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16

Keudell turnierte gegen das schwere Tor des Hauses Wilhelmstraße 76 an, dem man immer erst seines Leibes ganze Erdenplumpheit an die Klinke hängen mußte, um es zu öffnen.

Wie er freilich einen schmalen Spalt geöffnet hatte, da kam schon der Novemberwind die Wilhelmstraße hinter ihm drein hergelaufen, fegte ihn wie ein dürres Blättlein in den Flur, riß ihm die Tür aus der Hand und warf sie wüst johlend ins Schloß, daß es dem Pförtner Schellenberg in seiner Zelle durch Mark und Bein ging. Er ließ die Zeitung fallen, packte einen Schlüssel, wie der Indianer im Augenblick eines Überfalles unverzüglich nach der Streitaxt greift, und stürmte in den gläsernen Vorbau, von dem aus er tagsüber alles Kommen und Gehen im Ministerium des Äußern beschaute und prüfte. Da er aber den Ministerialrat Keudell erkannte, der im Hausflur eben wieder zu sich zu kommen begann, mußte er seinen Pförtnerzorn eiligst klein zusammenlegen und die Mütze ziehen, und konnte durch ein Gemurmel über heftigen Zug nur die meteorologische Ungezogenheit verantwortlich machen.

Keudell stieg die Treppe zu Bismarcks Wohnung hinan, eine einzelne Gasflamme summte in einer Art Rasierschale; das war wie ein unwilliges Zischeln, und von einer Stufe zur andern überzeugte er sich mehr davon, daß es niemandem andern gelten könne als ihm selbst und seinem wohlgemeinten Jungenstreich. Als er vor der hohen weißen Tür stand, war ihm sogar nach Umkehren zumute, aber Engel enthob ihn der Unentschlossenheit; ein Auge blickte überraschend durch das durchbrochene Messingfensterchen, dann ging die Tür auf, und schon streckte Engel die Hände nach Mantel und Hut.

Es war gut, daß Bismarck nicht im Empfangszimmer war, so konnte Keudell doch über Herzklopfen und Atemnot hinwegkommen. Er hatte sich kaum vor der Hausfrau und Frau von Arnim verneigt, da hingen ihm schon die Jungens an den Falten und wollten sich jeder rechtgeben lassen. Bill hatte in irgendeiner Zeitschrift gelesen, daß im vorigen Jahr bei einer Ausstellung im Londoner Kristallpalast ein Stahlblock von zwanzigtausend Kilogramm zu sehen gewesen sei; zwan–zig–tausend Kilogramm, sagte er, als habe dieses Weltwunder einen Anspruch darauf, durch sein Gewicht die Silben breitwalzen zu dürfen.

»Is nich wahr! So'n Frosch!« schrie Herbert, wobei mit dem Frosch nicht etwa der Stahlblock, sondern der Bruder gemeint war, dem er mit seiner dreijährigen Überlegenheit allzeit gern die Daumen aufs Auge setzte.

»Is doch wahr!« behauptete der Kleinere steifnackig, Bekennertrotz in dem hübschen Bubengesicht. »Is wahr! Und is noch dazu 'n deutscher Stahlblock.«

»Na, wer soll ihn denn gemacht haben?« fragte Keudell als vorsichtiger Diplomat.

»Derselbe Mann, der auch die Kanonen macht!« Oh, Bill war seiner Sache sicher.

»Alfred Krupp«, sagte der junge Eisendecher, indem er eine Teetasse aus der Hand Johannas nahm. Er reckte beim Sprechen immer den Hals ein wenig aus dem Kragen, wie ein junger Hahn, der das Krähen noch nicht ganz sicher weg hat.

»Wer ist nun das wieder?« fragte Malwine, indem sie ein drollig verzweifeltes Jungmädelgesicht machte, als sei ihr die Frage von einem übelwollenden Lehrer gestellt. Dieses Gesicht stand noch immer im Einklang mit den frischen Augen und dem reichen Haar, das ihre nordische Schönheit wie ein Versprechen unveränderter Dauer segnete. Niemand hätte ihr die zahlreichen Geburten angesehen, die für sie immer Lebensgefahren gewesen waren und sie mit nachfolgender Krankheit so herunterbrachten, daß nur ein Lebenswille gleich dem ihren sich aus ihnen zu erheben vermochte.

»Krupp! Krupp!« sagte Moritz von Blanckenburg recht geringschätzig.

Malwines Gatte war gerechter: »Kanonenrohre aus Gußstahl … das ist eine Erfindung, für die man ihm dankbar sein kann.«

»Die Gußstahlreifen ohne Schweißung … der Bessemer-Stahl … das Martin-Siemens-Verfahren«, ergänzte der junge Eisendecher nach der friedlichen Seite hin und wurde ein wenig atemlos dabei, wie immer, wenn er an diese Ungeheuerlichkeiten dachte, an diese glühenden, sprühenden Öfen, an die Bessemer-Birnen mit ihrem Inhalt von Lava, die sich drehen und wenden ließen, wirklich nicht anders, als hingen sie harmlos an irgendeinem Obstbaumzweig. Und Bill und Herbert machten große Augen bei diesen Namen, die sie in eine Zyklopenwerkstatt zauberten, in der es noch ganz anders zuging als in den homerischen und virgilischen Götterschmieden.

»Ja, ja«, nickte Frau Johanna zu Malwine herüber, »das sind nun unsere jungen Leute. Wie war's bei uns? Wir haben uns an Jean Paul gehalten und an Byron und Chamisso, und alles Gute und Köstliche haben wir in unsere Tagebücher eingetragen, wie Bienen den Honig. Die jungen Leute von heute werden rot, wenn sie an Elektromagnetismus denken und an Hochöfen. Die Welt stellt sich immer mehr aufs Praktische. Es soll mich nicht wundern, wenn lauter Ingenieure und Chemiker aus ihnen werden.«

Mit weichen, leisen Tritten ging Mariechen zwischen den Gästen hm und hob ein Tablett mit kleinen Butterbroten vor jeden, so anmutig und mit so persönlicher Bitte, daß man nehmen mußte, und wenn man schon bis an den Rand vollgestopft gewesen wäre. In ihrem schlichten, schwarzen Kleidchen, das die Trauer um die im September gestorbene Großmutter bekundete, war sie ihrer schlanken, zarten Mutter fast schwesterlich angeglichen. Nur war alles, was bei Johanna als weicher Schwung und reife Erfahrung grüßte, bei der Fünfzehnjährigen noch nicht aus dem Unebenen und Eckigen gelöst.

Blanckenburg schlürfte den Tee in eine struppige Bartwildnis. »Kanonenrohre … Kanonen … das ist jedenfalls die Hauptsache …« Er war nach dem Tode seiner Frau in die Kümmernis versunken gewesen wie in einen Sumpf und wäre mit Haut und Haaren darin untergegangen, wenn seine Gläubiger ihm ein Verschwinden vom Schauplatz gegönnt hätten. Aber sie stellten am Ufer der Zurückbleibenden ein solches Wehklagen und Händeringen an, daß sich Moritz plötzlich besann, es gehe nicht an, ein solches unwürdiges Leichengefolge zu haben. Da hatte er sich münchhausenisch selbst aus dem Trauersumpf emporgerückt und sich wieder ins Leben geworfen, mit solcher Wucht, als sei ihm wirklich an den Zielen sonderlich gelegen, die er zu haben vorgab. Und da es der Welt offenbar gleichgültig zu sein scheint, ob eine Tätigkeit um ihrer selbst willen oder als seelenärztliche Kür unternommen wird, wurde ihm sein zähes Ackern und Ringen gesegnet. Von den Gläubigern trollte sich einer nach dem anderen befriedigt von dannen, im politischen Leben riß er eine Führerschaft an sich, die ihn sogleich in jede Bresche springen ließ, wo die Demokraten gegen die Konservativen hätten den Sturm ansetzen können. Und schließlich fand er sich von seinen Freunden, den Bismarcks voran, sogar in eine zweite Ehe geschoben, die seine junggesellenhafte Seelenöde wieder mit spätsommerlichem Gerank umwucherte. Es war kein Hyazinthen- und Nachtigallengarten mehr, wie zu Maries Zeiten, aber immerhin ein behagliches Nutzgärtlein mit allerlei fürsorglichem Gesteck und Beeten, in denen Samen mancherlei Art für das Alter gepflanzt war. Und äußerlich war ihm darüber ein sehr grimmig-verwogener Heckenbart gewachsen, so recht als ein Abbild des stacheligen Zaunes, den er um sein letztes Stückchen Lebensland gezogen hatte.

Arnim sann der Blanckenburgschen Kanonensentenz nach. Kein Talent, aber eine stramme Gesinnung, trug Moritz die Bismarcksche Präge jeden Wortes ungescheut zur Schau. »Ja … Kanonen …«, sagte Oskar nachdenklich, »wir werden sie wohl bald gegen die Dänen brauchen können.«

Johanna horchte hoch auf. »Dänen … was ist denn nun wieder dort los?« Arnim lächelte nachsichtig: »Nanne sitzt beim Topf und weiß nicht, was gekocht wird.«

»Es ist etwas faul im Staate Dänemark«, sagte Moritz mit hamletischer Gedankenschwere, »und das faule Ende heißt Schleswig-Holstein.«

Damit war Keudell arg an seine Verzagtheit gerührt, und er schickte einen Blick in das anstoßende dunkle Kabinett, jenseits dessen er Bismarck an seinem Arbeitstisch wußte.

»Ach, ich weiß ja von alledem nichts«, sagte Johanna ohne jede Befangenheit; »Otto ist froh, wenn er einen Menschen hat, mit dem er nicht immer gleich in die politische Tretmühle muß. Sie setzen ihm sonst genug zu, und ich habe ihn kaum ein paar Minuten des Tags für mich.«

Moritz stellte eine große Handbewegung Bismarckscher Herkunft in die Luft. »Nun, es ist einfach genug, Schleswig-Holstein ist deutsches Land, das können wir nicht den Dänen lassen.«

»Schleswig-Holstein, meerumschlungen«, summte Arnim.

Aber Blanckenburg mußte die Fülle seiner politischen Gesichte entladen; er konnte es sich nicht versagen, sich und anderen zu beweisen, wie er alle Zeitereignisse in klarem Verstände zu umspannen und begreifen vermochte. Da sei nun eben dieses Schleswig-Holstein – nicht wahr! – also ganz überwiegend deutsches Land, durch das Londoner Protokoll von 1852 freilich Dänemark zugesprochen … aaaaber unter der Bedingung, daß die schleswig-holsteinische Art und Eigenart unangetastet bleibe. Und was hatte Dänemark getan? Eine Verfassung erlassen, in der alle Sonderrechte der Herzogtümer weggewischt waren, eine dänische Gesamtverfassung, die sich den Henker um das Londoner Protokoll kümmerte und deutsches Land einfach in die Tasche steckte, daß auch nicht ein Zipfelchen mehr heraussah. Sollte also Anno 48 das rote Blut der Kieler Studenten und Turner ganz umsonst geflossen sein und der Deutsche Bund trotz allen Gebrumms nach der dänischen Pfeife tanzen müssen? Das habe man sich in Berlin und in Wien doch nicht bieten lassen können, und so habe man denn einen recht deutlichen Merks nach Kopenhagen geschickt. Daraufhin habe man dort wohl etwas zurückgezuckt, indem man zwar eine neue Verfassung entworfen und so getan, als ob man den Herzogtümern ihre Rechte und Selbständigkeit nicht weiter zerkrümeln wolle, im Grunde aber sei es gehüpft wie gesprungen gewesen und alles beim alten geblieben. Nun müsse man doch um des Ansehens willen etwas gegen die dänischen Strauchritter unternehmen, sonst käme noch der oder jener, und jeder glaube, er könne bei guter Gelegenheit auch so ein Endchen und Eckchen Deutschlands heruntersäbeln.

Nachdem Moritz solchergestalt das Ei aus der Schale geholt hatte, griff er nach einem schäumenden Glas Bier, das in Gesellschaft einer ganzen Schar von Kameraden von Marie auf einem kleinen laufenden Tischchen herangerollt worden war, und seihte es durch den großen Bart in die Kehle. Ganz hinterwäldlerisch-urgermanisch sah er dabei aus, wie ein Skalde beim Mettrunk, und daß ihm nachher der Schaum in großen Fetzen vor dem Munde flockte, machte ihn nur noch verwegener.

»Und Österreich marschiert mit Preußen?« verwunderte sich Johanna. Das war freilich der Kern der ganzen Sache, und Arnim nickte der Scharfsichtigen wohlwollend zu. Ja – Österreich marschierte mit Preußen, vielleicht, weil es Preußen nicht allein hantieren lassen mochte oder aus welchem Grunde immer; es ging mit, und es würde auch noch weiter mitgehen, selbst wenn es zum Kriege kommen sollte. So könne die Welt noch einmal das Schauspiel erleben, daß die Preußen mit den Weißröcken Schulter an Schulter kämpften. Und das sei Bismarcks Verdienst – Oskar verbeugte sich leicht und elegant vor Johanna, als sei ihr ein Anteil daran zuzuschreiben –, denn wenn Preußen allein gehandelt hätte, so würde sich wohl rings bei allen Scheelsehern in Europa ein grimmiges Getöse erheben, daß Preußen nicht des Bundes Sache, sondern seine eigene betreibe.

Das Bierwägelchen war zu Keudell weitergerollt, und der versenkte seinen Harm in einem verzweiflungsvoll großen Schluck. Er hatte politisches Herzklopfen; denn er hatte seine Finger ganz ungebeten in den schleswig-holsteinischen Handel gesteckt, und es kam ihm jetzt ganz so vor, als zögen sich bereits die Brandblasen auf seiner Haut zusammen.

Blanckenburg aber begehrte in Vasallentreue auf. Es sei wahrlich genug an dem Getöse, das im eigenen Lande vollführt werde. Eine Sünde und Schande, wie die Herren Abgeordneten sich gebärdeten und Bismarck Prügel vor die Füße schleuderten. Er müsse jeden Schritt erst erkämpfen und stehe stündlich vor der Nötigung, was nicht im guten geschehe, mit Gewalt zu erzwingen.

»Ach was … die … die!« eiferte Johanna zornrot. Sie kam den Feinden auf keinen Namen, und es war zu sehen, daß der bloße Gedanke an sie die Sanftmut ihres Herzens mit einmal hinwegblies und alles Streitbare ihres Hinterpommernblutes zusammenballte.

»Die Schwefelbande!« ereiferte sich Moritz; »da reden sie und reden. Das können sie. Vom heiligen deutschen Recht und heiligen deutschen Boden. Aber wenn es zum Handeln kommt, da klemmen sie die Schwänze ein. Als ob die Kopenhagener um die schönste Professorenrede auch nur eine Schaufel Erde hergeben würden. Und Bismarck, der weiß, daß Schleswig-Holstein nicht mit dem Maul, sondern nur mit dem Bajonett befreit werden kann, ihm verweigern sie das Geld, ohne das man keinen Schuß abgeben kann.«

Malwine begann sich zu langweilen; sie kannte Moritz und wußte, daß es geraume Zeit dauerte, ehe er ablief, wenn er einmal aufgezogen war. So holte sie sich Keudell heran und begann, ihn nach musikalischen Dingen zu befragen, ob er Verdis neueste Oper »Traviata« schon gehört habe, die man gegenwärtig im Opernhaus so hervorragend spiele.

Keudell aber hörte nur mit halbem Ohr auf ihr Geplauder und gab wackelige Antworten; denn er war ganz auf das hingespannt, was nebenan gesprochen wurde.

»Man muß auf den Krieg gefaßt sein«, hörte er Moritz sagen, »da können sich Virchow und Aßmann auf den Kopf stellen. Nur mit waffenmäßiger Großmachtpolitik können wir etwas erreichen.« Das war sichtlich ein Wort aus der Bismarckschen Rüstkammer; denn es stand mit gespreizten Beinen und eisernem Gesicht auffällig zwischen allen andern.

Und sogleich, als habe es Johanna gleichfalls erkannt, sagte sie: »Otto weiß, was er zu tun hat.« Keudell sah sich um, sah die Bekennerglut auf ihrem Gesicht und die schwärmerische Zuversicht ihrer Liebe. In einer inbrünstigen Gebärde hatte sie die Hände über der Brust zusammengezogen; so mochte sie als Mädchen in unbedingter Hingabe und Gläubigkeit gesprochen haben: was Gott tut, das ist wohlgetan.

Bill und Herbert kamen und reichten die Hand, ihre Schlafenszeit war da. »Geht zu Bett, Jungens«, murmelte Johanna und folgte ihnen mit mütterlichem Blick. Marie durfte noch ein halbes Stündchen länger bleiben und schmeichelte sich an die geliebte Tante heran, die in einem Stoß Noten auf dem Klavier blätterte.

»Er findet heute wieder kein Ende«, sagte Johanna seufzend. Sie schaute nach dem Kabinett, das wie ein Würfel Dunkelheit zwischen diesem Raum und dem Arbeitszimmer lag. Fragend wandte sie sich an Keudell: »Soll ich ihn wegholen …?«

Keudell zuckte die Achseln; es war im voraus zu sehen, wie Bismarck den Arbeitsstörer anließ.

»Ach, ich habe solche Sorgen um ihn«, sagte sie beklommen; »er wird sich noch zugrunde richten. Von zehn Uhr morgens … bis ein Uhr nachts …, da müssen die Nerven kaputt gehen, und wenn sie so stark wären wie Schiffstaue.«

»Er ist fürchterlich reizbar …«, bestätigte Arnim; »unlängst hat er mich angeblasen … ich weiß gar nicht mehr warum … aber es war irgendeine Kleinigkeit …«

Johanna nickte bekümmert auf eine Stickerei herab, die sie aus einem Winkel des Sofas hervorgezogen hatte: »Nichts macht ihm Freude … seine Fuchsstute steht im Stall, nicht einmal eine Stunde Reiten gönnt er sich. Ich kenne ihn manchmal fast gar nicht mehr … er ist ganz aus dem Gleichgewicht gebracht.«

»Kein Wunder … Schwefelbande!« brummte Moritz.

»Es geht ihm näher, als er sich merken läßt. Manchmal kommen aus irgendeinem Provinzwinkel Adressen, Lorbeerkränze, Geschenke … an der Freude darüber kann ich erst ermessen, wie ihm die Anerkennung fehlt. Aber sonst sind alle gegen ihn. Er steht fest und tut, als rühre das nicht an ihn … aber es frißt ihm schon bös am Herzen. Darüber wird er dann gereizt und brummig. Und obzwar er gerade jetzt Freundschaft und Vertrauen braucht, verscheucht er durch seine üble Laune die letzten Getreuen …« Sie schaute von der Arbeit auf, versuchte ängstlich in den Augen der Männer zu lesen, ob vielleicht auch da schon der trübe Schatten stand. »Man darf ihm das nicht so übel anrechnen …« Das war eine Werbung für den Geliebten, eine zaghafte Bitte.

»Hm!« machte Moritz gerührt.

»Spielen Sie uns doch etwas vor, Keudell«, sagte Malwine, indem sie langsam den Deckel von den Tasten des Flügels hob.

Keudells Augen fragten bei Johanna an.

»Ja, spielen Sie nur«, sagte sie, »es stört ihn nicht. Er hat es sogar sehr gern, wenn man spielt. Er meint, es rege ihn während der Arbeit an.«

Beethoven lag, von Malwines schlanken Fingern aufgeschlagen da. Wenn Keudell jetzt zu spielen begann, dann wußte Bismarck drüben, daß er da war, und so entschied es sich in der nächsten Viertelstunde über Sturm oder Sonnenschein. Nach einem kleinen Zögern schritt er tapfer auf den Flügel zu, sah einen Augenblick lang die Notenzeilen wild über das Blatt laufen. Mit einem festen Griff riß er die Herrschaft an sich und begann in seiner kühnen Art den ersten Satz der großen f-moll-Sonate.

Plötzlich stand Bismarck in der Türöffnung des dunkeln Kabinettes.

Keudell sah nicht ihn selbst, aber er hatte neben dem rechten Rand des Notenblattes Johanna vor sich, und wie sie sich nun halb vom Sitz hob und sich mit einem tief-sonnigen Lächeln dem magnetischen Zug überließ, der ihres Leibes eigenster Wille war, da wußte Keudell, daß Bismarck eingetreten sei.

Er hörte sogleich zu spielen auf und ließ die Hände sinken.

»Kommen Sie doch einen Augenblick zu mir«, sagte Bismarcks ruhige Stimme.

Gehorsam folgte er seinem Vorgesetzten durch den dunkeln Raum, wild stieß ihm das Herz wie vor einer feindlichen Pistole. Nüchternes, unerbittliches, gelbes Licht breitete viele beschriebene Blätter auf dem Schreibtisch hin, es war sozusagen eine besondere Art von Licht, die aus der großen Moderateurlampe rann, hellgewordene Vernunft, Geistesklarheit, schattenlose Denkfrische.

Unter einem umfangreichen Aktenstück zog sich ein Zipfel eines blauen Briefbogens vor. Keudell hatte Bismarcks breiten Rücken vor sich, die schlanken Hände suchten in den Akten. »Ich frage mich«, sagte Bismarck, »… ich frage mich vergebens, ob ich mir … vielleicht … in einem Anfall von Geistesabwesenheit Ihren Rat erbeten habe.«

Das sah freilich nicht nach gutem Wetter und Sonnenlaune aus, sondern barg Blitz und Donner. Keudells Gehirn lag gelähmt in seiner Schädelschale.

»Sagen Sie …«, fuhr Bismarck fort, »welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten? Was ist Ihnen eingefallen, mir einen Brief zu schreiben …? Was für eine Antwort soll ich Ihnen geben …?«

Keudells Blicke arbeiteten noch immer an Bismarcks Rücken. Viel unheimlicher und drohender war es, Bismarcks Gesicht nicht zu sehen, als wenn er dem Ungeratenen in flammender Majestät entgegengetreten wäre und ihn mit Loderaugen versengt hätte. Erdrückend war diese ungefüge, bergesschwere Körpermasse, wie ein Block auf steilem Hang, der im unsichersten Gleichgewicht auf einer schmalen Kante schwankt. Alles war verloren, Keudell gab sich preis.

»Ich … bitte … mich zu entlassen!« sagte er, von kaltem Schweiß überronnen.

»Ach was, entlassen …«, sagte Bismarck leise, aber mit schneidender Bitterkeit, »entlassen …? Hinauswerfen würde ich Sie … wenn Sie nicht – Keudell wären.«

Alle Freundschaft, alle Liebe und Güte langer Jahre, alles Verstehen und Hingeben in gemeinsamen Sternenträumen musikalischen Erlebens lagen auf einmal wie ein Meer von Wehmut in Keudells Seele. Ein dunkles, trübes Meer, das leise an- und abschwoll und eine wunderlich klare Stimme hatte. Aus dem Grau bildeten sich Gestalten, Beethoven, Schubert, Chopin, Bismarcks Lieblinge, die machten traurige Gesichter, als hätte sich Keudell durch einen dummen Brief auch ihrer unwürdig gezeigt.

Plötzlich brach die dünne Stütze des drohenden Blockes, polternd sprang er über den Hang. Bismarck hatte sich umgedreht und stand mit einem Schritt vor Keudell, als wolle er ihn am Kragen fassen. »Wer hat Sie zu diesem Brief angestiftet?«

Keudell rang unter dem glühenden Anhauch des Sturmes nach Luft, stotterte: »Mi … mich? Angestiftet? Ich habe … aus … mi … mir selbst … in bester … Absicht …«

»Natürlich … die beste Absicht … die gute Meinung … die habt ihr alle. Und vor lauter guten Meinungen und besten Absichten wird mir das Leben sauer, und ich bringe nichts vorwärts. Drei Viertel meiner Kraft muß ich dransetzen, um eure guten Absichten wegzuräumen.«

Keudell war ein tapferer Ostpreuße, und sein Herz hatte bei mehr als einer Gelegenheit ein tüchtiges Beispiel gegeben, wie man zupackt und sich nicht fürchtet. Jetzt aber war sein Mut dahin, irgendwo unter den Schuhsohlen im Abgrund des Grauens versunken. Das kam aber weniger davon, weil Bismarck etwa noch erschreckend und gewalttätig anzusehen gewesen wäre, sondern weil im Gegenteil die Spannung aus seinen Zügen von einem Augenblick zum andern mehr wich und ein Welken und Verfallen eintrat, als durchfliege dieser Mann vom Beginn eines Satzes zu seinem Ende eine lange Reihe verzehrender Jahre.

»Alle … alle … auch die Nächsten«, murmelte er, »… auch in meinem Haus. Sie haben mir eine Kugel in die Brust geschossen, Keudell.«

Es war klar, daß nicht die Anmaßung eines Untergebenen solchen Schmerz hervorrufen konnte, sondern nur der Verrat eines Freundes. Keudell hatte die ganze Brust voll Schluchzen, der Mund brannte ihm von einem zurückgepreßten Stöhnen.

»Sie schreiben von der Bewegung der Geister und von dem herrlichen Aufflammen des deutschen Gedankens in der dänischen Sache. Sie beschwören mich, diese Gelegenheit wahrzunehmen, als der Held Deutschlands zu handeln und die verlorenen Neigungen wiederzugewinnen. Durch selbstloses Handeln im Dienst eines Ideals! Ich soll die Herzogtümer vom dänischen Joch befreien und den Herzog von Augustenburg wieder einsetzen, dessen Vater die Dänen dazumal hinausgewimmelt haben. Ach, das sind die Ratschläge, die mir die Kollegen geben und die Abgeordneten und die Zeitungen und die öffentliche Meinung und ganz Deutschland. Das sind die Phrasen, die mich tagtäglich vom Morgen bis zum Abend umschwirren. Wenn ich zum Frühstückstisch komme, dann liegt sicher neben der Kaffeetasse ein Artikel über die Rechte des Herzogs Friedrich von Augustenburg, und wenn ich nachts zu Bett gehe, dann fällt mein letzter Blick auf eine Warnung, ich möge mich nur ja nicht unterstehen, die dänische Sache anders als vom idealen Standpunkt aus zu sehen und etwa mehr an Preußen als an die immanente Gerechtigkeit der Weltgeschichte zu denken.«

Bismarck war einen Schritt von Keudell zurückgetreten, sprach ruhig und fließend, aber es war, als käme seine Stimme aus tiefen Finsternissen. Er begann hin und her zu gehen, und Keudells Blick lief immer hinter ihm drein.

»Ideale! Ideale! Ich weiß nicht, ob ich ein Ideal habe, ich bin vorsichtig mit so hohen Namen. Schließlich sind eure Ideale nur eine Art von Brockengespenst, eure eigenen Schatten im Nebel, ins Ungeheuerliche verzerrt und vergrößert, so daß ihr sie für Riesen haltet. Wenn ich aber ein Ideal haben sollte, so ist es jedenfalls nicht das euere. Es ist ein Ziel, aber das sehe ich klar und unverrückbar, ohne eueren Nimbus. Wenn wir mit den Dänen Krieg führen, so führen wir ihn nicht für den Bund und für den Augustenburger, sondern für uns selbst. Sollen die preußischen Soldaten ihr Blut vergießen, damit dem Bund noch das schleswig-holsteinische Lämmerschwänzchen anwächst? Sollen wir den Augustenburger einsetzen, ein Herrlein mehr zu den andern, ein Stimmlein mehr im Taxischen Palais, das sich gelegentlich mit den anderen Mittelstaaten vereinigt und gegen Preußen erhebt …?«

Er stand im tiefen Schatten, nahe der Tür, selbst eine ins Ungeheuerliche vergrößerte Gestalt, wie das Brockengespenst, von dem er gesprochen hatte.

»Wenn Preußen schon seine Hand ausstreckt, so darf es sie auch nicht leer zurückziehen. Die Herzogtümer müssen preußische Provinzen werden. Ich habe dem König keinen Zweifel darüber gelassen, und … und …«, Lachen stieß über seine Lippen, »er hat mich für – betrunken gehalten, als ich das erstemal davon sprach. Jetzt beschäftigt er sich schon mit dem Gedanken, quält sich nur mit Bedenken, ob er ein Recht auf sie habe oder nicht. Und das Londoner Protokoll geht ihm im Kopf herum. Als ob Moral und Gerechtigkeit ein Maßstab für europäische Traktate wären!«

Der schwerste Druck war von Keudell genommen, Bismarck sprach sachlich, der Schwerpunkt war vom Herzen ins Hirn verlegt. »Und Österreich?« fragte er schüchtern.

»Mit Österreich wird sich ein Vernehmen finden«, antwortete Bismarck ruhig.

Er kam wieder an Keudell vorbei, durch die Schreibtischhelle, gegen das gelbverhangene Fenster hin. »Aber Sie … Sie sollten mich doch kennen, Keudell. Wie lange ist das doch her … damals bei Kisting … es können zwanzig Jahre sein … meine Frau war damals noch meine Braut. Zwanzig Jahre … achtzehn Jahre sehen Sie mir schon zu. Ich weiß es noch ganz genau … Moritz war da und seine arme Frau … und Johanna hatte Sie eingeladen, daß Sie uns etwas vorspielen sollten … Sie spielten die f-moIl-Sonate … wie heute! Sie … Sie hätten wissen müssen, daß ich diesen Weg nicht eingeschlagen habe, ohne mich zu vergewissern, daß ich ihn vor Gott verantworten kann. Sie hätten mich durch Ihren Brief nicht wieder verwirren dürfen.«

Seine Hände sanken auf Keudells Schultern, rüttelten ihn ein wenig. »Achtzehn Jahre, Keudell!«

Ach, da war der Hals wieder ganz und gar zugeschnürt, das Herz hämmerte verzweiflungsvoll. »Wie oft haben sich unsere Wege gekreuzt … und nun habe ich Sie ganz an mich gezogen. Einen Menschen … einen, der mich ganz versteht! Nicht bloß mit dem Herzen, sondern der meine Wege und Züge zu deuten weiß, dem ich nicht das neue Tor bin, vor dem er glotzend stehenbleibt, und auch nicht der Eckstein, wo er das Hinterbein heben kann. Sehen Sie … unser Gesandter in Paris, dieser Herr Goltz, wochenblättlerischen Andenkens, hält mir Widerpart, schreibt dem König lange Briefe, in denen er meine Politik anschwärzt und dunkle Ahnungen ausstreut. In den Ministerien sitzen fast lauter liberale und demokratische Beamte. Itzenplitz kann sich vor ihnen kaum retten, und wenn Bodelschwingh redet, so ist er nur ein großer Trichter, in den irgendeiner seiner Herren Räte hineintutet. Ich lasse sie alle reden und maulen und lasse mir von den Abgeordneten und Zeitungen Schandtaten ansinnen …«

Sprach Bismarck noch zu Keudell, war es nicht vielmehr ein Selbstgespräch, in dem ihm die Bitterkeit seines Leides von den Lippen floß? »Glauben Sie etwa auch, daß es leicht ist, von allen Menschen anzunehmen, sie seien Schwachköpfe oder Böswillige? Wieviel leichter ist es, sich in dem Glauben an die allgemeine Güte der Menschen und an den guten Willen zu friedlichem Verstehen und Verständigen zu sonnen. Aber dieser Glaube, der schon für den einzelnen zum Verderben werden kann, ist für ein Staatswesen die Wurzel alles Übels. Es ist traurig, sich immer und allezeit vor Augen halten zu müssen, daß … so wertvoll der einzelne Mensch sein mag … in der Masse zumeist nicht der Geist des Guten, sondern der des Bösen siegt. Es ist die Pflicht des Staatsmannes, das zu wissen und ihm zu begegnen. Das ist unser eisernstes Muß. Nicht ich treibe es so – sondern es treibt mich. Wenn wir Preußen mit dem allgemeinen Wohlwollen und der guten Gesinnung und der Gerechtigkeit der anderen Nationen rechnen wollten, wie es unsere Herren Universitätsprofessoren sich ausmalen – glauben Sie mir, Keudell, in zehn Jahren wäre Preußen von der Staatentafel gelöscht.«

Sprach es sich nicht in den Kanzleien und auf den Fluren der Ministerien herum, Bismarck sei schwer erkrankt und werde nicht mehr lange gegen den Ansturm auf seine Nerven standhalten können? Fast sah es so aus, unstet flogen die Augen, unter der gelben, fahlen Haut des Gesichtes sprang bald hier und da ein einzelner Muskel empor, schnellte im Krampf zusammen und dehnte sich dann wieder schlaff ins Gewebe zurück. Die Stirn stand unschön und unverhältnismäßig schwer über den grauen Augenhöhlen, wölbte sich zwischen den eingefallenen Schläfen vor.

»Und nun kommt dieser Brief … von Ihnen«, sagte Bismarck traurig, »ein Geschoß aus dem Arsenal meiner Feinde …«

Da mußte Keudell die Arme von sich breiten, der Kopf sank ihm haltlos auf die Brust. »Verzeihen Sie mir«, stammelte er, »verzeihen Sie, das hab' ich nicht gewußt … geben Sie mir den Brief zurück …« Ein Schatten glitt weg und wieder hin, der blaue Bogen knisterte in Keudells Hand hinein.

»Vorbei … aus … abgetan! Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte Bismarck, »es soll nicht gewesen sein. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, so kommen Sie … wir wollen darüber vernünftig sprechen … aber keine solchen Brandpfeile mehr in mein Haus … Und jetzt gehen Sie und spielen Sie drüben weiter. Ich komme gleich nach.«

Die Welt hatte wieder einen Sinn, die Minuten stürzten nicht mehr dröhnend in Abgründe, dieser fürchterliche Schmerz in der linken Seite war vorbei und hallte nur mehr in einer dumpfen Ermüdung nach. Keudell ging ins Musikzimmer, glitt unter Johannas besorgt fragendem Blick hinweg, und da er die Tasten vor sich hatte, war es ihm, als sähe er von einem hohen Berg des Menschen eigentliche Heimat. Er spannte die Flügel hoch, Brausen war um ihn und Himmelsschwung, Jauchzen und Sphärenklang, und eine bange Klage von Menschenleid war hineingewoben, über die sich der Anteil an Freude immer höher hob, bis alle Sehnsucht in Zuversicht gewandelt und geläutert war.

Als Keudell wieder zur Erde zurückkehrte, da saß Bismarck auf dem Sofa nahe bei Frau Johanna, die von einem Lächeln verklärt war.

»Ein Menschenleben«, sagte er, »ein ganzes Menschenleben, Beben und Jubeln, Kampf und Triumph eines ganzen Menschenlebens. Ich danke Ihnen, Keudell.«

Als Bismarck später, nach dem Weggang der Gäste, in seinem Arbeitszimmer den Schreibtisch schließen wollte, bemerkte er unter dem Aktengeschiebe einen uneröffneten Brief, der ihm bis jetzt entgangen war. Das Schreiben war, wie am anderen Morgen festgestellt wurde, am Nachmittag durch einen unbekannten Boten beim Pförtner abgegeben worden.

Auf einem Bogen rauhen Papiers war oben die plump verständliche Zeichnung eines Totenkopfes über zwei gekreuzten Knochen angebracht, so daß man sogleich wissen mußte, es handle sich um Gift und Verwesung. Und unter diesem Firmenschild des Todes war die Mitteilung an den Erzverbrecher Bismarck, daß er wegen ungezählter Schand- und Missetaten vom internationalen Freiheitsbund zu Barcelona zum Tod verurteilt worden sei.

Johanna, der Bismarck das Todesurteil nicht hehlen konnte, stieß einen Schrei aus und klammerte sich an ihres Mannes Schultern.

»Sei ruhig, mein Armes«, sagte er lächelnd, »vertrau auf Gott und auf das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht.«


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