Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Wenn man einmal so richtig ins Vergnügen geraten war, so fand man nicht gleich ein Ende damit.

Der Frankfurter Schwan-Kleban des Grafen Thun zog sich mit beginnender Nacht aus den Taunuswäldern in die Stadt, und als man um Mitternacht vor der Wohnung des österreichischen Gesandten angelangt war, fand man kein nachtschlafendes Haus, das man erst wachzurütteln hatte, sondern eines, das hell und belebt die Gäste erwartete. Die Diener standen schon an den Türen, und jedem Bedürfnis war seine Erfüllung bereitet, den etwa von der Nachtluft angegriffenen älteren Herrschaften Tee und den noch immer Erglühenden Speiseeis, das in absonderlichen Formen, Hasen, kleinen Elefanten, brütenden Hühnern und schlangenumwundenen Obelisken, aus silbernen Kühlern tauchte.

Der Tanz, der auf dem Rasenboden nicht recht hatte vonstatten gehen wollen, drehte sich nun ganz anders im Thunschen Spiegelsaal, dessen von Goldstäben eingefaßtes Kristall aus dem Walzer einen wirbelnden Brodeltopf von Kleidern und Gesichtern machte. Und das Thunsche Hausorchester, vier echte, wirkliche Wiener Pratergeiger, machte auch eine ganz andere Musik dazu, als Baron Brenner auf seiner Okarina machen konnte. Bismarck steckte mitten im Tanztopf und fischte aus ihm bald ein Stück diplomatischer, bald eines Frankfurter Weiblichkeit in Blau, Weiß oder Rosa, ohne einen anderen Anspruch als den auf eine gute Haltung und einen flinken Fuß. Er war ein gewandter und ausdauernder Tänzer, und da er den Damen als ein Neuling des Kreises immerhin noch einiges zu raten gab, freute man sich, wenn er kam und sich ritterlich verneigte.

Im chinesischen Zimmer gab es Porter, Sekt und Karten. Hier setzte sich das ältere Aufgebot zum Spiel, und bis auf Oertzen, der seine ehrliche Juristenseele dem Schlaf überantwortet hatte, und den guten Schrenck-Notzing, der ihm dabei in der anderen Diwanecke Gesellschaft leistete, waren alle Geister wieder lebhaft und munter geworden. Der Marquis Tallenay schien sich erst jetzt, da man den Wald verlassen hatte, so recht wohl zu fühlen und wurde mit jeder Stunde dem Morgen zu jünger. Die besondere Ehrung, die ihm widerfahren war, mochte dazu ihr Teil beigetragen haben. Der französische Koch des Grafen hatte es irgendwie zustande gebracht, aus Zitronen- und Himbeereis eine kleine Büste des Louis Napoleon herzustellen, die für gutgläubige Gemüter eine ungefähre Ähnlichkeit mit dem Urbild hatte. Nun löffelten ihm Sachsen und Württemberg, Baden und Braunschweig, Holstein und Lübeck mit kleinen Goldlöffelchen vom Nacken und von der Brust, die mit phantastischen Papierorden geziert war, schunden ihm Stücke von Stirn und Wangen, bis nur mehr ein formloser Klumpen übrig war, der kläglich in silbergefaßter Glasschale zerschmolz. Und der Marquis erzählte zu dieser Demolierung des französischen Oberhauptes Geschichten aus Paris, mit denen dann einer der Diplomaten nach dem anderen verschwand, um sie in stillverschwiegener Ecke aufzuzeichnen, als Ausbeute des heutigen Tages und Stoff für einen Bericht, zu dem, was jeder von ihnen an Bemerkungen über das Benehmen und die mutmaßlichen Eigenschaften des preußischen Legationsrates von Bismarck schon vorher in sein Taschenbuch eingetragen hatte.

Nach dem Lancier trat Bismarck aus dem Tanzsaal ab. Im blauen Saal, hinter dem Ebenholzflügel, saß Frau von Vrints und stützte den Kopf auf die Hand. Sie sah ein wenig müde aus und erinnerte mit den blauen Schatten unter den Augen jetzt mehr als je an Malwine, so, wie sie Bismarck zuletzt nach der Geburt des Kindes gesehen hatte. Ein zärtliches Gefühl kam über Bismarck.

»Nun?« fragte Frau von Vrints, und ihre Augen wurden wieder hell und blank.

»Wo haben Sie Ihre Kavaliere?« fragte Bismarck dagegen.

»Den Grafen habe ich an das L'Hombre verloren und den Marquis an seinen eßbaren Napoleon abgegeben. Schließlich verlieren wir Frauen ja immer an das Spiel oder an die Politik.«

»Mit dem Spiel hat's bei mir keine Gefahr mehr. Aber an die Politik … Das beklagt auch Johanna in jedem Brief.« Er sah ihr ein wenig starr ins Gesicht, suchte immer nach Ähnlichkeiten mit Malwine.

»Nun?« fragte sie noch einmal lächelnd, »es ist natürlich nicht unbemerkt geblieben!«

»Ich war wie Mucius Scävola, der die Hand ins Feuer hielt. Oder besser, wie einer der Jünglinge im Feuerofen, von Flammen umlodert und dabei lobpreisend den Herrn.«

Der Tastendeckel war aufgeschlagen, ihre Hand griff ganz leise einen sehnsüchtigen Akkord, der seltsam ins Geräusch des Vergnügens links und rechts verschwebte. »Hören Sie, Bismarck«, erledigte sie alles Weitere, »ich habe mich nach einer Wohnung für Sie umgesehen. Es ist wirklich schwer, etwas Passendes zu finden. In der Bockenheimer Straße vielleicht, ein paar hundert Schritte vor dem Tor. Ein Haus mit einem Garten … wenn es Ihnen nicht zu klein ist.«

Er war sogleich ganz wieder sorglicher Gatte. Nein, zu klein, das habe ja nichts auf sich. Die königlich preußische Regierung halte ihre getreuen Diener ohnehin nicht so, daß sie alles aus dem vollen nehmen könnten, wie die Österreicher. Man sei offenbar noch immer der Ansicht Friedrichs des Großen, der seinem Gesandten in London auftrug, nur schön ruhig zu Fuße zu gehen und allen Spöttern zu sagen, sie möchten bedenken, daß eine Armee von hunderttausend Mann hinter ihm dreinkomme. Er wisse überhaupt nicht, wie er alles bestreiten solle, denn soviel merke er schon jetzt, daß die Einrichtung ein rasendes Geld verschlingen werde. Möbel, Betten, Leinenzeug und Silber könnten sie ja von Schönhausen herüberbringen; aber außerdem müsse man noch vieles neu anschaffen.

Ja, meinte Frau von Vrints, da müsse doch die Regierung auch beisteuern.

Bismarck blies die Backen auf. Dreitausend Rheintaler vielleicht oder gar nur zweitausend, das wäre alles, da müßte er denn wohl ein tüchtiges Stück Geld aus eigenem zulegen. Er sei darauf gefaßt, mit Schulden zu beginnen.

O weh! seufzte die Freundin mit einem ganz leisen, lieben, spöttischen Lächeln und schlug dazu einen komischen wehmütigen Mollakkord auf den vergilbten Tasten an.

Ja freilich, o weh! Da müsse man sich denn bescheiden und mit dem Gehalt sein Auslangen finden, damit die Einkünfte des Gutes zur Schuldentilgung verwendet werden könnten.

Frau von Vrints schloß das Klavier, stützte beide Arme auf und legte das Gesicht hinein, daß sich ihre weichen Wangen leicht nach vorne drückten. Wie ein Schulmädel sah sie aus und glich noch mehr Malwine als vorhin in ihrer Mattigkeit. »Wenn Sie sich schon in so große Schulden stürzen, so müssen Sie sich dabei auch battistene Hemden anschaffen, Bismarck! Mit so solider Leinwand bringen Sie Preußen auf dem Bund nicht weiter.«

Bismarck murmelte etwas von hausfraulicher Sparsamkeit, und dann sagte er plötzlich, als gehöre das dazu: »Wie Sie Malwine ähnlich sehen … wie eine Schwester!«

Sie legte die Arme vor sich auf den schwarzen Deckel des Flügels, daß die kühle Holzplatte unter dem warmen Hauch ihrer Haut mit einem leichten Nebel anlief, und sagte ärgerlich: »Und dann dürfen Sie nicht immer und überall bei allen Frauen Ähnlichkeiten mit Ihrer Familie finden und Vergleiche mit Ihrer Frau ziehen. Das lieben die Frauen nicht. Und merken Sie sich doch endlich, daß Sie nur dann Erfolge haben werden, wenn Sie die diplomatischen Gespinste auch durch Boudoirs zu leiten wissen.«

Vor dem Fenster gerann die Dunkelheit zu einem trüben Grau, Baumwipfel ballten sich aus dem Gartengrund. »Mein Gott! Schon wieder ist der Morgen da. Der fünfte, den ich nicht im Bett zubringe.« Sie erhob sich, sah wieder müde aus, mit blauen Schatten unter den Augen. »Ach das … das wollte ich Sie fragen. Was meinten Sie denn vorhin im Wald zum Marquis Tallenay, das mit dem Parfüm? Wie ich Sie kenne, war da irgendeine Bosheit dahinter.«

Bismarck lachte sein helles Jungenlachen: »Ich erinnerte mich, daß die Parfüms zuerst am Hof Ludwigs XIV. so ausgiebigen Gebrauch fanden … weil … weil man sehr wenig vom Baden hielt und nicht viel Wert auf reine Unterwäsche legte.«

»Er hat's nicht verstanden«, stimmte sie ein, »gewiß nicht verstanden. Es sind schlechte Historiker, die Franzosen. Sie wissen von ihrer eigenen Geschichte nicht viel mehr als das Wort gloire.«

»Aber mit dem kann man sie an der Nase führen, wohin man will. Und es ist einer da, der entschlossen scheint, es zu tun.« –

Im kleinen Garten am Haus der Hochstraße, das Bismarck zusammen mit Lynar bewohnte, schüttelten sich die Büsche und warfen den Nachttau ab. Gelbrot glänzten die Sandwege, und mit feuchtglänzenden Leibern mühten sich die Regenwürmer ins Grab zurück. Vor dem Haus schellte die Milchfrau, und Bismarck sah von seiner Bank unter dem Jasminbusch Hildebrand über die Treppe kommen. Der war um Mitternacht ins Bett geschickt worden, sprang ausgeschlafen über die Stufen und klapperte mit den beiden Milchkannen. Nebenan krähte der Hahn des Bäckermeisters Bilse, als wolle er sich die Gurgel sprengen. Alles war frisch und neu an diesem Sonntagsmorgen und entschlossen, mit allen Kräften ins liebe Leben zu gehen und seinen Segen zu empfangen.

Bismarck zog, weich an alles das hingegeben, an einer großen Zigarre, und alle Nachtdünste wichen so rasch aus seinem Kopf, als habe er wie weiland Münchhausen eine Klappe in der Schädeldecke, um sie zu entlasten. In seiner Rechten lag, vom Zeigefinger gespalten, ein schmales, schwarzgebundenes Büchlein, das hob er jetzt wieder empor, in Augenhöhe. Es war ein Neues Testament, und darin lag der Zeigefinger gerade im Römerbriefe. Er begann zu lesen, und als er die zweite Seite umwandte, da war auf einmal Frankfurt fort und die Hochstraße und Hildebrand, den er eben noch über den Rand des Büchleins hinweg mit den jetzt gefüllten Milchzubern vorsichtig hatte die Treppe hinansteigen sehen. An Stelle alles dessen sah er den Schönhausener Rasenplatz, auf dem eine schlanke Frau mit zwei kleinen Kindern herumwirtschaftete, sah den alten Herrn von Puttkamer rauchend am Schreibtisch und Johannas Mutter an ein türkisch gemustertes Sofa gelehnt, mit einem Heft des Musée français dicht an den kurzsichtigen Augen. Ein winziges Stückchen Gelb hatte die zauberische Verwandlung bewirkt, ein Blättchen Goldregen, das zwischen den geraden schwarzen Staketenzäunen der Druckzeilen lag und das Johannas liebe Hand einmal als Lesezeichen da hineingelegt haben mochte. Bismarck sann sich in Form und Farbe des Blättchens hinein, in seine zarte Äderung und in die kleinen Fäulnisflecken, die es schon zu zerstören begannen, sann alledem nach, mit nichts als dem Auge, sann, als wäre es ein noch weit tieferes Geheimnis als Gottes Wort.

Ein Knirschen auf dem Sandweg zerriß den Zauber. Graf Lynar stand da, schlank, im Sonntagsrock, verlegene Röte auf den Wangen.

»Schon auf?« fragte er.

»Schon lange! Seit gestern früh!«

»Die ganze Nacht …?« staunte Lynar.

»Man darf doch das Alter nicht merken lassen, daß es Macht über uns gewinnt. Nur dem Feind keine Schwächen zeigen. Das ist der Sinn dieses hirnverbrannten Geselligkeitstumultes.«

»Sie lesen?« fragte Lynar, der nie recht wußte, was er mit Bismarck sprechen sollte.

Bismarck wies sein Buch. »Neues Testament«, dehnte der Graf, und ohne sein Wissen kam das geringschätzige Verziehen des Mundes, das ihm aller Bibelleserei gegenüber als Ausdruck starken Geistes eingeprägt worden war.

»Lieber Lynar«, sagte Bismarck, »ich weiß genau, was Sie jetzt denken.«

Mit Erschrecken trat der Ertappte zurück.

»Sie denken: da sitzt der Mensch nach einer durchschwärmten Nacht mit Tanz und Sekt und weiß Gott was noch allem Frankfurterischen auf der Bank und liest im Neuen Testament. Ist es nicht so? Seien Sie nur ruhig, ich nehme es Ihnen weiter nicht übel. Nur daß Sie mir leid tun können! Glauben Sie mir, das, worin Sie jetzt stecken, habe ich durchgemacht und hinter mir. Wir scheinen in diesem Punkt gleiches Schicksal gehabt zu haben. Das Haus hat uns ausgeworfen, und die Welt hat sich in unsere Seelen geteilt, wie die Räuber in die Beute. Aber ich habe zurückgefunden. Und wissen Sie, warum ich das Buch jetzt, in dieser Morgenstunde, lesen kann? Weil doch nichts anderes darin steht als das, was alle diese Büsche und das Gras und die Rosenstöcke drüben und die Sonne selbst sprechen und meinetwegen auch Bilses Hahn und das Wasser, das jetzt dieser Hildebrand, der Teufel hol ihn, dort hinten wieder gegen mein Verbot in den Hof hinuntergießt.«

Und er unterbrach sich und brüllte mit seiner mächtigsten Deichhauptmannsstimme hinüber: »Hildebrand!« und schüttelte die Faust gegen das Fenster, hinter dem Hildebrand verschwand, als habe ihn wirklich senkrecht der Teufel geholt.

»So, mein lieber Lynar«, wandte sich Bismarck wieder an den Hausgenossen, »und nun gehen Sie zur Strafe für Ihre sündigen Gedanken mit mir in die Kirche. Aber da ich Sie nicht zwangsweise bekehren mag, gehen wir in eine Kirche, in der Sie Menschenfurcht kennenlernen, nicht Gottesfurcht. Waren Sie schon in der Paulskirche? Nein, ich auch nicht. Dann gehen wir miteinander. Warten Sie nur so lange, bis ich den Vergnügungsrock abgeschabt habe.« –

Nach einer Viertelstunde war Bismarck wieder da, glänzte den Widerschein von Wassergüssen und hart reibenden Tüchern von Wangen und Stirn und steckte in einem neuen blauen Anzug. Sie verließen den Garten und waren nach kurzer Zeit im Sonntagsstrom der inneren Stadt. Ein wenig geärgert sah Bismarck auf den flatternden Putz und blinkenden Aufwand, der da an ihnen vorbeistolzierte. Man sah es den Leuten an, daß das Geld leicht und flüssig umlief und daß man unschwer etwas davon in seine Taschen ableiten konnte. Das wäre kein Unheil, murrte Bismarck in sich hinein, aber dadurch wuchs ein Hochmut in den Leuten, der alle gottgewollte Ordnung über den Haufen warf. Wie der reichgewordene Bankier es dem Adel gleichzutun suchte, so drängte sich der Kaufmann diesem nach, und hinter diesem schob sich wieder der Handwerker hervor und empor. Und hob nicht auch hinter diesem wieder der Arbeiter sein struppiges, verrußtes Haupt? Da wollte jeder um ein Stück hinauf, gebrauchte die Ellenbogen und ahmte in Kleidung und Haltung die höhere Schicht nach. Das lag nicht an der Gewerbefreiheit, denn in Frankfurt hatte sich das alte Zunftwesen erhalten, und doch war es hier ärger als anderswo. Der alte Sinn des Zunftwesens hatte sich verloren, seine Einfachheit und Bescheidenheit waren fort, und die übertriebenen Bedürfnisse stachelten Neid und Mißgunst.

Da stiegen Handwerkerfrauen, die Bismarck recht wohl als solche erkannte, in Samt und Seide an ihnen vorüber. Kaufmannsfrauen lagen mit glitzerndem Schmuck in Wagenpolstern, alles breit und patzig, und auf ein bescheidenes Ausweichen der großmäuligen Handwerksburschen, die allesamt Demokraten spielten, war nicht zu rechnen.

Lynar war froh, als sie die Paulskirche betraten, denn Bismarck hatte zuletzt seine Gedanken laut werden lassen, so laut, daß sich manche der Begegnenden nach ihnen umsahen, als ginge es sie besonders an.

Ein junges Mädchen schritt auf Filzpantoffeln durch die Kirche und wischte von den Bänken den Staub. Nach einem kurzen Blick auf die Besucher setzte sie die Arbeit einstweilen fort. Bismarck sah auch ihr ärgerlich nach. Obwohl sie die Tochter des Küsters oder vielleicht gar nur seine Magd war, trug sie sich doch als ein rechtes Stück demokratischer Eitelkeit, und es war nichts Unsonntägliches an ihr als die Filzpantoffeln unter dem weiten, in Rüschen und Volants protzenden Rock. Also daß sie nur diese Pantoffeln mit Schuhen zu tauschen hatte, um recht passend in den Hoffartstrubel draußen auf der Straße eintauchen zu können.

Aber mit plötzlichem Besinnen hob Bismarck den Kopf. War es nicht kleinlich, aus so kleinlichen Dingen Gift und Galle in den schönen Sonntagsmorgen zu ziehen? Weit und frei ging oben das Rund der Kuppel aus roten Backsteinquadern hervor, es wölbte sich über dem etwas plumpen Unterbau, wie ein guter und kluger Gedanke sich schließlich aus aller Schwere von Widerständen und Einwänden losringt und das Spiel von Kraft und Last in sich zu reiner Eintracht löst. Das vollkommene Kuppelrund wurde unten auf dem Mosaik des Fußbodens von den Bänken des seligen deutschen Parlamentes nachgezogen, und das war freilich, wenn der Blick von der lichten Höhe so herabsank, nur ein unansehnliches und unzulängliches Gedränge. Die Pulte waren von Ellenbogen blankgescheuert, das alte dunkle Holz spiegelte die Fenster wider, viele feine Löcher leiteten zu Gängen, die sich im Innern verzweigten und in denen die Würmer klopften, ohne doch das Gefüge zerstören zu können. Bismarcks Blick sah Farben in den braunen Holzspiegeln, schwarz, rot und gelb. Die kamen von den Wänden her, wo noch viele Fahnen hingen, und von der Tribüne des Präsidenten und den Fenstern, die mit dem Banner des einigen Deutschland verziert und umhüllt waren.

»Also hier«, sagte Bismarck, indem er sich umsah, »hier hat man die deutsche Einheit ausbrüten wollen und hat doch nur das Kuckucksei der Demokratie im Neste gehabt. Wissen Sie, Lynar, ich glaube immer, Deutschland wird noch einmal am Ideenschlagfluß sterben. Wir haben zu viel Ideen, wir ersticken daran! Lauter große, weltbewegende, prächtige Ideen, aber es fehlt an einem Bader, der uns zur Ader läßt. Wir machen es wie die da«, er wies auf die Wurmlöcher der Bank, an der er stand, »wir bohren uns ein und bohren immer weiter und weiter, immer tiefer ins Innere der Dinge, bis wir lauter hartes, totes Holz vor uns und nur unsere Exkremente in einem leeren Gang hinter uns haben. Und dabei haben wir vergessen, daß das Licht und die Wirklichkeit draußen vor der Öffnung unseres Schachtes geblieben sind. Es ist umsonst, eine noch so große Schar emsiger, kleiner, ideologischer Würmer vermag die Welt nicht zu ändern.«

Das junge Mädchen war auf Filzpantoffeln lautlos herangekommen, sie war mit Staubabwischen fertig, und es lag ihr daran, die umständlichen Besucher recht bald beim Tempel draußen zu haben. »Das dort in der Mitte«, begann sie im Führerton, indem sie mit gelangweilten Augen nur halb hinsah, »das ist die Tribüne mit dem Präsidententisch. Sie sehen noch die vier Lampen darauf, die bei der letzten Sitzung gebrannt haben; es ist überhaupt alles so erhalten, wie es zuletzt gewesen ist.«

»Sagen Sie«, fragte Bismarck, »hat denn die Sankt-Pauli-Gemeinde ihre Kirche noch nicht wieder als Bethaus einrichten wollen?«

Das Mädchen zuckte verdrossen die Achseln; eine solche Frage war bisher noch nie an sie gestellt worden, und sie fuhr fort, in einem gelangweilten Ton und sehr erzwungenem Hochdeutsch ihr Eingelerntes abzuhaspeln. Sie führte die beiden Herren zwischen den Bänken hin, zeigte die Plätze berühmter Persönlichkeiten des Parlamentes und hielt schließlich vor zwei Pulten, die nahe benachbart standen und in deren Holz kleine Silberplatten schimmerten. »Hier sind der preußische Generalmajor Auerswald und der Fürst Felix Lichnowsky g'sesse, die am 18. September 1848 in Frankfurt ermordet worde sind.«

Und als sie annahm, daß die Betrachtung genügend lange gedauert habe, holte sie ein nicht unbeträchtliches Küchenmesser aus einer Pultlade und reichte es Bismarck. »Was soll ich damit?« fragte er verwundert. »Späne abschneide!« antwortete sie, mürrisch über so viel Stumpfsinn, »zur Erinnerung!« Da bemerkte Bismarck erst, daß von den Fußgestellen beider Pulte ein nicht geringer Teil in Erinnerungsspäne übergegangen sein mochte, also daß sie sich dem Ruinenzustand bedenklich zu nähern begannen. Er meinte, er könne es nicht verantworten, sie noch weiter ihrem Verfall entgegenzuführen, und so setzten sie ihren Gang durch die Bankreihen fort, bis zu einem Pult, in der Krümmung den Plätzen der beiden ermordeten Demokratenfeinde beinahe gerade gegenüber. Wenn aber an den Pulten drüben die Erinnerung nur genagt hatte, so hatte sie an diesem mit Wolfsgier gefressen. Man sah dem Rest an, daß die Besucher sich nicht etwa mit kleinen Holzfasern begnügt hatten, sondern daß sie Splitter abzuschneiden pflegten, als wollten sie Lagerfeuer damit anfachen. Vom Fußgestell waren nur mehr zwei armselige dünne Krücken übrig; auf denen hielt sich eine zerschnitzelte Platte, die sah aus wie ein deutscher Kleinstaat, den Napoleon in der Arbeit gehabt hatte. Mitten in dieser hölzernen Kümmernis war eine Silberplatte eingelassen, die umgab ein feiner silberner Lorbeerkranz, und auf ihr stand: »Robert Blum, hingerichtet 9. November 1848.«

Ein leiser, ehrfürchtiger Schauer wehte aus diesen Worten in Bismarcks Herz; er sagte kein Wort; hier war einer, der seine ideologischen Wurmstechereien durch den Tod besiegelt hatte.

Da erschien ein Messer unter seiner Nase, das sah womöglich noch schlächterischer aus als drüben das Auerswald-Lichnowskysche. »Robert Blum, der Freiheitsheld«, sagte die Führerin in feierlichem Tone. Aber der Verstand blieb ihr mit einem kurzen Ruck stehen, als dieser seltsame Fremdling, der drüben die Erinnerungsspäne verschmäht hatte, auch hier das Messer zurückschob.

»Nein«, sagte Bismarck, »ich danke, da ist ja bald nichts mehr übrig.«

Welcher Partei gehörte er also an, dieser lange Trinkgeldknicker, da er weder von den Tyrannen, noch von dem Demagogen etwas wissen wollte? »Ach was, deswegen!« sagte sie enttäuscht und ärgerlich, »da kommt doch immer wieder ein neues Pult, wenn das alte hin ist. Das hier ist schon das dritte.«

Lächelnd entsann sich Bismarck eines gewissen Tintenfleckes auf der Wartburg, der auch immer wieder erneuert werden mußte, wenn der alte von der Wand gekratzt war. »Sehen Sie, Lynar«, sagte er, indem er mit seinem Begleiter dem Ausgang zuschritt, »das ist die Historie! Man möchte sagen, sie ist ein Schwindel. Aber nein – es handelt sich nur darum, sie von Zeit zu Zeit neu zu machen, damit man wieder an sie glauben kann.«

»Jawohl!« sagte Lynar, obzwar er nicht genau wußte, ob ihn Bismarck mit einem Tiefsinn beschenkt hatte oder mit einem Unsinn hatte vexieren wollen.


 << zurück weiter >>