Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

27

Man hätte nicht sagen können, daß die Franzosen windige Kerle und Ausreißer seien. Sie hielten sich und schlugen sich, als ginge es nicht um die liebe Eitelkeit und die Behauptung des Anspruchs, alle Weltbegebenheiten nach ihrem Willen einzurichten, sondern um eine ganz hohe und heilige Sache von großem Gewicht und zehntausendjähriger Gültigkeit. Wenn auch dem Gewicht nach etwa zwei Gaskogner auf einen ostpreußischen Musketier oder bayrischen Jäger kamen, so hatten sie doch unter den schwächeren Rippen ein mutiges Herz, und was ihnen an Wucht fehlen mochte, das ersetzten sie durch Geschwindigkeit. Genau so wie in ihrer Sprache, konnten auch ihre Infanteristen drei Sätze machen, ehe die Deutschen mit einem zustande kamen, und da sie bessere Gewehre hatten und ihnen die teuflischen Kugelspritzen beistanden, ging es bei Spichern und Wörth recht blutig her, bevor sie ausließen.

Solange sie sich die deutschen Wüteriche auf Schußentfernung halten konnten, war es gut für die grande nation; das Elend begann aber, wenn Preußen oder Sachsen oder Bayern so nahe herangekommen waren, daß die Kolben mitreden konnten. Dann entschied es sich freilich nach den derberen Knochen und der mächtigeren Faust, und es steckten nicht so viele Bauern aus der Auvergne oder Fischer aus der Bretagne in den roten Hosen, daß sie es hätten mit der deutschen Tobsucht aufnehmen können. Und was die Turkos anlangte, so konnte sich bisweilen der eine oder andere an den Deutschen anschleichen und ihm von unten oder hinten einen Stich oder Schuß beibringen, aber das verschlug nicht so viel, daß aus dem endlichen Rückwärts jemals ein Vorwärts geworden wäre.

Für jetzt stand die Sache vorläufig so, daß Moltke dem neuen französischen Marschall Bazaine die deutschen Armeen in den Rücken gedreht hatte und ihn in Metz an die Kette zu legen im Begriff war. Bazaine zappelte zwar noch mächtig gegen das liebe Paris zurück, aber schon waren die Klammern von links und rechts so enge herangezogen, daß sich das rechte Loch nicht mehr finden ließ.

Es ging ein Gerede von einer blutigen Reiterschlacht bei Mars-la-Tour, und da war ein Vater im deutschen Hauptquartier, der zwei Söhne bei den ersten Gardedragonern hatte, und die waren wohl auch mit dabei gewesen. Gegen Abend war das Schießen noch nicht zu Ende, man hörte das Getöse des Kampfes deutlich bis nach Ponta-Mousson hinüber, und in dem zerhämmerten, von Nervenschmerzen gequälten Kopf Bismarcks war es gerade, als fände die Schlacht unmittelbar unter seiner Schädeldecke statt. Er war mit seinen diplomatischen Leuten in einem abscheulichen, engen Vorstadthaus untergebracht, denn alle besseren Wohnungsmöglichkeiten waren den hohen Herren vorbehalten, die als Zuschauer der großen Ereignisse mitzogen. Sitzen und Stehen und Liegen war in diesen Zimmern gleich peinvoll, und Bismarcks Unruhe hätte ihn längst fortgetrieben, wenn er nicht hätte warten müssen, bis sein eines, einziges Hemd, das Engel am Nachmittag gewaschen hatte, trocken geworden sei. Nun war es soweit, Engel triumphierte mit einem zerknitterten Bündel daher, das aussah, als sei es eben einer Kuh aus dem Maul genommen worden.

Er war schuld an dem Wäscheelend, denn er hatte alles Gepäck in einen unmöglichen Zug getan, der nun natürlich durchaus nicht ankommen wollte. Und nun tat er sich noch etwas darauf zugute, daß es ihm einfiel, das fragwürdige Leinengelump um einen Teigwalker zu schlagen und es so lange auf dem Fensterbrett hin und her zu rollen, bis man unterscheiden konnte, daß es eine Halsöffnung und zwei Ärmel habe.

Bismarck war immerhin gottesfroh, zog den Interimsrock ab, den er ein paar Stunden auf dem bloßen Leib getragen hatte, schlüpfte in das wiederhergestellte Hemdgemächte und ging, als er sodann in die Uniform seiner gelben Kürassiere geknöpft war, in die Schule, wo er den König und Moltke wußte. Sie standen beide über den Karten, und Moltke focht seltsam mit beiden Händen über das Metzer Gelände hin, als habe er sich aufs Beschwören verlegt und wolle die Franzosen auf magischem Wege verjagen. Es surrte und schwirrte schwarz unter seinen wedelnden Händen, aber das waren keine Franzosen, sondern Fliegen. Und wenn er nur ein wenig abließ, so setzte sich der ganze Schwarm sogleich wieder auf Festungswerke, Flußläufe und Höhenrücken und zeichnete schwarze Punkte ein, als wäre er eine Horde von Generalstäblern.

»Gute Nachrichten?« fragte Bismarck mit tosenden Schläfen.

»Es scheint gut zu gehen«, antwortete der König, indem er sich mit dem Taschentuch nach dem Nacken schlug, den die Fliegen sich nicht scheuten, als Tanzboden zu benützen. »Die Franzosen sind abgedrängt, aber es kann morgen noch einmal angehen. Wir wollen um halb vier Uhr hinaus.«

»Haben wir große Verluste?«

Wieder antwortete der König, während Moltke ganz würdelos mit dem Lineal in den schwirrenden Schwarm vor seinem Gesicht hineinschlug. »Voigts-Rheetz hat eine schwere Attacke geritten. Sehr schwer. Da werden viele brave Reiter nicht wieder aufstehen. Aber vielleicht hat er den Tag gerettet.«

»Weiß man, wer mitgeritten hat?«

»Dreier-Husaren, Dreizehner- und Sechzehner-Ulanen, Ihre braven gelben Kürassiere, Bismarck, und – auch die ersten Gardedragoner.«

Auch die ersten Gardedragoner! Bismarck spürte, wie sich die Fliegen an dem Schweiß vollsogen, der seine Stirn dick überperlte. »Unsere braven Jungen sind nicht zu halten«, sagte er, während sich die Schulstube mit ihrer schwarzen Tafel und den Wandbildern ins Kreisen begab, »sie scheinen zu glauben, jedem von ihnen wäre das ewige Leben garantiert. Man braucht sie nicht zu stapeln, man sollte sie eher zurückhalten. Man müßte ihnen immer sagen: deutsches Blut ist das edelste Blut dieser Welt; es soll nicht unnütz vergossen werden. Ihr sollt sparsam sein damit. Wenn so ein deutscher Soldat einmal ein Loch weg hat, so rinnt ihm das Blut aus, wie jedem beliebigen anderen Menschen.«

Moltke hatte inzwischen, ohne weiter auf Bismarck zu achten, seine Erläuterung wieder aufgenommen und baute seine Siegesgedanken auf das Kampfgelände hin. Er wandte sich mit seinen Schlachtenlenkerplänen ausschließlich an den König; denn im Grunde war dieser Bismarck, trotzdem er die Uniform seines siebenten schweren Landwehr-Reiterregiments trug, doch in allem Militärischen Laie, und es mußte ihm von vornherein gezeigt werden, diesmal lasse man sich nicht wieder dreinreden wie Anno sechsundsechzig.

Aber Bismarck hatte noch nicht lange zugehört, da klopfte es scharf in Moltkes Vortrag hinein, und ein Ordonnanzoffizier trat ins Zimmer und riß sich stramm an der Tür zusammen.

»Ja«, dachte Bismarck, »der kommt nur deinetwegen.« Und plötzlich kamen ihm alle die dicken, fetten, schillernden Fliegen wie Aasfliegen vor, und vielleicht hatten sie auch, wirklich vor kurzem noch drüben über den Schlachtfeldern geschwärmt und sich von Leichen gemästet.

Daß der Offizier seine Meldung nicht laut vorzubringen wagte, sondern sie an Moltkes Ohr hinflüsterte, und daß darauf der General keine Antwort zu finden schien, führte Bismarck schon wieder zur Fassung zurück. »Warum sagt Moltke nichts«, dachte er, »und warum schaut mich der König so an? Es ist etwas geschehen. Welchen von beiden hat es nun getroffen?«

»Ja, ja!« sagte er, »ich weiß schon. Es geht mich an. Sprechen Sie nur.«

Er sah, wie Moltke dem Oberleutnant zuwinkte und wie dieser, sich hoch aufrichtend, Atem holte. Aber sehr erschrocken schauten noch immer die Augen aus dem sonnenroten Jungengesicht: »Bei der Attacke ist … sind … Graf Herbert Bismarck gefallen … und … Graf Wilhelm Bismarck ist schwer verwundet.«

»Von wo kommt die Meldung?« fragte Bismarck.

»Vom Kommandierenden General des zehnten Korps.«

»Von Voigts-Rheetz. Und wo ist der General augenblicklich?«

»Ich weiß es nicht. Er reitet jetzt herum und besichtigt die Lazarette.«

»Ich danke Ihnen!«

War das große Gelblichweiß, das sich ihm entgegenstreckte, eine Hand? Und wem gehörte sie wohl, Moltke oder dem König? Wie ätzend Mitleid ist! Was wollte man noch von ihm? Bismarck wandte sich, und wie er hinausschritt, streifte er mit der Stirne den oberen Balken der niederen Tür.

… Und wie kam das, daß man auf einmal ein Pferd unter sich hatte und Nacht um sich. Das Pferd ging in einem gelinden Trab, die Nacht war dort, wohin man ritt, ein wenig erhellt von brennenden Gehöften; der Krieg knatterte mit einzelnen Schüssen irgendwo im Dunkeln; allmählich unterschied man Bäume am Straßenrand, weiße, kalkgestrichene Steine, dunkle Haufen im Graben, vielleicht gefallene Pferde oder tote Menschen. Durch die Räder eines umgestürzten Wagens sah man vor einem Hintergrund von Flammenschein einen schwarzen, spitzen Turm.

Langsam sammelten sich die Gedanken.

»Das Schlimmste ist«, dachte Bismarck, »daß ich mich viel zu wenig um euch gekümmert habe. Meine Arbeit und meine Pflicht und immer wieder meine Arbeit und meine Pflicht! Und euer liebes, junges Leben rann dabei neben mir hin, während ich Noten drechselte und mich mit Ministerien, Gesandten und Parlamentariern herumschlug. Ich hatte immer nur einen flüchtigen Schein von eurem Dasein, weiß nur, wie glücklich euch die Sommer in Varzin gemacht haben, der Park, die Wipper, die Eichhörnchen. Aber ich habe nicht daran teilgenommen. Das weiß man alles erst, wenn es zu spät ist. An Herbert hat mir ja der Tod eine Warnung gegeben. Aber ich habe sie nicht verstanden. Nun liegt er wohl wieder so wie damals in Bonn.«

Und Bismarck sah seinen Jungen vor sich, in seiner Studentenbude zu Bonn, als seine Mensurwunde von Leichengift brandig geworden war. Es war alles furchtbar deutlich; der arme junge Mensch, den man hätte für tot halten können, in dem weißen Bett, Johannas vor Angst ganz klein gewordenes Gesicht, das bedenkliche Tasten des Doktors über die blauschwarze, ungeheuerliche Geschwulst, dann die zaghaften Besuche der Borussen, denen man ansah, daß sie sich verwunderten, den Farbenbruder noch am Leben zu finden. Und nun lag er wieder so, nur daß kein Atem mehr ging und die Lippen weiß waren … oder vielleicht war er in Stücke gerissen. Hatte ihn Gott damals nur dazu gerettet?

Und Bill, der lustige, immer gut gelaunte Bill, vor Schmerzen wimmernd, stöhnend und dem Tod entgegenröchelnd, ein zerbröckelndes Leben.

Und wo, um Gottes willen, wo in dieser fürchterlichen Nacht lagen sie, in welchem der unter den Schlägen der Schlacht geduckten Dörfer, in welchem der Gehöfte, deren Mauern sich mit den Schreien der Verwundeten vollsogen?

Bismarck verließ die Straße und ritt querfeldein, dem Feuerschein zu.

Ein Mann saß am Feldrain und hob mit gebogenem Arm eine Flasche zum Mund. Der Reiter hielt, fragte nach dem Dorf Trouville, denn dieses lag nahe dem Schauplatz des Reiterangriffs, und so konnten die Gefallenen und Verwundeten dorthin gebracht worden sein.

Aber der Mann auf dem Feldrain gab keine Antwort. Bismarck stellte die Frage noch einmal in der Feindessprache; denn es war immerhin möglich, daß er einen versprengten Franzosen vor sich hatte. Und als der Mann auch auf französisch nicht antwortete, beugte sich Bismarck vom Pferde über ihn, eine Feuergarbe schoß in dem brennenden Dorf hoch, der Funkenregen eines in Flammen geratenen Getreidespeichers. Wie ein feuriger Besen fegte er den schwarzen Himmel.

Da sah Bismarck, daß dem Mann auf dem Feldrain der Unterschied zwischen Deutsch und Französisch ausgelöscht war, weil er in keiner Sprache antworten konnte, und daß er aus der gehobenen Flasche nicht würde trinken können, weil ihm der Kopf vom Rumpf gerissen war. Vielleicht lag der Kopf, durch einen Granatsplitter sauber abgetrennt, irgendwo im nachtfeuchten Gras und glotzte den Frager mit aufgequollenen Augen höhnisch an.

Sporengeschreckt tat das Pferd einen Satz und raste ein Stück in die Dunkelheit hinein, bis es wieder zum Trab gezügelt wurde.

»Ich habe es gewußt«, dachte Bismarck, »ich habe Düppel gesehen und Königgrätz. Und ich habe es doch auf mich genommen. Es ist nichts, sein eigenes Leben einzusetzen. Ich war dazu bereit, wenn sich Gott bei Königgrätz gegen mich entschieden hätte; und ich hätte die letzte Attacke mitgeritten und wäre gefallen. Aber dieses da … dieses da … ist mehr, als ein Mensch ertragen kann.«

Kam da nicht ein Reiter hinter Bismarck her, im selben Trab, mit demselben weichen Gestolper über Stoppeln und Schollen, mit demselben Gebaumel und Geknarr von Zaumzeug und Sattel? Es war aber nichts zu sehen als hockendes Gebüsch und Bäume, denen der Eisenhagel die Äste zersplittert hatte.

»Gottes Hand hat mich rasch erreicht«, dachte Bismarck weiter; »man spricht immer davon, daß man ihm vertraut, und denkt nicht daran, daß er sich auch gegen uns wenden könne. So hat er mir unrecht gegeben … er hat mir unrecht gegeben …; wie soll ich vor Johanna kommen, wie soll ich es ihr sagen, unsere Jungen … unsere beiden Jungen …«

Stöhnen quoll aus der Erde; in einer Ackerfurche krümmte sich ein Mensch, die Hände waren in den Boden gekrallt, das eine Bein lag zermalmt unter dem Körper. Bismarck sah rote Hosen, ein zerfetztes Käppi; er glitt rasch vom Pferd.

»Mein Kamerad«, sagte der Verwundete, »warum läßt man mich hier allein? Warum muß ich hier krepieren wie ein Hund auf dem Düngerhaufen? Ich habe nichts getan …«

»Ich will Krankenträger suchen!« sagte Bismarck rasch.

Der Soldat schüttelte den Kopf. »Nein, nein, davon hab' ich nichts, ich will mich nicht mehr rühren, das Bein ist hin …« Und mit einem Male, als habe das Herannahen des Todes tiefere Bezirke seiner Seele erschlossen, begann er deutsch zu sprechen: »Du sollst Grüße heimbringen.«

»Wie heißt du …?«

»Küfferlè … Hans François Küfferlè … aus Kolmar im Elsaß … meine Frau … ich habe einen kleinen Laden aufgemacht.« Das schmerzzerrissene Geflüster war schwer zu verstehen, Bismarck beugte sich tief herab; aber als er sein Gesicht dem des Sterbenden auf eine Spanne genähert hatte, stieß dieser plötzlich einen Schrei aus. Seine Hände ließen die mütterliche Erde, hoben sich zur Abwehr. »Sie sind Bismarck«, schrie er, »ich erkenne Sie! Sie sind Bismarck! Gehen Sie fort.« Und immer wieder kreischte er: »Gehen Sie fort!«

Ratlos und verwirrt richtete sich Bismarck auf; aber da sah er unweit Lichter vor Bahren schwanken und rief rasch hinüber. Krankenträger hielten Nachlese; sie kamen heran, und Bismarck wies ihnen den wieder stumpf gewordenen Verwundeten. Während er in der Richtung, die sie ihm gezeigt hatten, davonritt, hörte er hinter sich das Schmerzgebrüll des Soldaten, dessen zerfetzten Leib man auf die Bahre lud.

Es war noch ein langes Reiten über Felder und durch kleine, gerupfte Wäldchen, an Tümpeln hin und durch Dörfer, die voll Truppen lagen, ein Weiterfragen von Mann zu Mann, an verschlafenen Trainkolonnen hin, die mürrisch und todmüde noch in der Nacht irgendwohin mußten, an Batterien, die abgeprotzt hatten und auf der Stelle, Mann wie Pferd, in einen tiefen Schlaf versunken waren. Oft noch hörte Bismarck hinter sich reiten, und er dachte: »Es ist der Tod, der hinter mir her ist; er hat einmal mich fahren lassen und einmal meinen Herbert. Nun will er dabei sein, wenn ich an ihren Leichen stehe.« Er ritt aber immer weiter, ohne sich umzusehen, und hielt an jedem Lazarett an, glaubte hinter den armseligen Wänden im trüben Licht das Knirschen der Sägen zu hören, mit denen die Knochen abgetrennt wurden, sah auch bisweilen, wenn die Tür geöffnet wurde, das fahle Gesicht und den offenstehenden Mund eines Toten. Und überall fragte er mit schmerzendem Kiefer und vertrockneter Zunge nach seinem Jungen. Man erkannte ihn überall und wies ihn von Lazarett zu Lazarett; denn niemand wußte genau, wohin man den Toten und den Sterbenden gebracht hatte, und immer, wenn Bismarck weiterritt, glaubte er hinter sich zu hören, wie man sagte: »Das ist Bismarck, dem seine beiden Söhne erschossen worden sind.«

Endlich wurde es heller, und der Tag begann seine unbefangenste Morgenmiene zu machen, als könne er gegen keinerlei lebendes Wesen auch nur das geringste im Schilde führen. Bismarck ritt über eine sanft ansteigende Wiese dem Weiler Mariaville zu, wo in einem Meierhof eine Anzahl von Verwundeten untergebracht war. Die Wiese war von ungewöhnlich großen Maulwurfshaufen gebuckelt; aber als Bismarck hindurchritt, sah er, daß es keine Erdhügel der Wühler waren, sondern lauter Pferdeleiber, einer neben dem andern, so daß zu vermuten stand, hier müsse einer der Reiterangriffe stattgefunden haben.

Und während Bismarck zwischen den Pferdeleichen dem Dorf zuritt, kam er endlich mit seinen Gedanken ins reine. Der frische Tag half ihm dazu, das Aufleuchten der Wolken dort unten am Weltsaum, der Anblick der argen Menschennot und Notwendigkeit ringsum. Trug nicht jeder Tag ein bitteres, aber heilsames Kraut im Morgenmund? Das Kräutlein Muß, an dem man umkommen oder gesunden mochte, je nachdem man sich zu den Kranken oder zu den Aufrechten zählen durfte.

»Ja, gewiß«, dachte Bismarck, »es ist so. Gott hat mir unrecht gegeben, seine Strafe hat mich ereilt. Ich habe mich vermessen, es auf mich zu nehmen. Meine Söhne habe ich eingesetzt, Gott hat das Opfer willkommen geheißen. Aber nun soll es genug sein; ich habe sie für den Sieg hingegeben, nun, Herrgott im Himmel, schenk uns den Sieg!«

Als Bismarck durch das Hoftor einreiten wollte, kam eben ein Gardedragoner daher, an dem war das liebe Reiterblau aber mit einer solchen Dreckschicht überzogen, als habe er vierzehn Tage im Zampelsumpf zugebracht. Und eben als Bismarck den Mund auftun wollte, um nach seinen Söhnen zu fragen, da spaltete sich das Negergesicht vor ihm mit grinsendem Zahngehege, die weißen Augäpfel begannen zu rollen, und der Schmierfink streckte dem Reiter einen fünfgliedrigen Lehmklumpen entgegen. »Morgen, Vater … fein, daß du herjetroffen hast.«

Da rasselte Bismarck vom Pferd, daß man merken konnte, die Freude führe eine ebenso kräftige Turnierlanze wie der Schmerz, und so neu seine Uniform war, so nahm er doch den allerzärtlichsten Abdruck von seines Bill schmieriger Ungestalt auf sein Wams.

»Junge! Junge …«, stammelte er, und so wenig das war, so mochte es sich von Gottes Thron doch wie ein großes Halleluja und Tedeum mit Orgel, Posaunen und Engelchören anhören. »Und Herbert?« schreckte Bismarck noch einmal aus der Freude auf.

Ach was, Herbert lag drinnen im Haus, mit drei Schüssen, aber an keinem war was Rechtes daran. Eine Kugel hatte ihm den Oberschenkel durchbohrt, hinein – hinaus, basta, lauter Fleisch. Die zweite war ihm über die Brust gepfiffen. Und die dritte hatte ihm die schwarze Holzuhr zerschlagen, die Herbert vom Vater erhalten hatte, und da war wohl jetzt für den kunstreichsten Uhrmacher der Welt kein Flicken mehr möglich. Und jetzt schlief Herbert dort drinnen zwischen den anderen Verwundeten und hielt eine sehr große Säge in Betrieb.

Aber so lustig Bill berichtete, der Vater wollte nicht lachen; er stand an der Tür und sah Herbert an, der auf seinem Stroh mit einem trotzigen Bubengesicht schlafend lag, mit demselben bösen Stirngefältel wie in Kinderbettzeiten nach einer Prügelei mit Bill. Schweigend nickte Bismarck dem und jenem bekannten Gesicht zu und trat dann wieder mit Bill auf den Hof.

»Und du?« fragte er, »man hat Herbert ganz und dich halb tot gesagt.«

Ach, das war weiter nichts als ein Reitermißgeschick gewesen, beim Galopp gegen den Feind ein Sturz über ein totes Pferd, kopfüber in einen sehr schönen Tümpel hinein. Kein Beinbruch, kein Versagen bei Mann und Pferd, man hatte sich wieder ausgeklaubt und hatte das Pferd am Zügel wegführen können.

Warum er denn nicht aufgesessen sei, fragte Bismarck.

Ja, das wäre schwer zu machen gewesen, meinte Bill, weil doch schon ein anderer im Sattel gesessen sei.

Wer denn im Sattel gesessen sei?

Na – eben der Dragoner!

Welcher Dragoner?

Ach, so ein armer Verwundeter, den man doch nicht habe im Feuer liegenlassen können.

Im Feuer? Also hätten die Franzosen fleißig hingeschossen.

Mein Gott, das wäre doch auch weiter keine Kunst gewesen; sie hätten ja höchstens fünfzig Schritte entfernt gestanden.

Und sie … hätten … also nicht getroffen?

Nein – er und der Dragoner hätten keine Kugel bekommen; aber das Pferd wäre, kaum daß sie aus dem Feuerbereich gewesen wären, tot zusammengebrochen.

»So so!« sagte Bismarck und legte den Finger über die Augen, wie von einer großen Helle geblendet. Das war Gottes Hand, diese Hand, von der Bismarck geglaubt hatte, daß sie ihn züchtigen wolle, und die in Wahrheit jede Kugel so gelenkt hatte, daß sie ihm Gottes Gnade erwies. Er hob sein Herz wie eine Opferschale in den Morgen: »Dann hast du mir auch nicht unrecht gegeben, o Gott, du hast mein Tun nicht verworfen und mich freigesprochen durch deine Herrlichkeit!«


 << zurück weiter >>