Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13

Preußen brauchte Soldaten, das war es, nichts weiter. Es liefen sehr viele junge Leute herum, die man nicht in des Königs Rock stecken durfte, weil die Zahl der Rekruten voll war. Und so war es gekommen, daß bei der Mobilmachung des Jahres 1859 sehr viele brave Landwehrmänner hatten den Schießprügel ergreifen müssen, indessen das junge Volk daheim bleiben und sich vergnügen durfte.

Um die Rekruten, die neuen Regimenter und das Geld, das dazu nötig war, ging der Handel. Und es war ein so wenig erfreulicher Handel mit Vorbehalten und Hinterhalten oben und unten, mit kleinlichen Geschäftskniffen, Leisetretereien und Mißverstehenwollen bei Regierung und Volksvertretung, daß sich Bismarck seiner angegriffenen Gesundheit entsann, um alledem zu entgehen. Er ließ Berlin Berlin und Paris Paris sein, nahm einen Urlaub und fuhr ins Sonnenland.

Da war es freilich erstaunlich, was in Bordeaux und im Medoc für Weine wuchsen, von denen man weder in Schönhausen, noch in Reinfelden, noch auch in den gesegneten Kellern der Suworow, Troubetzkoi oder Obolenski eine Ahnung gehabt hatte. Wenn man so durch einige Lagen hindurch immer tiefer in die dunkeln Gewölbe eingedrungen war, bis dort, wo in den kleinsten Fässern die ganz großen Kostbarkeiten aufbewahrt wurden, da sahen alle Verdrießlichkeiten allmählich wie singende junge Mädchen aus; die ganze Zukunft war mit flatternden grünen Hoffnungsbändchen herausgeputzt, und selbst die königlich preußische Dienstgaleere hatte alle Wimpel aufgezogen und böllerte drauflos, als sollten die Geburtstage sämtlicher Preußenkönige vom allerersten bis auf Wilhelm herab auf einmal gefeiert werden. Man verstand, daß der Herrgott in Frankreich das beste Leben hatte.

Freilich, wenn dann die rosige Medocbrille abgelegt war, dann war die Dienstgaleere wieder der alte, graue, wurmstichige Kasten, mit dem man nichts Rechtes anzufangen wußte, weil jeder ins Kommando dreinreden wollte, und die Zukunft hatte ein Gesicht wie vier Wochen Regenwetter, und in Berlin stank der parlamentarische Unfug zum Himmel. Da war es am besten, alles das wegzuwerfen wie ein Bündel alter Fetzen und aus einer Stunde in die andere zu leben, mit keinem anderen Gedanken, als ihre sechzig Minuten wie ein leichtes Gleiten in sich zu fühlen und für nichts anderes die Sinne offen zu haben, als für die Schönheit dieser Welt.

Alte Schlösser standen da, von jener vornehmen Schwermut, die Bismarck in Fontainebleau zum erstenmal deutlich verspürt hatte. Hier standen sie unter einem lodernden Sonnenhimmel, aber die leise Trauer war dem Gemäuer nicht auszutreiben. Dieses wehmütige Zusammensinken, das in keiner deutschen Ruine so ans Gefühl trat. Im zerfallensten deutschen Mauernest konnte man denken, daß man bloß unten aus dem Dorf ein paar Bauernburschen zu holen oder sechs preußische Musketiere hineinzustellen hatte, und der Trümmerhaufen würde wieder von strotzendem Leben erfüllt sein. Hier aber saß die Vergänglichkeit in eigener Person in den grasbewachsenen Burghöfen und war durch nichts hinauszukriegen.

In den Städten freilich war das Leben lustiger und lärmvoller als anderswo in der Welt, das Lachen lief auf allen Gassen, und die Liebe hatte große, schwarze, brennende Augen und sprach von den Balkonen ganz unbekümmert zu den Vorübergehenden. In San Sebastian kam man schon recht ins Spanische herein mit Mantillen und Fandango und Senores, die daherstiegen, als hätte jeder von ihnen unter Fernando Cortez an der Eroberung Mexikos teilgenommen. Die Pyrenäen bäumten sich auf, mit Schneehäuptern, Felsenzirkussen und Wasserfällen, mit einem Pic du Midi, von dem man aber, wenn man im Nebel oben stand, ebensowenig sah wie vom Hügel über den Zampelwiesen bei Nacht. In Biarritz ließ man sich tagelang auf dem Strand von der Sonne rösten, bis man sich hätte in Castans Panoptikum als Indianer sehen lassen können. Das Meer sang an den Klippen, der Himmel malte seine üppigsten Farben in die Sonnenauf- und -untergänge hinein, und langsam floß aus alledem, Erde, Meer und Luft, wieder Kraft in die Glieder, daß sie wieder ungefüge Taten zu ersehnen begannen, die Schenkel ein ungebärdiges Pferd und die Fäuste einen recht schweren Hammer.

Das Schönste an dieser schönen Sonnenwelt war aber, daß sie irgendwie doch immer in einem Zuge der Heimat glich: das Land zwischen Bordeaux und Bayonne der wilden Kassubei, San Sebastian dem Siebengebirge mit dem Drachenfels, daß die Zitadellen manchmal deutschen Burgen zum Verwechseln ähnlich sahen und jeder schmälere Meeresarm an den Rhein erinnerte, und schließlich auch die Pyrenäen nichts anderes als nur eine Art riesiger Taunus waren. Nur für die Balkone und den Fandango und die schwarzen, brennenden Augen der Liebe war keine deutsche Ähnlichkeit aufzutreiben.

Aber der Urlaub ging zu Ende, und eines schönen Morgens erwachte Bismarck in seinem Gasthaus zu Avignon mit dem Bewußtsein, daß das letzte Endchen Freiheit gerade noch dazu reiche, um in zwei Tagen in Paris zu sein. Vorgestern hatte man noch in Toulouse seinen Berliner Briefträger gehabt, das heißt, man hätte ihn haben können, wenn man sich in Biarritz nicht eine so erhabene Gleichgültigkeit gegenüber sämtlichen Staatsaktionen angewöhnt hätte. Bismarck zog sich an, pfiff auf der Treppe: nach Paris? Und was weiter? und betrat den kühlen Speiseraum zur ebenen Erde, vor dessen Tür schon über dem Straßenpflaster die Luft in der Septembersonne zu zittern begann.

Ein Herr saß im Rohrstuhl bei einem über den ganzen Tisch gezogenen reichlichen Frühstück und wandte knisternde Zeitungsblätter um. Der Herr sah auf, spuckte in großem Bogen dicht neben Bismarck auf die Straße hinaus und sagte: » Morning, Baribal!«

Baribal! Herrgott von Spandau, wer war dieser Mensch in dem weiten, gelben Leinenanzug mit dem Uncle-Sam-Bart um das glattrasierte Kinn? Bismarck trat einen Schritt näher, der Herr warf einen Stoß Zeitungen von seinem Nachbarstuhl zur Erde und begann gelassen in seiner Teetasse zu rühren. »Wuollen Sie nicht Platz nehmen, wenn's gefällig ist?« sagte er. Dabei spuckte er in kunstvollem Bogen zwischen dem weißbeschürzten Kellner und dem Türpfosten auf die Straße und – nur ein Mensch auf der männererzeugenden Erde konnte so spucken, nur einer – wahrhaftig: Coffin war's, Coffin Göttingerschen Angedenkens, Coffin aus dem Harrisonschen Familienidyll.

Er war es, und er war von Amerika wieder einmal herübergeschwommen, um Europa zu sehen, Geschäfte zu besorgen und eine Wette einzukassieren.

Eine Wette?

» Oh yes! Zwanzig Flaschen Rheinwein. Sie haben zwanzig Flaschen Rheinwein verloren, Bismarck.«

»Zwanzig Flaschen Rheinwein!« staunte der Wiedergefundene. Da schlug ihm Coffin lachend aufs Knie und holte eine umfängliche Brieftasche ans Licht. Zwischen hundert anderen kroch ein kleiner Zettel hervor, ein vergilbtes Papierchen mit brüchigen Bügen und gefransten Rändern, und darauf stand, daß sich Herr Otto von Bismarck verpflichte, an Mister Coffin 20 (sage zwanzig) Flaschen Rheinwein zu zahlen, falls in zwanzig Jahren noch kein einiges Deutschland gegründet sei. Und neben Bismarcks Unterschrift war sehr sauber der Hannoveranerzirkel hingemalt wie ein Siegel, das gewichtigen Urkunden beigedruckt wird.

Coffin schwenkte seinen Schein: »Aus dem Jahre 1832, Bismarck! Sie uerden mir mussen geben zu, daß ich Ihnen nicht gedrängt habe. Ich habe gewarten lang genug, es sind dreißig Jahre drüber hin, nicht zwanzig. Und wo ist der deutsche Einheit? Ist der Bund der deutsche Einheit?«

Nein, das konnte man wahrhaftig nicht sagen, und wenn es je eine verlorene Wette gegeben hatte, so war es diese. Aber Coffin hatte sich nicht gerade den richtigen Ort zur Einlösung des Weinwechsels ausgesucht, in Avignon gab's alle anderen bacchischen Möglichkeiten, nur gerade Rheinwein nicht. Er entschuldigte sich, daß er nicht habe warten können, bis Bismarck wieder in Deutschland sei, weil ihn der Betrieb seiner Blechdosenfabrik wieder sehr bald nach Amerika zurückzwinge. Er habe sich von Paris aus nach Bismarck durchgefragt, sei froh, ihn gefunden zu haben, und nun komme es ihm aufs Wortwörtliche nicht so an, es könne auch ein Burgunder oder irgendein anderer Franzose sein.

Da gingen sie miteinander Arm in Arm durch die Stadt und lachten ein wenig wehmütig den Göttinger Jugendtagen zu. Nachmittags besahen sie die finstere Burg der Päpste, und abends saßen sie in der kleinen Kneipe, deren Geheimnis ihnen der beschließende Krimkriegveteran gegen ein gutes Trinkgeld offenbart hatte. Louis Napoleon sah als schandbarer Öldruck auf sie herab, Fliegen wimmelten an den Wänden, aber die verstaubten Flaschen, die der Wirt aus dem Keller steigen ließ, lösten Zungenschnalzen aus und machten die Augen klein vor Behagen. Sie aßen von schmutzigen Tellerchen mit den Bildnissen der Kaiserin Eugenie und Lulus Oliven und Maulbeeren und gingen immer wieder die alten Erinnerungen durch. Harrisons? Harrisons waren verschwunden und verschollen, Frau Harrison war wieder als Miß Mary Stevens in der Eden-Hall zu London aufgetreten und war dann einem südamerikanischen Pflanzer ins Brasilianische gefolgt. Jetzt war sie wohl eine würdige, alte Dame mit einem Spitzbauch, die sich ihren Ärger an den jüngeren Indianerinnen ausließ. Motley war einmal bei Bismarck in Frankfurt gewesen, war derselbe gute, ehrliche Junge wie damals, nur an Klugheit hatte er zugenommen vor Gott und den Menschen. Und von den alten Farbenbrüdern hatte Bismarck den Gustav Scharlach einmal in Norderney gesehen, und der war aus einem lustigen jungen Studenten ein etwas verkümmerter Beamter geworden, mit Gicht und Hämorrhoiden und einer eingeschnürten Seele, als habe sie jahrelang unter lauter Aktenfaszikeln gelegen, und dabei sei ihr der Saft ausgepreßt worden.

Ja, so war das Leben, Verheißungen und Erfüllungen ließen sich nicht ganz übereinbringen, und man mußte froh sein, seinen Wirkungskreis zu haben, meinte Coffin, der beim Zusammensein mit einem Deutschen sich zu einigem philosophischen Tiefsinn verhalten glaubte, obzwar er drüben sein Leben von seinen Blechdosen recht nützlich und ohne weiteren denkerischen Ehrgeiz ausgefüllt fand. Nicht jedem sei es freilich vergönnt gewesen, einen solchen Anstieg zu nehmen wie Bismarck.

»Oho«, sagte Bismarck, »oho.« Es mochte sein, daß ihm bei diesem Erinnerungsbad der Abstand von damals zum heutigen Tage erst recht bedeutsam geworden war, und daß er den Abriß des Erreichten etwas dürftig fand; oder aber, es war in dem Burgunder doch etwas zu viel revolutionärer Feuergeist vorhanden und, wenn die Wette hätte mit Rheinwein ausgetragen werden können, so hätte sich die Gesinnung im Maßvolleren halten lassen. Jetzt aber war die angeröstete Wurstigkeit auf einmal verflogen, Bismarck sagte: »Oho!« und ließ die Faust zwischen den Gläsern auf den Tisch fallen, daß die Kaiserin Eugenie und Lulu einen kleinen Luftsprung taten.

»Nein, mein lieber Coffin«, sagte er, »ich habe es satt. Ihr seht freilich nur, was erreicht ist. Aber was vergeblich erstrebt worden ist, wißt Ihr nicht.«

Man könne doch in den Zeitungen lesen, wandte Coffin ein, indem er einem Kater, der hinter dem Schanktisch saß, auf den Rücken spuckte, man könne doch allerorten in den Zeitungen lesen, daß Bismarck demnächst zum Minister ernannt werden würde.

»Ich lese keine Zeitungen«, sagte Bismarck, und seine Augen waren böse Tiere im Ansprung, »ich habe seit Tagen keine in der Hand gehalten, und ich pfeife auf alle Zeitungen. Aber das weiß ich, daß ich genug habe. Ich bin kein Leutnant mehr, der immer zur Miete wohnt und sich für den Königs Dienst eine edle Freizügigkeit bewahren muß. Die Haare fangen mir an auszugehen, und ich mag nicht mehr länger zwischen Tür und Angel stehen und das Reißen kriegen.«

Coffin sah nach Bismarcks Kopf und nickte fachliche Zustimmung, denn freilich war auf diesem Schädel längst nicht mehr die wildwüchsige Üppigkeit, die von den Göttinger Friseuren nur mühsam gebändigt worden war. An den Schläfen und hinten herum war ja noch die alte Herrlichkeit in kümmerlichen Resten erhalten, aber gerade das, was zumeist in den Blick genommen wird, die Stirn zog sich schon ungebührlich weit nach hinten, und es half wenig, daß ein paar längere Haarsträhne von links nach rechts kunstvoll über die blanke Rundung gespannt waren.

Bismarck bemerkte Coffins kritische Betrachtung, und sein Grimm wurde dadurch nicht gelinder. »Jawohl, man wird nicht jünger«, wetterte er, »aber man bringt den Karren nicht um ein Stück weiter. Ein neunmal eingeseifter Esel, wer sich mit dem ganzen Dreck einläßt. Was hat man davon, nicht einmal ein ordentliches Heim hat man bei diesem Schweineleben. Meine Frau und meine Kinder sind in Pommern, meine Möbel in Petersburg, meine Pferde in Berlin, meine Wagen in Stettin, und ich sitze hier in Avignon. Das Ganze heißt man deutsche Häuslichkeit. Bei den Siouxindianern oder den Tuaregs ist es gemütlicher. Und mich läßt man in Berlin in einem Gasthaus vor Anker liegen, wie einen Versicherungsagenten oder einen stellungsuchenden Kommis. Und dann schickt man mich nach Frankreich und gibt einem doch nichts Gewisses. Man sitzt wie der Fisch an der Angel, jeden Augenblick kann einen ein Ruck aus dem Wasser ziehen. Da kann einem wahrhaftig alle Lust an den Geschäften vergehen. Es ist kein Ernst in der Sache und kein fester Wille, mit lauter Wenn und Aber bringt man nicht einmal einen krummen Hund um die Ecke …«

Über den Tisch herüber langte Coffins Hand nach der seinen: »Bismarck, vollen Sie uetten um zwanzig Flaschen Rheinwein, daß Sie sind in einem Jahr Ministerpräsident in Preußen?«

»Gehen Sie zum Teufel«, schrie Bismarck, »ich habe es satt. Ich pfeife darauf!«

Er hatte es wirklich satt und er pfiff darauf, aber da er ein gewissenhafter Deutscher war, als welche jede spatzenhafte Menschenangelegenheit irgendwie in Gottes Hand zu legen und metaphysisch mit dem Weltganzen zu verschweißen pflegen, stellte er seinen endgültigen Entschluß noch unter den Wink der Vorsehung. Er forderte den Himmel zu einem Zeichen heraus, die Hieroglyphen des Zufalls sollten zu sprechen beginnen, um ihm zu sagen, was zu tun sei.

Sie brachen auf, Wetterleuchten warf prachtvolle Feuerschäume über den westlichen Himmel; um so schwärzer lagen dann die unerhellten alten Gassen. Aus dem Dunkel einer Seitenschlucht hinkte der Krimkriegveteran von der Burg der Päpste heran, erkannte die beiden Fremden und fragte, ob sie wohl bedient worden wären. Er hatte keine Ahnung, daß seine welthistorische Sendung keineswegs auf dem Malakowhügel durch eine russische Kugel abgeschlossen worden und daß er noch einem königlich preußischen Gesandten zu einer wichtigen Entscheidung zu verhelfen berufen sei. Es war Wink des Himmels, Hieroglyphe des Schicksals, daß Bismarck bei sich beschlossen hatte, sich zu fügen, je nachdem ein Weib oder ein Mann zuerst in seinen Weg kommen würde. Wäre ein Weib gekommen, so hätte er nach dem Wink von oben noch ein wenig zuwarten sollen. Aber es war ein Mann gekommen, und das hieß: es war gewiß und sicher und unumstößlich, daß er sich nicht mehr länger an der Nase herumführen ließ. Morgen würde er nach Paris zurückkehren, aber nur, um seinen Abschied zu nehmen und sich für den Rest seines Lebens nach Schönhausen zurückzuziehen. –

Aber am nächsten Morgen weckte ihn eine frühzeitige Depesche von vier Worten.

»Die Birne ist reif!« Mehr stand nicht da, aber Bismarck erkannte sogleich Roons Stil. Die Birne ist reif, das hieß, daß die Wenn- und Aber-Zeiten vorüber waren, daß man wieder zu wollen wagte, und da waren alle Winke der Vorsehung und Hieroglyphen des Schicksals und unumstößlichen Schönhausener Entschlüsse vergessen, und Bismarck stürzte sich in die Kleider, als gelte es vom Fleck weg in den Kampf zu fahren und seinen König als braver Soldat herauszuhauen.


 << zurück weiter >>