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Selbst für einen Studenten war das Päcklein etwas gar zu armselig, mit dem der junge Mensch das Hotel in der Jägerstraße betrat, und es verstand sich von selbst, daß der Zimmerkellner jeden Anschein eines Versuches unterließ, es ihm abzunehmen, und daß er dem schäbigen Gast Nummer 37 B gab, das Hundeloch neben dem Ort der Heimlichkeiten, mit der Aussicht auf den trübseligen, eng ummauerten Hof.
Der armselige Gast kümmerte sich wenig um die Geringschätzung, die man ihm nicht verbarg, sperrte hinter dem mürrisch abtretenden Söldling die Tür ab und begann sein dürftiges Päcklein auszuschälen. Unter der Hülle aus Zeitungspapier barg sich ein zusammengerolltes Nachthemd, das wieder Hülle irgendeines festen Kernes von geringem Umfang war. Mit diesem aber mußte es irgendeine absonderliche und geheimnisvolle Bewandtnis haben; denn ehe ihn der junge Mensch aus seinen Wickeln löste, besah er die Wände links und rechts eine Zeitlang so mißtrauisch, als sei von ihnen zu befürchten, daß sie nicht bloß Ohren, sondern auch Augen haben könnten, und hockte auch eine gute Weile am Schlüsselloch, ob denn wirklich und wahrhaftig kein Blick von draußen hereinangeln könne. Und als er dessen gewiß war, da nahm er erst recht das Ding so rasch aus den Hemdfalten in seine rechte Rocktasche, daß auch der scharfsichtigste Späher nicht hätte ausnehmen können, ob es ein Gutes oder Schlimmes, ein Freundliches oder Feindliches und eines solchen Aufwandes und Getues überhaupt wert sei.
Das Nachthemd aber warf er achtlos in die Bettgegend, daß es sich im Fluge ausbauschte und über die Kante hingebreitet blieb, mit der Halsöffnung nach unten und abwärts gereckten Ärmeln, als gehöre es zu einem aus dem Himmel kopfüber herabstürzenden Engel.
Als der junge Mensch das Hotel verließ, schob ihm der Portier knurrend das Fremdenbuch hin und pflanzte sich dann breit ans Fenster, indem er dem kümmerlichen Kerlchen so nach Pförtnerweise zu verstehen gab, wie ihm sein Nam' und Art vollkommen gleichgültig sei. Der dürftige Jüngling warf zuerst einen zornigen Blick nach dem Lakaienrücken, der nichts als eine breitspurige Einladung für ihn enthielt, diesen Buckel je nach Gefallen hinanzusteigen oder hinabzurutschen. Dann aber kam ein abgründiges Lächeln auf das ausgemergelte Gesicht und spannte die dünne, blasse Haut. Er hatte zuerst beabsichtigt, das Fremdenbuch mit einem falschen Namen zu betrügen. Nun schrieb er in raschem Zug seinen richtigen Namen hin und verhehlte auch nicht, daß er Hörer der landwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim und soeben aus London eingetroffen sei.
Sie sollten es wissen, wie er hieß; sie sollten diesen Namen in ihrem schmutzigen Buch haben, diesen Namen, der längstens binnen dreimal vierundzwanzig Stunden der bekannteste und gefeiertste Name Europas sein würde. Und dann mochten sie immer die von ihm ausgefüllten Fächer des Registers mit Gold umranden und das Buch unter Glas ausstellen, und dieser Lümmel von Portier mochte dann den Fremden erzählen: »Ja, er kam daher und sah nach gar nichts aus … ein ganz gewöhnlicher Mensch … nur in den Augen …«
Vorläufig grüßte der Portier nicht einmal, als die Eintragung beendet war und er mit einem verächtlichen Blick so obenhin feststellte, ein Herr Cohen-Blind sei bei ihm eingekehrt.
Der schmale Jüngling aber ging, fröhlich beschwingt, durch die Berliner Straßen und genoß das Vorgefühl seiner Bedeutung. Steine und Häuser schienen ein besseres Ahnungsvermögen zu haben als Menschen. War das nicht ein Flüstern und Raunen um ihn, wo er ging und stand, quoll es nicht aus allen Fugen des Pflasters, wehte es nicht aus allen offenen Haustoren wie der Atem der Bewunderung? Die blanke Maisonne und der leise Wind wußten schon davon und waren voll zärtlicher Schmeichelei für den Helden von übermorgen. Im Tiergarten reckten die Büsche ihre hellgrünen Zweige, um ihm das Gewand zu streicheln; auf den Weihern ruderten die Schwäne heran, drehten die langen Hälse und legten die Köpfe schief, als wollten sie ihm ins Gesicht staunen. Schon war sein Gedanke von der ganzen unvernünftigen Schöpfung an- und aufgesogen, nur der vernünftigen mußte er ihn noch hehlen; denn unter dieser waren Verräter der Freiheit und käufliche Schergen im Dienste des Beelzebub.
Das war kein Abend, um nach Haus zu gehen, und keine Nacht, um zu schlafen; der junge Mensch wollte die heimlichen Stimmen der Straßen und Bäume hören; er ging ein dutzendmal durch die Wilhelmstraße, wo hinter den schweigenden Portalen und hohen Fenstern die Ämter der politischen Finsterlinge waren, von denen alles Unheil der Welt kam. Er ließ seinen Schritt auf dem einsamen Pflaster klappen, saß unter den leise webenden Tiergartenbäumen, bis ihn im rieselnden Morgen ein Schutzmann aufstörte und ihm aufs neue bewies, daß man in einem Polizeistaat war, in dem man keineswegs tun durfte, was einem gefiel, sondern nur, was nach den Paragraphen der Kerkermeister zulässig war.
Ein Schlaf bis in den hohen Mittag hinein brachte eine Kette goldener Träume aus einem Jenseits, wo alle Gewalt und Bedrückung abgeworfen und durch die Herrlichkeit letzter Erfüllungen ersetzt war. Säle voll seliger Geister, und allen voran der Mann, der ihm zu seinem ersten Vatersnamen einen zweiten, noch teureren, gegeben hatte. Die Gramfalten des Heimatflüchtlings, des auf fremder Erde dahinlebenden Verbannten, des politischen Verbrechers, waren wegverklärt; er schritt in einem roten Prachtgewand auf einem Mosaik von blauen und weißen Steinen, das aber so durchsichtig war, daß man wie unter einem gläsernen Himmelsboden die ganze Erde ausgebreitet sah, mit grünen Äckern und blauen Adern von Flüssen und grauweißen Stadtklumpen. Dann stand der Stiefvater zwischen zwei Säulen, die links und rechts von ihm hinaufgingen, immer höher, so hoch, daß man ihre Kapitelle nicht sah und nicht ausrechnen konnte, was diese endlosen Schäfte eigentlich zu tragen hätten. Und der Mann las aus einem rotgeränderten Zeitungsblatt mit einer hallenden Stimme: »Republikanisches Regierungsblatt, Hauptquartier Lörrach, den 22. September 1848. Aufruf an das deutsche Volk! Der Kampf des Volkes mit seinen Unterdrückern hat begonnen. Nur das Schwert kann das deutsche Volk noch retten … Siegt die Reaktion, so wird Deutschland auf dem sogenannten gesetzlichen Wege furchtbarer ausgesogen und geknechtet werden, als dieses in den blutigsten Kriegen geschehen kann. Zu den Waffen, deutsches Volk! Nur die Republik führt uns zum Ziel, nach dem wir streben. Hoch lebe die deutsche Republik! Im Namen der provisorischen Regierung der Schriftführer Karl Blind.« Dann begann das rote Gewand von den Schultern des Mannes zu fließen, rann über den Boden hin, drang durch das Mosaik und tropfte schwer und dunkel auf die irdischen Gefilde. Und wo einer der dunkeln roten Tropfen ins Grüne oder in eines der Häusernester traf, da stieg sogleich ein kleiner runder Dampfballen auf, als verzische der Tropfen auf einer überhitzten Eisenplatte. Eine Stimme aber sagte: »Sei mein Erbe! Vollende mich!«
Nach einem einfachen Mittagessen in einer Kutscherkneipe fing sich der junge Mensch ein Zeitungsblatt aus der Flut, die eben durch alle Straßen gebraust kam. Die Nachrichten sogen sich wie Blutegel an den Leser fest, mästeten sich von seinem Leben und machten den Kopf leer. Er saß wieder auf einer Tiergartenbank, hatte den breitkrempigen Banditenhut neben sich liegen und wühlte unablässig mit der mageren Hand im staubigen Haargesträhne. Und als alle Telegramme aus Wien und Rom und Paris aneinandergereiht und mit den Berliner Berichten zusammengebracht waren, da ergab es sich, daß der Krieg zwischen Österreich und Preußen unvermeidlich sei. In den besetzten Herzogtümern war es trotz des Gasteiner Vertrages zwischen den einstigen Bundesgenossen nicht ganz geheuer geworden, und man konnte es Österreich nicht verdenken, daß es gegen Preußen mißtrauisch geblieben war. Es saß weit von der Schüssel und Preußen nahe daran, und so war die Furcht begründet, daß es sie eines Tages ganz an sich ziehen werde, zumal es von einem Esser regiert war, dessen Maul und Magen die größten Bissen zwingen konnten. So ließ Österreich einstweilen den Augustenburger weiter wirtschaften, als ob nichts versprochen und vertragen worden sei, und der machte mit der Treue seiner Partei die Schüssel so heiß, daß sich Bismarck schon die Finger verbrennen konnte. Darüber aber waren auch die Roten zwischen Berlin und Wien ins Sieden gekommen, und jetzt wuchsen die Truppenwälle an den Grenzen, trotz Friedensversicherungen und Abrüstungsvorschlägen.
Mitten im Lesen fiel dem Jüngling ein, daß ihm sein Traum den Stiefvater wie einen Verklärten und Jenseitigen gezeigt habe. Und er lebte doch noch, wandelte auf dem freien Londoner Boden, und gleich ihm warteten noch viele Hunderte von Verbannten des roten Quartals rings um die deutschen Grenzen auf das Erwachen. Und Tausende waren im Lande selbst, Erben des Freiheitsgeistes, gleich ihm bereit, sich zu erheben, wenn das Zeichen gegeben wäre. Noch immer war die deutsche Einheit das hohe Ziel, von der Wartburg an bis heute. Aber wo sie sich gereckt hatte und ihre Fahnen geflattert waren, da hatte sich immer dieser eine entgegengestellt. Er, Deutschlands Erzbösewicht, der Attila der Freiheit, der Werwolf, der alle großen Gedanken fraß, Vergifter aller reinen Brunnen. Judas und Nero und Franz Moor.
Nun sollte der Deutsche Bund zerschlagen werden, die Grundmauer des Einheitsbaues. »Ein Brüderkampf steht uns bevor«, schrieb die Zeitung, »ein unermeßliches Unglück, die Zerrüttung des Vaterlandes, des preußischen engeren und des großen deutschen, selbst wenn Preußen siegen sollte.«
Ja! Ja!! Ja!!! Aber würde Preußen siegen, gegen dieses Österreich mit seinen unermeßlichen Armeen? Quoll da nicht Gelächter über die Grenzen her, Jubel und Beckenklang des hämischen Frankreich, als Musik zu dem Schlachten in Deutschland?
Der wirre Leser sah auf, vor seinen Augen rollten und stampften die Bäume und Sträucher des Parkes, als liefe ein riesenhaftes Tier unter dem Boden hin, dessen Rücken Erde und Pflanzenwelt wie ein Tuch wellte. Er ballte die Zeitung zu raschelndem Knäuel, entzündete sie und warf die Fackel ins Gebüsch. Da schwebte sie zwischen dem bodennahen Geäst, bog schwarze Aschenblätter auseinander und versengte wie mit einem giftigen Hauch die Grashalme und maizarten Blättlein. Zuletzt erstickten die Flammen, ehe noch der ganze Klumpen verzehrt war, und nun lag er da, halb verkohlt und halb nur angesengt, manchmal von einem krampfhaften Krümmen bewegt und sehr häßlich anzusehen neben ein paar märchenhaften Buschwindröschen unter einem noch zusammengerollten Farnkraut.
Der kümmerliche Jüngling aber streckte die magere Faust aus und zog die Lippen von den gelben Zähnen. Nach der Glut von vorhin lief ihm jetzt ein kalter Frost durch die Knochen.
»Gezählt, gewogen und gerichtet!« sagte er halblaut.
Langsam ging er den Weg, den er seit seiner Ankunft nun schon oft genug gemacht hatte: vom Tiergarten zur Wilhelmstraße. An allen den kalten und hochmütigen Amtsgebäuden ging er vorbei, die wahrhaftig ganz nach der nüchternen und dünkelhaften Feldwebelpolitik aussahen, die seit Friedrichs des Großen Zeiten darin gemacht wurde, an diesen Zwingburgen des Lebens und der Freiheit. Er kämpfte sich durch das ungefüge Tor des Hauses Nr. 76 und fragte den sogleich auftretenden Portier, ob Seine Exzellenz zu sprechen sei.
Ob denn der Herr Graf von diesem Besuch unterrichtet sei, fragte Schellenberg mit Amtsmiene dagegen.
Jawohl, log der junge Mensch, Seiner Exzellenz sei er bereits durch die Gesandtschaft in London angemeldet. Er käme nämlich aus London.
Es ging oft sonderbares Volk bei Seiner Exzellenz aus und ein, und es mochte immerhin ein so verstörtes und übernächtiges Menschlein auch seinen Weg zu ihm nehmen dürfen, zumal in diesen unruhigen Zeiten, wo sich allerlei Geheimes zutrug und bereitete. Aber der Herr müsse dann wohl später wiederkommen, denn jetzt sei der Herr Graf eben zum Vortrag bei Seiner Majestät, und er pflege erst nach sechs Uhr vom Palais zurückzukehren.
Damit war dem Besucher auch gedient, und er ging, nachdem er dem Pförtner versichert hatte, er werde sich zur rechten Zeit einfinden.
Unter den Linden war der Maiabend so heiter, als sei er der Stadt wie ein Festkränzlein um die Stirn gewunden. Die Damen hatten schwarze, dünne Spitzentücher über die Schulter geworfen und ließen sie nun herabgleiten, daß sie über die weiten Röcke flossen, und das sah so ungezwungen heiter aus, als seien alle Frauen zur Flatterhaftigkeit und liebenswürdigstem Leichtsinn bereit. Die Männer prunkten schon mit hellen Sommerwesten daher, und wer nur etwas auf Anmut und Würde seiner Erscheinung gab, der hielt sich an den neuesten Pariser Schnitt. Der machte die Hosen um die Hüften sehr weit und unten um die Knöchel so eng, daß es aussah, als komme männiglich in einem Paar ausgehöhlter, mit einem bunten Gitter übermalter Keulen angewandelt.
Die Linden standen in geraden Reihen, hinab und hinauf, und trugen die von Maikäfern umsurrten grünen Köpfe hoch. An einem der Stämme lehnte der junge Mann aus London, gerade dem königlichen Palais gegenüber, und ließ die Tür neben dem schwarz-weißen Schilderhäuschen nicht aus den Augen. Er hatte die Beine gekreuzt und die Arme verschränkt und fiel durch diese Haltung einer überaus finsteren Entschlossenheit mehr als einem Vorübergehenden auf, daß sich etliche Köpfe nach dem blassen Gesicht mit den flackernden Augen wandten.
Auch dem Buchbindermeister Bannewitz war diese durchloderte Düsterkeit als ein höchst unheimliches Ding erschienen, und er sagte sich, so könne wohl ein Wahnsinniger vor Ausbruch der Tobsucht aussehen. Nur zögernd setzte er seinen Weg fort, denn er pflegte von den Büchern, die ihm zum Binden übergeben waren, die abenteuerlichen und aufregenden nicht ungelesen zurückzugeben und war ein großer Freund aller rätselhaften Charaktere und spannenden Nachtstücke in Literatur und Leben. Als er sich zum drittenmal nach dem drohenden Jüngling umwandte, sah er, wie sich dieser vom Lindenstamm löste und hinter einem Mann dreinging, der eben aus dem königlichen Palais getreten war.
War das nicht … ja, das war Bismarck, unschwer nach den unzähligen Zerrbildern zu erkennen, die der Haß über das ganze Land verstreute, nach diesen bösartigen Witzen und Witzchen, die man ihm allenthalben anhängte, seinem Gehen und seinem Sitzen, seinem Schlafen und seinem Wachen, seiner Politik und seinem häuslichen Leben. Als ein braver Demokrat fand Meister Bannewitz vielen Gefallen an diesen gesinnungstüchtigen Nadelstechereien, und da er eben erst vorige Woche einige Jahrgänge des »Kladderadatsch« zu binden gehabt hatte, lächelte er im geheimen über ein paar besonders drollige Bosheiten Berliner Herkunft.
Inzwischen war Bismarck im raschen Vorwärtsschreiten dem feierabendlich schlendernden Meister näher gekommen, und Bannewitz wollte eben ausweichen, nicht etwa aus Ehrfurcht, sondern um den berüchtigten Giftmischer so recht scharf von der Seite ins Auge zu fassen.
Da knallte es hinter ihm zweimal rasch nacheinander, und aus dem besonnenen Seitenschritt wurde ein erschrockener Satz. Bannewitz sah, daß sich Bismarck umgewandt hatte, der schmale, kümmerliche Mensch stand mitten auf der Straße und hob die Hand gegen den großen, schweren Mann. Es knallte zum drittenmal, von der vorgestreckten Faust verzog sich ein dünnes, blaues Wölkchen.
Aber schon waren die beiden Menschen in eins gewirrt; Bismarcks breite Faust saß dem Menschen an der Gurgel, seine Linke zerquetschte das Handgelenk.
Menschen liefen herbei: eine Frau schrie gellend …
Eine große Menge kam im Gleichschritt die Straße herab, Soldaten …
Die Knochen der Mörderhand krachten unter Bismarcks Fingern, aber da entwischte die Linke des Jünglings durch eine Lücke zwischen den aneinandergepreßten Leibern und riß den Revolver aus der Rechten. Ganz nahe an Bismarcks Rippen brannte er noch zweimal ab. »Ich bin tot! Ich muß tot sein!« dachte Bismarck, »aber mit meiner letzten Kraft drücke ich dir die Kehle ab!« Blaurot quoll das Gesicht vor ihm, röchelnd bog sich der Kopf hintenüber, kein Schuß fiel mehr …
Und da war auch der Buchbindermeister Bannewitz heran und riß dem Mörder das Gewehr aus den eingekrallten Fingern. Bismarck ließ die gewürgte Kehle los; schlaff wie ein Sack fiel der Mensch in sich zusammen, hing nur an des Meisters Faust über dem Pflaster. Jetzt erst schlug der Schreck in Empörung um: »Was? was??« schrie Bannewitz, »totschießen? du Haderlump!«, und er pflanzte zwei Ohrfeigen in das Gesicht des Menschen, als hätte er vom Weltgericht dazu eigens den Auftrag erhalten. Und waren es zwei Ohrfeigen, wie Bannewitz weder je in Lehrlingszeiten empfangen, noch in Meisterszeiten je ausgeteilt hatte. Wobei freilich von ihm nicht bedacht war, daß das Lachen über die argen Zerrbilder Bismarcks vielleicht unweit des Anfangs- und Ausgangspunktes jenes Weges lag, auf dem heute fünf Schüsse gefallen waren.
Bismarck stand da, befühlte sich, sah die Kugellöcher in seinem Überrock, diese beiden von runden Brandflecken umrahmten Löcher auf seiner rechten Seite, und konnte nichts tun, als sich verwundern, daß er noch lebte.
Zwei richtige Ohrfeigen sind manchmal das beste Lebenselixier; der junge Mensch war zu sich gekommen und hing wankend in Bannewitz' festem Griff, während seine Augen zaghaft und wirr über Gesichter, Bäume, Häuser und Wolken wanderten. Unverständliches war geschehen; Bismarck stand unversehrt, er aber war mit Schwäche und Schmach geschlagen, kein Held und Retter, ein ertappter Mörder, dessen letztes Lebensstümpfchen gerade noch bis zum Galgenende reichen würde.
Ein Soldatenhaufen kam jetzt vorbeigetrommelt und -gepfiffen, und alles das, die ganze Lebenswende, Sieg und Niederlage, hatte nicht längere Zeit gedauert, als ein Bataillon vom zweiten Garderegiment brauchte, um vierhundert Schritte näher zu kommen.
Bismarck rief einen Leutnant an; mit zwanzig knappen Worten war alles erklärt, und der Gefangene schwankte zwischen zwei ellenlangen pommerschen Gardesoldaten unter Vorantritt eines Sergeanten in kläglichster Zermalmtheit dem Gefängnis zu.
Eine Droschke kam Bismarck eben recht. Als er einstieg, rief jemand hinter ihm: »Hoch Bismarck.« Das war der Buchbindermeister Bannewitz, und der Kutscher hatte seinen Gaul noch nicht dreimal über den Rücken geschmitzt, als es hinten mit: »Hoch Bismarck!« und »Hurra Bismarck!« losbrach, als wären die Linden noch nicht breit genug und müßten durch Gebrüll erweitert werden. –
Tod wie Tod, und man hatte ja auch schon vor Pistolen gestanden, und auch sonst hatte er einen schon bisweilen auf die Schulter getippt mit allerlei absonderlichen Unfällen und Zufällen, und als Mann sagte man sich, daß der Tod an sich nicht das Ärgste sei. Wer das ist ernst und schwer, dem liebsten Menschen in die Augen zu sehen, wie sie vor Angst und Grauen weit und dunkel werden, und sich zu sagen, was wäre es, wenn die Kugel nicht an der Rippe abgeglitten wäre und du nun still da lägest.
Bismarck hatte es für Johanna recht leicht machen wollen, so auf dem Weg zum Tisch, vor anderen Leuten obenhin, mit einem leichten Kuß auf die Stirn und in gemessener Heiterkeit: »Erschrick nicht, liebes Herz, man hat auf mich geschossen. Aber du siehst, ich bin unverletzt. Nur einen anderen Überrock muß ich mir machen lassen.«
Sie hatte nicht etwa geschrien, nur die Augen hatten sich ihr aufgetan und waren so geblieben, unnatürlich groß, mit Pupillen, die vom lieben Grau nur schmal umreift waren. Zum Essen hatte sie keine Hand gerührt, allem Mahnen nur stumm den Kopf gegengeschüttelt, und man wußte nicht einmal, ob sie hörte, was Bismarck über die Mordgeschichte erzählte. Es war nicht die geringste Verletzung sichtbar, nur eine Rippe schmerzte ein wenig, da war die Kugel wohl angeprallt und abgeglitten. Schon war alles aus dem unmittelbaren Erleben in ruhige Betrachtung erhoben und alles Leidenschaftliche bezwungen und versenkt. Während dieser Mahlzeit wagte sich kein lautes Wort hervor, die Gläser klangen nicht, und die Teller klirrten nicht; denn wo ein Wunder geschehen ist, wird Schweigen zur Andacht. Als sie dann ins Musikzimmer gingen, da fand Johanna das erste Wort. Heiße Finger schlangen sich um die Hand, die vor kurzem die Kehle eines Mörders gewürgt hatte. »Gottes Hand!« flüsterte sie, »nur Gottes Hand … er hat den Streich aufgehalten, er hat die Kugeln gelenkt … Du bist sein Werkzeug, Otto.« Dann starrte sie wieder stumm in diese Welt, in der das Entsetzliche zugelassen wurde, daß jemand auf Otto schoß, und in der sich das Herrliche zutrug, daß um seinetwillen ein Wunder geschah.
Und Bismarcks Hand ließ sie erst, als der König kam.
Alle Anwesenden neigten sich; er schritt geradeswegs auf Bismarck zu, ganz blaß vor Erregung. Fest lagen die Hände der Männer ineinander. »Liebster … Lieber …« stammelte der König. Die übrigen hatten sich langsam auf einen Wink Johannas aus dem Zimmer gezogen; denn es verstand sich, daß der König in diesem Augenblick alles Königliche abzulegen wünschte.
»Wenn man Sie erschossen hatte«, murmelte er, »Bismarck …, wenn man Sie mir erschossen hätte.« Und auf einmal waren seine Arme offen, und Bismarck lag für dreier Herzschläge Dauer an der Brust seines hohen Herrn. Dann löste er sich ab: »Ich kann mir keinen schöneren Tod denken … seit meinem Dienstantritt bin ich dazu bereit, zu allem. Sie wissen es, Majestät, ob auf dem Schlachtfeld, ob auf dem Straßenpflaster … Ich stehe tief in Ihrer Schuld …«
Da stampfte der König mit dem Fuß auf und schwang sich gegen den Flügel zu herum; denn wenn auch der König abgeglitten war, so war der Mann doch verblieben, und dem stand es nicht an, den Schimmer seiner Augen sehen zu lassen.