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In der Nacht unterbrach man Bismarck bei der Verfassung des Schreibens, in dem noch einmal Frieden und Krieg abgewogen wurden, durch eine Stallnachricht. Astrologus, das Pferdeungetüm, das ihn in der Schlacht von Königgrätz getragen hatte, war plötzlich erkrankt und schien trotz seiner Herkunft aus dem Riesenland dem Ende alles Pferdelebens unerbittlich verfallen, wie nur je der dämpfigste Droschkengaul.
Bismarck unterdrückte den wütenden Nervenschmerz, der ihm wieder das Bein zernagte, zog einen Gummistrumpf an und hinkte in den Stall. Da war keine Hilfe mehr zu bringen; Astrologus hatte den ungefügen Leib bereits auf das Stroh gestreckt, die Zunge kroch wie ein bläulicher dicker Wurm aus den gelben Zähnen, und eine trübe Haut überzog schon die Augen. Neben dem sterbenden Pferd stehend, wartete Bismarck nachdenklich, bis die eckigen, plötzlich an den Gelenken dick angeschwollenen Beine starr wurden und es sich mit einem letzten tiefen Seufzer ein wenig auf den Rücken wälzte.
Er war gegen Leben und Sterben gleichgültig geworden, sah diesen Untergang nur mit einer Art stumpfer Neugier an und dachte inzwischen unablässig an das Schreiben, das oben auf seinem Tische lag. Als Astrologus tot war, ging er aber doch nicht sogleich wieder an die Arbeit, sondern humpelte auf der Gartenterrasse herum, die sich unterhalb des Schlosses mit breitem Blick über das Land hinschwenkte. Die Bäume ballten Dunkelheit zusammen und drückten sie fest um ihre Stämme, die Nacht trieb Wolkenwölfe über blausilberne Unendlichkeiten.
Der Gummistrumpf preßte mit zähem Zug Muskeln, Adern und Nerven zusammen, indem er so den Schmerz durch einen Gegenschmerz aufhob. »Es schadet mir ganz gewiß«, sagte Bismarck bei sich, »wenn ich nachts so im Freien herumlaufe. Aber darauf kommt's jetzt nicht an. Es stehen andere Dinge auf dem Spiel.«
Er war auf den Teil der Terrasse geraten, aus dem die Felszacken aufwachsen, denen das Schloß zum Teil aufgesetzt ist, sah da den Eingang einer Grotte vor sich, und schob sich, ohne besondere Absicht, um einen Schritt hinein. Auf dem dunkeln Grunde, zwischen Nacht und Nacht, schimmerte fahl und riesengroß ein Pferdeleib. Bismarck erschrak, fühlte sich heran und tastete den Stein ab. Es war ein Pferd, das von einem buckligen Zwerg am Zaum geführt wurde, und dem von irgendeinem der Dietrichsteine in einer Erinnerungslaune diese Muschelgrotte zum Stall gegeben worden war. Pferd und Spaßmacher, der edelste und der erbärmlichste Fürstendiener, waren hier nebeneinander hingestellt, aus dem gleichen Gedächtniswunsch und vielleicht der gleichen Liebe.
Bismarck fand sich seltsam von diesem Auftauchen der Steinbilder angerührt und stieg jetzt ohne Verzug in sein Zimmer hinauf, wo er bis zum Morgen sein Schriftstück vollendete.
Das war denn freilich so, daß der König, als er mit dem Lesen fertig war, Bismarck zornig anblitzte: »Es scheint, Sie wollen mir das Messer an die Kehle setzen!«
Bismarck stand vor seinem Herrn und entlastete den kranken Fuß, indem er sich auf einen Stock stützte. »Es ist keine Drohung, Majestät. Es ist die inständige, flehentliche Bitte, mich zu entlassen, wenn Sie meinen Gründen nicht beipflichten sollten.«
»Also die Kabinettsfrage?«
»Ja, die Kabinettsfrage, Majestät, geknüpft an die Friedensfrage.«
In des Königs Hand knisterten Bismarcks Bogen, als wären sie vom Feuer ergriffen. »Sie zwingen mich also, Frieden zu schließen, jetzt, wo unsere Truppen vielleicht vor den herrlichsten Erfolgen stehen.«
»Der Krieg darf uns nicht Selbstzweck sein. Ich kann eine andere Entscheidung als den Frieden nicht verantworten. Wollen Majestät bedenken, daß alle Verantwortung für die politischen Entschließungen des Hauptquartiers auf mir liegt.«
»Sie denken sehr … sehr … parlamentarisch.«
»Ich bedenke vor allem, daß sich im Osten und Westen gegen uns die Fäuste ballen. Die russische Faust und die französische Faust. Graf Benedetti hat schon Napoleons Forderungen zum Konkurs angemeldet. Jeder Tag Krieg mehr kann uns nur entweder schwächen oder stärken. Schwächt er uns, dann werden die Franzosen um so unverschämter, stärkt er uns, dann werden sie um so neidischer. Im ersten Fall glauben sie, sie könnten, im zweiten denken sie, sie müßten sich hineinmischen. Und worauf diese Einmischung hinausläuft, brauche ich nicht zu sagen. Eine kleine Grenzberichtigung für Frankreich … das linke Rheinufer.«
Je unanfechtbarer Bismarcks Gründe waren, desto mehr geriet der König in Zorn. Er war in der Lage eines Mannes, der sich schwer zu einem Schritt entschlossen hat, nun aber, da er ihn gelungen sieht, allen Einsatz an Bedenken und Gewissenspein und Selbstüberwindung mit Erfolgszinsen herausholen möchte. Eine Weile zitterten Bismarcks Bogen noch in seiner Hand, dann waren die Fäuste plötzlich zu einem Mahlgang geworden, der das Schriftstück erfaßte, zusammenballte, zerrieb, bis es im Bogen gegen den Papierkorb flog.
»Muß denn alles in der Welt nach Ihrem Dickschädel gehen?« schrie er.
Bismarck stand, mit einem traurigen Lächeln, vornübergebeugt und stützte sich auf seinen Stock.
»Ich habe es satt, verstehen Sie, mich von Ihnen gängeln zu lassen. Es wird bald so weit sein, daß ich nicht mehr tun darf, was ich will. Bei Königgrätz haben Sie auch verfügt, wo ich bleiben und wo ich nicht bleiben darf.«
»Weil Majestät sich unvorsichtig den österreichischen Granaten ausgesetzt haben«, sagte Bismarck; »ich mußte wagen, was kein anderer wagen wollte: Majestät an Ihre Pflicht zu erinnern! Die bestand nicht darin, mitten im Granatenregen herumzureiten.«
»Der Teufel hole Ihre Granaten!« Zornrot schlug der König mit der Faust an die Wand. »Recht haben wollen Sie! Mit mir herumkommandieren wollen Sie! Aber man hat recht, Sie sind ein Abenteurer, Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie haben keinen festen Plan. Heute das und morgen jenes. Zuerst wollen Sie den Krieg und hetzen mich hinein. Dann ist es auf einmal genug, und ich soll aufhören, weil es Ihnen so paßt. Sie machen sich nichts daraus, sich mit meiner Gesinnung und meinen Zielen in Widerspruch zu setzen. Man hat recht mit allem, was man …«
Da schlug Bismarck jäh und unbedenklich in des Königs Satz hinein. Auch er war plötzlich zornrot geworden; fest stand er auf beiden Beinen, die Stockstütze war überflüssig geworden, frei pendelte das dicke Bambusrohr in seiner Hand. »Ich bitte Sie, mich zu entlassen!« sagte er, und das war ebensogut ein Kommando, wie nur je eines auf einem Exerzierplatz gegeben worden war.
»Gehen Sie, gehen Sie«, focht der König mit beiden Händen. –
Im königlichen Vorzimmer stand eine dickbauchige Vase, die einer der Dietrichsteine zu Beginn des Jahrhunderts einmal von einer Japanfahrt in kaiserlichen Diensten mitgebracht hatte. Sie war weniger kostbar als durch ihre Größe merkwürdig und zeigte auf ihren wohlgerundeten Seiten eine sehr roh gemalte schlitzäugige Menschheit in Hemd und Hosen, mit allerlei Hantierungen des östlichen Lebens, als Tee-Ernten, Drachensteigenlassen, Bootfahren und Wagenziehen, beschäftigt. Kein Mensch, auch der Professor Anton Strahofer nicht, hatte je gewußt, welchen Zwecken diese porzellanene Tonne zu dienen habe. Man hatte sie für einen nutzlosen Eckensteher, Raumausfüller und Staubfänger gehalten; aber heute erwies es sich, daß nichts auf der Welt so unscheinbar und wertlos ist, daß es nicht durch den Zusammenhang der Dinge plötzlich, wenn auch nur durch Vernichtung des eigenen Seins, zur hohen Bedeutung gelangen könnte.
Denn, eben als Bismarck an dieser Vase vorüberkam, war ihm die Zornlava bis in die letzten Gehirnwindungen gedrungen; sie mußte ihren Abstich haben, wenn sie nicht ihr Gefäß zersprengen sollte. Und plötzlich, blitzschnell im Vorübergehen, hob er seinen Bambusstock und hieb der schlitzäugigen Porzellanmenschheit eine Prim hin, von einer Wucht, mit der er seinerzeit auf dem Göttinger Mensurboden wohl den härtesten Westfalenschädel bis auf die Halsbandage gespalten hatte.
Es gab ein Klirren, als sei eine ganze Porzellanpagode eingestürzt, und das Geschrill drang selbst durch das brennende Dorngebüsch der königlichen Empörtheit und meldete dort, daß nun Bismarck seinerseits geblitzt und gedonnert habe.
Da begann der König in sich hineinzuhorchen und verwunderte sich, wie rasch es still und immer stiller wurde; und nach einer Weile hob er das zusammengeknödelte Friedenstraktätlein vom Boden, glättete es, indem er es über die Kante des Schreibtisches spannte, und fing dann an, mürrisch zu lesen, wobei er den Kopf in die Hand stützte und die Lippen bewegte, als wären sie gezwungen, Bismarcks Worte nachzubilden.
Und wieder nach einer Weile kam jemand herein, der blieb an der Tür stehen und sah lächelnd das Bild des lesenden Königs in sich hinein. Wilhelm fühlte sich von einem Blick umfangen, schaute auf, da klirrte ein wuchtiger Kürassier mit großem blonden Bart auf ihn zu, der Kronprinz. Der war von Eisgrub eingetroffen und nun auf einem Umweg über Bismarck zum König gekommen, gerade zurecht, wie er meinte, um das bismarckisch-königliche Kräfteparallelogramm, das sich ein wenig ins Windschiefe verbogen habe, wieder zurechtzurücken und die resultierende Diagonale zu finden.
Bismarck stehe drüben und messe die Entfernung von diesem Fenster längs des Schloßfelsens bis auf das Hofpflaster, ob diese vier Stockwerke wohl hinreichten, aus einem preußischen Minister von sieben Fuß Länge ein Häuflein Knochengeschlotter und Blutkuchen zu machen.
»Wird wohl nicht …«, brummte der König.
Und es sei ihm deutlich anzumerken, daß er mehr noch als von seinen Nervenschmerzen davon geplagt werde, daß er seinem König habe wehe tun und ihn so heftig erzürnen müssen.
»Hat mir höllisch heiß gemacht«, nickte Wilhelm, und da war es, als fliege dieses Wort aus seinem Munde wie eine erste Friedenstaube über die annoch wilden Wasser. Dann aber schob er ein gelindes Mißtrauen zwischen den Sohn und sich. »Du? Du!? Daß gerade du als Vermittler kommst?«
Friedrich Wilhelm stand am offenen Fenster, hatte den Pallasch vor sich gestemmt, sein Bart wehte ein wenig im Sommerwind zur Seite über die breite Schulter. »Ich bin gegen den Krieg gewesen. Bismarck allein hat ihn zu verantworten vor Europa und der Geschichte. Nun meint er, der Zweck sei erreicht, und wir müßten ein Ende machen. Man darf ihn nicht daran hindern. Ich bin seiner Meinung und bin gekommen, um dies hier zu sagen.«
Da staunte der König seinem Sohn ins tiefe Herz hinein und ergab sich, nach einem längeren Widerstand, der nur dazu da war, um einen königlichen Willen mit Ehren zurückzuziehen.
»Wenn auch du mit Bismarck zusammenhältst«, sagte er am Ende aller Umschweife, »so muß ich wohl in den sauren Apfel beißen«, und schrieb ein paar ingrimmige Verwahrungsworte an den Rand der Bismarckschen Blätter. –
»Bismarck hat heute die große Japanvase zerschlagen«, sagte der Professor Anton Strahofer zu seiner Tochter Thusnelda, und der historische Schauer rann ihm sichtlich durch das Gebein. Thusnelda aber, die ihr großes Erlebnis noch innig und scheu in sich verhielt, sagte sich, daß wohl Weinen und Drein schlagen aus denselben Erschütterungen stammen könnten.
Dann sah man im Laufe des nächsten Tages die beiden Franzosen, den Grafen Benedetti und seinen Sekretär, höchst aufgeregt auf der Gartenterrasse nebeneinander hertanzen und mit den Händen der gallischen Beredsamkeit ihrer Zungen noch nachhelfen.
Dann sah man den österreichischen Botschafter Grafen Karolyi mit dem noch immer schönen Baron Brenner, der nun schon Geheimrat geworden war, und dem General Degenfeld aus den Zimmern des Königs kommen, und das diplomatische Lächeln war diesmal so echt, wie es nur sein kann, wenn es nicht nur um den Mund gemacht wird, sondern aus einem strahlenden Herzen kommt.
Und zuletzt sah man gegen Abend den König und den Kronprinzen ausreiten, und das war für Thusnelda wieder wie in einer Rittergeschichte, und Bismarck war der wuchtigste der Hünen, mit einem Gesicht wie aus Stahl und Leder, und kein Muskel tat ihm mehr weh, so, als sei er wieder in einen ganz anderen und sieghaften Leib hineingefahren.
Und aus alledem, diesen Mienen und Vorgängen, wucherte in Schloß und Stadt ein Gerücht, in dem klangen ferne Friedensglocken, und die schwangen immer lauter, und schließlich war es auch für den verschlossensten Märtyrer des Amtsgeheimnisses nicht mehr nötig, zu verhehlen, daß die Vorverhandlungen des Friedens unterzeichnet seien.
Am Abend dieses Tages trat Bismarck in sein Schlafzimmer und war von einer Wolke von Rosenduft umhüllt. Da stand an seinem Bett ein großer Strauß der wunderschönsten Rosen, die im Schloßgarten von einem alten Gärtner bulldoggenhaft auch gegen die Preußen gehütet wurden.
Aber es war trotz eingehenden und strengen Befragens der Dienerschaft nicht herauszubringen, wie die Blumen in das Schlafzimmer gekommen wären, und so blieb Bismarck dieser erste Friedensgruß ein liebes Rätsel.