Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

Der letzte Vortrag beim König dauerte bis tief in die Nacht hinein.

Und dann diese Nacht des 14.Juni, eine Nacht zum Grauwerden und Altern um Jahre.

Der Graf Barral war noch einmal gekommen; Italiens Botschafter, ein schöner, pompöser und bei allem Wortreichtum sehr vorsichtiger Mann. Ob also Preußen wirklich den österreichischen Antrag im Bund von heute als Kriegsfall betrachte, und was es zu tun beabsichtige.

»Wir schlagen los und rennen sie über den Haufen!«

Ein Bismarckwort, eindeutig, ohne Ornamentik, als gehe es nicht um ins Kriegerische geratene allerhöchste Verwicklungen, sondern um eine Kirchtagsrauferei. Es war wirklich lächerlich, dachte der Graf, wie wenig diese preußischen Barbaren es verstanden, große Handlungen durch Worte zu verbrämen und ihre Bedeutung durch Gewinde von prächtigen Redensarten zu erhöhen. Alles kam kahl und nüchtern und ärmlich ans Licht, so daß man sich erst besinnen mußte, daß es nicht um irgendein kleines kaufmännisches Unternehmen ging, sondern um das Wohl und Wehe von Staaten. Aber immerhin war einiger Verlaß auf solche nüchterne Kasernenworte.

Ehe dieses Bündnis abgeschlossen worden war, in dem sich Preußen und Italien zu gegenseitiger Kriegshilfe verpflichteten, hatte man mißtrauisch aneinander herumgetastet.

Und wie, wenn dieser alte schlaue Fuchs Bismarck das heilige Italien nur als Trumpf ausspielt, um den Österreichern Schleswig-Holstein ohne Krieg abzunehmen.

Und wie, hatte Bismarcks Völkerkenntnis geraunt, und wie, wenn diese schlauen Katzelmacher Preußen nur als Trumpf ausspielten, um den Österreichern Venetien ohne Krieg abzuknöpfen.

Einer mußte den Einsatz an Vertrauen schließlich wagen, und Bismarck tat es, indem er sich auf den König Viktor Emanuel verließ, der ein Ehrenmann war, als hätte er auf irgendeiner deutschen Universität beim Landesvater beschworen, stets ein braver Bursch zu sein. Und auch ein wenig darauf, daß er wußte, dem italienischen Volk sei beinahe des Teufels Hinterteil noch lieber als des Österreichers Gesicht.

Nun war es so weit; die preußischen Heeressäulen standen marschbereit, und jetzt konnten sich auch die italienischen Armeen gegen die Weißröcke in Bewegung setzen.

Dann war der italienische Graf wieder in die Nacht gewichen, Bismarck mit sich allein, die Moderateurlampe summte, vor den Fenstern schwoll und schwebte die Juninacht. Die Schwäche kam mit dunkelziehenden Schleiern, Schwäche und Schwindel der letzten Wochen, Ringeltanz feuriger Glühwürmer, die aus dem Gehirn gekrochen waren, Gedankenwürmer … ja, Beinzittern zwang ihn in den Lehnstuhl, die Arme klappten auf den aufgebogenen Seitenstützen hoch und nieder, der Kopf sank tief.

»Ja, ja, ja« … seine Lippen bildeten Worte, Rinnen aus feuerfestem Stoff für den Abfluß seiner unerträglich gewordenen weißglühenden Gedanken. »Der Bund ist hin! Abgestochen am 14. Juni 1866, infolge Antrages auf Bundesexekution gegen Preußen. Österreichs Antrag. Wen haben wir gegen uns: Sachsen, Württemberg, Hannover, Hessen, Nassau … schade … auch Bayern. Neun im ganzen … und nur sechs auf unserer Seite. Haben uns nicht sehr beliebt machen können. Was ist zu tun? So ist der Gasteiner Kitt bald verdorrt und abgesprungen. Nun ist der alte Bund hin!«

Er schob seinen Leib, der in eine schlaffe Lage gerutscht war, mit wiederkehrender Kraft höher im Lehnstuhl. Sein Blick fand wieder die Umgebung, an der Wand gegenüber das große Bild von Schönhausen, ein paar Schattenrisse von alten Freunden: Gustav Scharlach, Motley, Coffin und darüber Kappe und Band mit Rot-Blau-Gold und der Schläger darüber geschrägt, die alte, rostige Klinge, und im Korb, von Motten ein wenig angenagt: Rot-Blau-Gold. Das war die alte Welt, von der Wartburg an bis zum heutigen Tag, viel verpuffte Kraft, verschleudertes Gut, Saat auf steinigem Acker. Und viel jugendliche Herrlichkeit, philosophischer und muskelhafter Überschwang, deutschestes Weltwesen. Ach, wie auf dieser Gotteserde alles durcheinander gewirrt war, Gutes und Schlimmes, frische Luft und Mottenfraß, Förderliches und Hemmendes. Wer konnte sagen, daß er das Richtige zog? War das Volk nicht wie … wie ein Karren, den ein boshafter Zauberer mit Empfindung begabt hat … er spürt jeden Stoß der holprigen Wege, aber er weiß nicht, wohin er fährt.

Oder so: sie hatten zuerst an einem Strang gezogen, beide, und da war es ein gutes Ding gewesen. Dann aber hatte man Preußen vorne und Österreich hinten angeschirrt, und nun war der morsche Bundeskarren aus dem Leim gegangen und sah aus, wie einst das Bismarcksche Korbwägelchen im Jarcheliner Hohlweg nach dem Kampf mit Hermann Schnuchels trojanischem Pferd. Wo war das Können und wo das Müssen in diesen Dingen? Wo war Recht und wo Unrecht? War nicht auf dem Grund eines jeden Staatengebildes ein Bodensatz von Gewalt? Rom hatte als Verbrecherkolonie begonnen und sich durch den Raub der Sabinerinnen höchst peinlich in die Geschichte eingeführt. Ein wahres Glück, daß damals noch nicht das europäische Gleichgewicht erfunden war, sonst hätte es in England und Frankreich eine schöne Entrüstung und Gezeter gegeben. Um des europäischen Gleichgewichtes willen war es nötig, den anderen irgendwie ins Unrecht zu setzen, wenn er auch genau ebensoviel Recht hatte wie man selber. Ging es noch um Schleswig-Holstein? Nein, es ging um die deutsche Frage, um die ganze deutsche Frage. Um noch einmal an Rom zu denken, das alte, gute, feste, republikanische Rom ging daran zugrunde, daß es zwei Konsuln hatte. Preußen hatte nur einen König und das Universum nur einen Gott … Und darum mußte einer von ihnen, Preußen oder Österreich, aus dem künftigen Bunde weichen.

Und wenn das Mißlingen seinem Willen das Rückgrat brach, wenn seine Pläne vom Schicksal davongefegt wurden wie Papierblätter vom Sturm? Stand jetzt nicht wirklich alles auf einer Karte? War er nicht wirklich der Spieler geworden, als den er sich in der Gasteiner Regennacht ausgegeben hatte? Alles mußte auf ihn zurückfallen, und der König, gegen dessen Willen dies alles war, dieser durch seine Überredung zu dem ihm Ungemäßen gelenkte König? Würde diese Freundschaft unter dem Gewicht des Mißlingens zermalmt werden? Verrat an den nun ein halbes Jahrhundert alten Überlieferungen! Blut von Tausenden vergebens gefallener Landeskinder! Elend der Witwen und Waisen! Verkleinerung und Machtlosigkeit und Wiederbeginnen von vorne! Jeder Schatten im Gesicht des Königs ein Vorwurf für den Überbegehrlichen! Jede leise Gewissensregung ein unerträgliches Feuermal für den Urheber!

Plötzlich fühlte Bismarck Kälteschauer in allen Gliedern und Geriesel von Schweiß auf der Stirn. Die Wände drückten, die Lampe roch unerträglich; Bismarck riß einen Mantel aus dem Spind und lief in die Nacht hinaus. Drei Straßen weit ohne Besinnung, dann wußte er, daß er zu Moltke wollte.

Ein tief schlafendes Haus, das schwer wachzuklingeln war. Erst nach anhaltendem Fäustegetrommel wankte ein Vermummter heran, ward aus dem zaghaft aufknarrenden Türspalt über den Haufen gerannt; ein Kammerdiener wollte Zeter schreien, erstarrte mit offenem Mund. Und nun stand Bismarck vor dem Bett, sah das verschrumpfte, gelbliche Gesicht des Generals zwischen Nachtmütze und Bettdecke und streckte die Hand nach der Schulter. Aber er brauchte nicht zu rütteln; denn die Augenlider gingen von selber auf, und die klaren, grauen Augen sahen den Nachtbesuch ohne Staunen.

»Ich habe Sie kommen gehört, Bismarck«, sagte er.

Das sei doch ein wenig verwunderlich, meinte Bismarck, daß ihn der General am Kommen erkannt habe.

»Wer sollte nachts mit einem solchen Getöse bei mir einbrechen als Sie? Was wollen Sie?«

»Eine Frage wegen der Operationen!«

»Warten Sie!«

Zwei dürre Beine mit dunklem Haarwuchs fuhren gleichzeitig unter der Bettdecke vor, die sorgsam nach erprobtem System alarmbereiten Kleider deckten sehr rasch die rücksichtslos enthüllten Blößen. Bismarck war zurückgetreten und hatte sich zum Kopf einer antiken Statue gestellt, die noch aus Moltkes türkischen Zeiten stammte. Und als er eben bei sich dachte, Moltke könne etwa mit den Unterhosen fertig sein, tippte ihm dieser, schon bis oben in den Uniformrock geknöpft, auf den Arm.

»Ich bitte!«

»Können Sie nicht«, begann Bismarck ohne Einleitung, »können Sie nicht die Truppen in Sachsen, Hannover und Hessen schon am 16. einmarschieren lassen, anstatt erst am 17.?«

In Moltkes Augen begann das stille Rechnen. »Warum?« fragte er hinhaltend.

»Wir wollten den Staaten achtundvierzig Stunden Bedenkzeit geben, nicht wahr? Wozu eine so lange Frist? Hannover und Hessen werden nicht anderen Sinnes werden. Und Sachsen ist ja für den Krieg vollkommen gerüstet, jede Stunde Verzögerung ist ein Gewinn für sie und eine Gefahr für uns. Warum sollen wir warten? Wir müssen dreinfahren, daß es ihnen um den Nabel flimmert. Die Überraschung ist unsere beste Waffe.« Und er sprach weiter, als gelte es, Moltke von einer gegenstrebenden Ansicht zu der seinen zu bekehren; von den drei Armeen, die in Böhmen getrennt einfallen sollten, um sich dort zur Schlacht zu vereinigen, von den Stellungen der Truppen an den Grenzen der Mittelstaaten und davon, daß überall nur die größte Eile einen Erfolg verbürge.

Indessen war Moltke mit dem Rechnen fertig geworden, er hob die Hand, und sogleich schwieg Bismarck, denn in diesen Dingen lagen die Entscheidungen ja nicht bei ihm.

»Ja«, sagte der General, »ich glaube, wir können schon am 16. marschieren.«

Aufatmend stand der Ministerpräsident. »Das ist … das ist …«, dehnte er dunkel, »Gott sei's gedankt.« Aus tiefer Brust. Nun brach wieder Schweiß los, auf der Stirn, im Nacken, die Lampe auf dem Kartentisch schwang im Kreis, stechender Schmerz zog im Bein, an dem der russische Tod gefressen hatte, vom Sprunggelenk zum Knie. »Und sind Sie gewiß …?« murmelte er.

Moltke hob die knöchernen Schultern: »Es steht bei Gott. Wer will sich vermessen, den Ausgang vorherzusagen? Wir können nichts anderes tun, als alles nach besten Kräften ins Wirken zu leiten.«

»Sie sehen, daß ich schlafen konnte«, setzte er nach einer Weile hinzu und lächelte. Ja, es war so bei diesem kühlen Uhrwerksmenschen, daß er, je näher es an das Losschlagen kam, desto zuversichtlicher und gleichmütiger wurde und immer mehr Zeit zu gewinnen schien. In unermüdlicher Tag- und Nachtarbeit hatte ihn Bismarck nur um die Wende gesehen, wo es noch ungewiß war, ob es mit Österreich zum Frieden oder zum Krieg gehen werde. Jetzt aber war keine Hast und Eile mehr not, denn die Räder und Rädchen, Walzen, Stifte, Federn und Schrauben, die längst gebosselt, gefeilt und gehämmert waren, kamen nun ganz von selbst, um den großen Mechanismus zusammenzusetzen. Wie ein Zauberkunststück war es, bei dem sich vor den Augen des Zuschauers auf den Wink des Magiers etwas aufzubauen beginnt, ohne daß der Herr des Wunders die Hände zu rühren braucht. Und um das ganze Werk früher in Gang zu setzen, als geplant war, bedurfte es nur eines schärferen Anziehens einer Schraube oder eines Hebels.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie geweckt habe«, sagte Bismarck, angesichts dieser allem Mißgeschick überlegenen Seelenruhe ein wenig verdrießlich über seinen indianerhaften Nachtangriff.

»Wir werden jetzt gleich zum König gehen«, erwiderte Moltke, indem er ein ihm offenbar überflüssig und selbstverständlich scheinendes Bindeglied ausließ.

»Hat der Kronprinz …?« Das Verhalten des Kronprinzen gehörte zu Bismarcks schwersten Kümmernissen, denn Friedrich Wilhelm hatte niemals ein Hehl daraus gemacht, daß ihm diese auf den Bundeszusammenbruch und die österreichische Amputation hintreibende Politik ein Greuel sei.

»Der Kronprinz hat seine Ansicht nicht geändert. Selbstverständlich; denn wenn wir Österreich dahin bringen, daß es uns einen Kriegsvorwand gibt, wird man sich nicht darüber entrüsten können, daß wir ihn endlich bekommen.« Seine Augen zogen sich ein wenig zusammen, und die Blicke gingen nun wie Stichstammen aus einer engeren Öffnung mit um so schärferem Strahl. »Wenn Sie aber etwa meinen, daß der Kronprinz darum die schlesische Armee, die ihm anvertraut ist, schlechter führen wird, so ist das ein Irrtum. Mit den Kriegszielen mag der Kronprinz nicht einverstanden sein, aber seine Pflicht wird er tun; er wird trachten, den Feind zu schlagen, wenn er es auch bedauert, ihn schlagen zu müssen. Denn schließlich ist auch er seinem Kriegsherrn und seinem Gewissen verantwortlich als Soldat.«

Es war ein ganz leise ablehnender Klang in diesem letzten Wort, so, als ob der General es vorziehe, über Soldatendinge nicht weiter viel zu sprechen mit einem, der ins Soldatische vielleicht nicht so ganz hineingewachsen war.

Bismarck aber nahm nichts krumm, er dankte dem General neue Kraftströme, mochte er ihm immerhin die soldatische Krönung des Lebens aberkennen. Er zog mit seinem Lächeln den Zylinderhut: »Kommen Sie zum König, General.«


 << zurück weiter >>