung so in sich hineinschlang; man fraß Leichen, und sie lagerten ihr Gift in Adern und Knochen ab. Jetzt, drei Tage schon ohne Fleisch und ohne eine andere Magenwärme, als die vom Reiten kam, was für ein anderer Kerl war man da bei hartem Brot und Knoblauch! Man roch zwar davon wie ein Wunderrabbi, aber – o Knoblauch, edelstes Knollengewächs … so eine Knoblauchkur war besser als alle Karlsbader Sprudel, Gasteiner Brunnen und Emser Krähnchen.
Pfui Deibel, dachte Bismarck, wir sind wahrhaftig nicht dazu da, um zarte Gefühlchen aus einem Töpfchen ins andere zu pflanzen und immer ins Blümelblaue hineinzuduseln. Die ganze Welt ist auf Krieg gestellt, und die Menschheit ist ein zu ihrem Unglück seßhaft gewordener Nomadenstamm, der im Krieg wieder in seinen naturgemäßen Zustand zurückfällt. Wir sind wahrhaftig nicht die Hüter unserer Brüder, und wenn sich einer durchaus den Kopf an den Wänden einrennen will, so ist es nicht unsere Aufgabe, sie ihm mit Kisten zu polstern.
Plötzlich wurde Bismarck eines Wagens ansichtig, der vorn auf der Straße im spitz zulaufenden Winkel der Pappelschnüre stand, Er mäßigte den scharfen Trab und ritt zuletzt im Schritt heran. Drei französische Offiziere hielten zu Pferd neben dem Wagen, drei andere saßen im Innern, und der vierte, der auf dem rechten Hintersitz, der schlaff zusammengesunkene Mann mit dem fahlen, gelbgedunsenen Gesicht, das war der geschlagene und gefangene Kaiser. Noch immer war ihm der schwarzglänzende Spitzbart straff aus dem Kinn herausgedreht, noch immer drangen die Augen unter dem Mützenschirm scharf in den Menschen ein; aber er war nicht mehr Samiel, der schwarze Jäger, der die Freikugeln für alle politischen Wildschützen Europas segnete, sondern ein kranker und von der Raubtierpranke des Schicksals zermalmter Mann. Und das war Bismarck kaum klar geworden, als er absprang und die Haltung annahm, die ihm zugekommen war, als er Preußen vor dem mächtigsten Monarchen dieses Weltteils vertreten hatte.
»Ich bitte Euere Majestät, über mich zu befehlen«, sagte er.
Der Kaiser beugte sich grüßend aus dem Wagen: »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Herr Graf. Ich möchte den König sehen.«
Das Hauptquartier befand sich in Vendresse, und das war drei Meilen weit; aber man würde den König verständigen können, daß er ein Stück entgegenkomme, und inzwischen könnte Seine Majestät ja, um nicht hier auf der Straße halten zu müssen, mit Bismarcks Quartier in Donchéry vorlieb nehmen. Damit war Napoleon einverstanden; man fuhr den deutschen Stellungen entgegen, und stumm trabten die Reiter neben dem Wagen her.
Eine glanzlose Sonne qualmte in den Nebeln, Marschgedröhn und Gesang kam entgegen, eins ins andere taktfest hineingeschlagen; das waren die Bayern, die Bismarck vorhin überritten hatte. Sie sangen jetzt was anderes:
»Musketier sein lust'ge Brüder,
Haben's frohen Muuuut,
Singen's lauter lustige Lieder,
Sind's den Mädeln gu–u–u–ut.«
Die Marschkolonne drückte sich an den linken Straßenrand, der Wagen und die Reiter klapperten und klirrten den anderen Straßenrand dahin. Der Gesang zerbröckelte, alle Raupenhelme drehten sich, nach rechts, nach dem Wagen voll Franzosen und der seltsamen Begleitreiterei; der Kaiser hatte das Gesicht in den Mantelkragen gezogen, aber plötzlich schrie einer: »Napoleon!« Ein blutjunges Lehrerlein von Zeitungsbildung hatte ihn erkannt; da stampften die Stiefel noch einmal so schwer, als sollte ganz Frankreich in den Grund getreten werden. Hallo sprühte über die Glieder hin, und plötzlich bekam der marschierende blaue, borstige Riesenwurm, dieser Heerwurm von Tausenden von Raupenhelmen, eine einzige Kehle, aus der ein Hurra gegen den Himmel brüllte.
Bismarck ritt näher an den Schlag, wie um zu zeigen, daß der Kaiser unter seinem Schutze stehe. »Das sind Bayern!« sagte der Kaiser, als sie wieder mit der Straße, den Pappeln und der blassen Herbstsonne allein waren. »Ein wildes Volk«, fügte er hinzu, »wie sie Bazailles erstürmt haben … schrecklich!«
Das Städtchen Donchéry lag da, ein kleines, von der Maas umwundenes Häusergedränge. Napoleon legte eine gelbe Hand auf den Wagenschlag: »Ich bitte Sie, Graf Bismarck, ersparen Sie es mir, in den Ort einzufahren. Ich möchte möglichst wenig Franzosen sehen, ich will nicht angegafft werden, wie, ich weiß nicht welcher besiegte Fürst, der von seinem Feind in einem Käfig mitgeführt wurde. Ihre Siegergefühle sind natürlich und selbstverständlich, aber es ist bitter, in die Gesichter meiner Landsleute zu sehen.«
Ein kleines Wegwächterhäuschen stand an der Straße, eine geflickte und übertünchte Armseligkeit von vier Wänden unter einem schadhaften Dach. Der Kaiser stieg plump und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht aus dem Wagen und wand sich stöhnend Schritt für Schritt eine enge, von Schmutz schlüpfrige Treppe hinauf. Die winzige Kammer, in die ihm Bismarck folgte, lag unter Dach und schaute mit einem staubblinden Fenster nach der Straße, zwei Stühle mit glatt geriebenen Strohsitzen waren einem Tisch gesellt, auf dessen Bierrändern zwei matte Herbstfliegen klebten. Ein paar Heiligenbilder waren rahmenlos an die Wände geheftet, und über einem Schmutzrand, der anzeigte, daß hier vielleicht einmal eine Kommode gestanden haben mochte, hatte sich einst ein vergilbter Holzschnitt mit dem Bild Napoleons breit gemacht, der aber war just durch zwei kreuzweise Balken mit einem dicken Zimmermannsbleistift gedemütigt und gleichsam aus der Welt gestrichen. Bismarck versuchte dem Kaiser diesen Anblick zu entziehen, indem er sich mit dem breiten Rücken gegen das Bild stellte, aber Napoleons Augen waren ihm schon zuvorgekommen.
»Ach so!« sagte er mutlos, indem er sich schwer ächzend auf einen der Stühle niederließ. Jetzt, da Bismarck den Kaiser unmittelbar vor sich hatte, sah er erst, wie Krankheit und Kummer mit diesem Körper und dieser Seele umgesprungen waren. Unglück und Tod hatten ihm ihre Zeichen aufgeprägt, und gerade dies schien ihm Bismarck ehrwürdiger zu machen als alle Herrlichkeit der Tuilerien und das dämonische Gefunkel seiner Macht.
Man hörte durch den dünnen Bretterboden die Stimmen der französischen Offiziere, die sich unten mit Bismarcks Vetter Karl unterhielten, der sich zuletzt zu der Gesellschaft gefunden hatte.
Ich muß etwas sagen, dachte Bismarck, es ist unerträglich. Und er begann möglichst unbefangen von den Quartieren zu reden, die man sich im Kriege gefallen lassen mußte, von den Flaschenhalsleuchtern, den melodienreichen Betten, den Nachtfranktireurs und der Annehmlichkeit, daß man oft nicht einmal einen geeigneten Ort hatte, wo man seine Heimlichkeiten abtun konnte.
Und er wagte es um ein Lächeln dieses gedemütigten Menschen, zu erzählen, daß er sich vorlängst nur mit Mühe eines Musketiers habe erwehren können, der sich durchaus während dieses Geschäftes habe als Schild- und Ehrenwache neben ihn pflanzen wollen.
Aber Napoleon schüttelte den Kopf. »Ich bin gekommen, mein Lieber … im Vertrauen auf unsere alte Freundschaft, … um Sie zu bitten, daß Sie beim König auf bessere Bedingungen für mich hinwirken sollen.«
»Ich fürchte, Majestät«, sagte Bismarck, da er sah, daß dieses Rühren an den jungen Schmerz unvermeidlich sei, »daß der König auf der bedingungslosen Ergebung der ganzen Armee … und … und Ihrer Person wird bestehen müssen. Es sind Generalsbedingungen, verstehen Sie wohl … militärische Notwendigkeiten.«
»Ja … ich weiß es«, sagte der Kaiser leise, »was kann ich tun? Ich bin in Ihrer Hand. Wir sind besiegt. Ihre Soldaten marschieren besser als die unseren. Ihre Generale haben sich den unseren überlegen gezeigt. Mac-Mahons Zug nach Norden hat ihm nichts geholfen, Sie hatten immer Nachricht von uns, wir keine von Ihnen. Ihre Ulanen haben ihre Sache vortrefflich gemacht, wie ein Mückenschwarm, immer da, Wolken von Pferden. Ihre Bewegungen gingen wie hinter Schleiern vor sich, die unseren lagen vor Ihnen offen. Aber dennoch weiß ich, daß Prinz Friedrich Karl die Armee vor Sedan kommandiert.«
Da sagte Bismarck leise und beinahe mit Bedauern: »Sie irren, Majestät, man hat Sie nicht gut berichtet. Hier steht die Armee des Kronprinzen. Prinz Friedrich Karl hat den Marschall Bazaine in Metz eingeschlossen.«
Es war deutlich zu sehen, daß diese Nachricht ein Gifttrunk war, sie riß dem Schmerz wieder alle Tore auf, betäubt sank das gelbe Gesicht nach vorne: »Ja, dann … ah … dann ist alles verloren.«
Wo in aller Welt war ein Trost für diesen Erniedrigten? »Glauben Sie mir, Majestät«, sagte Bismarck, »es ist besser so. Es mag für Sie hart sein, aber da der Krieg für Frankreich nun einmal unter keinem günstigen Stern steht, so ist es besser, daß es rasch zum Frieden gezwungen wird.«
»Oh«, sagte der Kaiser rasch, »glauben Sie nur nicht, daß Sie Frankreich durch diesen Sieg schon zum Frieden gezwungen haben. Die Armee von Sedan ist nicht mehr, aber Frankreich wird weiterkämpfen, ohne diese Armee … ohne mich …«
Darauf war nichts zu erwidern, denn es stand Bismarck nicht an, dem Kaiser das Letzte zu nehmen, das in diesen Schicksalsstunden seiner Seele Gerüst war, den Glauben an den Opfermut und das Heldentum seiner Nation. In das Schweigen sprachen die Stimmen im unteren Stockwerk, eine schwere Batterie zog dröhnend vorbei, die Fensterscheiben klirrten in morschen Rahmen.
»Und welchen Preis müßte Frankreich für den Frieden zahlen?« fragte der Kaiser mit einem trockenen Flüstern.
»Wir können keinen Frieden schließen, ohne die Gewähr zu haben, daß wir gegen einen künftigen Angriffskrieg sicher sind … Frankreich hat sich immer als ein unruhiger Nachbar erwiesen … es ist eine militärische Notwendigkeit, den Rhein zu schützen. Wir müssen das Elsaß haben und Lothringen … wegen Metz …«
»Oh!« sagte der Kaiser, indem er mit dem Arm über den Tisch hinwischte, als fege er etwas Widriges zu Boden. Dann fiel die Faust mit unvorhergesehener Wucht nieder. »Nie!« sagte er, »niemals.«
Mein Gott, wie er aussieht, dachte Bismarck, er wird mir doch nicht sterben. Sie schreien dann sicher, daß ich ihn ermordet habe.
Plötzlich begann sich der Kaiser zu winden und zu krümmen, er hielt die Arme in die Seiten gestemmt, die Brust füllte sich mit Geröchel, und dann brach er zu Bismarcks Entsetzen einen Klumpen grünen Schleims in das Taschentuch. Nun war es auch gleich besser, und Napoleon wehrte Bismarcks Anerbieten ab, ihm einen Arzt oder doch Wasser zu besorgen.
Schwach und schlaff saß er da, die Hand baumelte gelb neben einem der schmierigen Stuhlbeine. »Ich werde ja doch mit dem Frieden nichts zu schaffen haben … man wird mich nicht fragen!«
Wieder zog draußen auf der Landstraße der Krieg vorüber, Bismarck trat ans Fenster, leinenüberdachte Planwagen schoben sich hintereinander her, ein Trainsoldat hielt ein längliches Stück Speck in der Hand, fletschte ein Messer aus dem Stiefelschaft und begann Scheiben zu schneiden. Das war ungemein friedlich anzusehen, und wenn man nicht gewußt hätte, daß unter der Plache Kriegsbedarf irgendwelchen neuen Schlachten entgegengeführt werde, Brot und Erbswurst für Soldatenmägen oder Stiefel für Soldatenfüße oder sonst eine Notwendigkeit des Sieges, so hätte man auch ganz gut meinen können, eine Reihe Erntewagen fahren vorbei.
Gott segne euch Hunger und Seelenruhe, dachte Bismarck. Lange war es im Zimmer hinten still, dann begann undeutliches Gemurmel zu spinnen. »Wenn nur schon der Bote kommen wollte«, wünschte Bismarck, »dieses Beisammensein macht mich krank.« Schleimig tropften die Worte von den Lippen des Kaisers: »Über ein unruhiges Volk … über ein so unruhiges Volk zu herrschen … das ist ein Verhängnis. Oh, ich liebe es, aber ich sehe seine Fehler … es soll immer etwas Neues da sein, dem man nachlaufen kann … es ist ein Verhängnis.«
Hier war es schwer, etwas einzuwerfen; denn man tat gut, sich an die Erfahrung zu halten, daß man über Fehler, die ein Liebender am Geliebten feststellte, besser nicht mitzureden habe.
»Sie wissen wohl, Herr Graf«, sagte der Kaiser, »daß es nicht ganz nach meinem Willen gegangen ist. Ich wollte es nicht auf die Spitze treiben … ganz zuletzt noch den kriegerischen Ton vermeiden! Aber sie haben mich herumgezwungen, … ich bin ein kranker Mann … Gramont hat seinen Kopf durchgesetzt … Und dann noch … immer ging es gegen meinen Rat … ich habe deutliche Ahnungen, vielleicht sieht man alles, was kommt, nur dann so genau voraus, wenn man bald sterben muß. Daß Mac-Mahon nach Norden abgeschwenkt ist, war gegen meinen Rat … verstehen Sie … dieser unglückliche Einfall hat uns soweit gebracht. Sie dürfen mir glauben, ich habe mich in der Schlacht nicht geschont … ich war einigemal im schweren Feuer, aber es hat dem Tod nicht gefallen, mein Anerbieten anzunehmen.«
Bismarck sah den Kaiser an; dem war der Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne gefallen, die Augen starrten die Decke an, wo zwischen dem zerbröckelten Bewurf das Riesengeflecht in Strähnen hervorquoll. Nichts stand zwischen Mensch und Mensch als die Besorgnis, der Kaiser könne eine Vertraulichkeit als ein Anzeichen dafür ansehen, daß man ihn in Gedanken bereits entthront habe.
»Ja, ja …«, fuhr der Kaiser in klagendem Ton mit zitternder Unterlippe fort, »erinnern Sie sich an Fontainebleau … warum haben Sie damals meine Hand nicht genommen?«
»Majestät, die deutsche Einigkeit mußte aus eigener Kraft zustande kommen«, sagte Bismarck fest, »jede französische Einmischung war eine Brücke zwischen Süd und Nord. Nichts hat uns Bayern rascher gewonnen, als daß Frankreich nach Königgrätz deutsches Land verlangt hat.«
»Die deutsche Einigkeit …«, nickte der Kaiser, »… sind Sie so weit? Ja …, Kassandrastimmen …; man hat sie nicht hören wollen …; aber mir war die Seele von ihnen voll. Wissen Sie auch …?« Der Kaiser sah Bismarck scheu an; seine Worte waren wie ein Gestrüpp voll geheimnisvoller Nachtvögel, »wissen Sie jetzt auch … damals in Fontainebleau … damals … warum – Er damals im Abdankungszimmer geschrieben hat?«
… Bismarck hörte einen Reiter traben und vor dem Haus halten; und nach einer Weile trat der Vetter Karl ein und meldete, daß der König in dem unweit gelegenen Schlößchen Fresnois mit Seiner Majestät zusammenzutreffen wünsche.
Der Kaiser erhob sich, straff genug, trotz des Schmerzes, den man ihm ansah. Er reichte Bismarck die Hand huldvoll wie in den Tagen der Weltherrschaft und sagte: »Gehen wir!«