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Achtunddreißigstes Kapitel.
Deacons Insel.

Donnerstag, der 15. Oktober, war der hundertste Tag, seit wir Bayport verlassen hatten.

Die letzten Beobachtungen hatten ergeben, daß wir hundertzwanzig Meilen südöstlich von der Stelle waren, an welcher nach Deacons Angabe seine Insel liegen sollte. Nach der Geschwindigkeit, mit der wir während der Nacht gesegelt waren, hätten wir das Land am Nachmittag erblicken müssen.

Tags zuvor hatte ich die Leute getäuscht, indem ich ihnen unsere Lage auf der Karte unrichtig bezeichnete. Sie hatten daher keine Ahnung, daß wir innerhalb einer Fahrt von wenigen Stunden die gesuchte Insel in Sicht bekommen mußten, wenn sie überhaupt existierte.

Zu den Wundern der See gehört der rasche Wechsel des Klimas. Der Seemann, welcher sich heute unter der glühenden Sonne der Tropen befindet, denkt mit Staunen, wenn er den Schweiß von seiner Stirn wischt, an die wenigen kurzen Tage, welche vergangen sind, seit er mit dem Schnee und Eis und den Stürmen der antarktischen Regionen kämpfte.

Ueber die Seite der Brigg in das klare blaue Wasser blickend, während die Sonne mir warm auf den Rücken schien und die Luft erfüllt war von dem Geruch des erhitzten Pechs und der heiß bestrahlten Farbe, konnte ich mir kaum vorstellen, daß noch vor wenigen kurzen Nächten die See bergehoch in mitternächtlichem Dunkel um uns her tobte, der wütende Sturm uns Hagel und Schnee ins Gesicht trieb und die durchdringende Kälte die Thränen erstarren machte, die unseren Augen entströmten.

Obgleich alle meine Gedanken Miß Franklin und der Brigg galten, so will ich doch gestehen, daß ich auch recht neugierig war, zu entdecken, ob Deacons Insel wirklich existierte oder ob sie ein bloßes Phantasiegebilde war. Wenn wir heute noch Land erblickten, wo uns die Karte nichts zeigte als Teapy, wohin wir noch einen vollen Tag zu segeln hatten, ehe wir es erreichen konnten, so mußte ich schließlich doch auch an das Geld glauben. Man sieht also, daß, trotz meiner Behauptung den Leuten gegenüber, ich doch über die Sache noch zu keiner festen Ueberzeugung gelangt war.

Unter allen gewöhnlichen Segeln verfolgte die Brigg ruhig auf der glatten langrollenden See ihren Kurs, und um Mittag, als ich die astronomischen Beobachtungen machte, erkannte ich, daß sie auf der von Deacon berechneten Breite, nämlich genau auf dem 30. Grad war und 185 Meilen östlich von Teapy.

Blunt, welcher offenbar von den Leuten, an Deacons Stelle, als ihr Führer erkoren war oder sich selbst dazu gemacht hatte, kam mit Welchy zu mir und verlangte zu wissen, welche Lage der Brigg sich aus der eben erfolgten Messung ergeben habe.

Ich erwiderte, daß wir ungefähr 150 Meilen östlich von der Stelle wären, wohin wir wollten.

»In weck Tied warden wi sei erreicht hebben?«

»Bei diesem leichten Wind morgen nachmittag.«

Sie schienen dadurch zufrieden gestellt und nach einigen weiteren Fragen gingen sie wieder nach vorn. Ich trat zu Banyard, welcher auf dem Oberlicht saß, und sagte mit leiser Stimme zu ihm:

»Wenn Deacons Insel überhaupt irgendwo ist, so muß sie hier herum sein. Ich habe meine Gründe gehabt, weshalb ich den Leuten gesagt habe, wir würden den Ort, wohin wir wollen, nicht vor morgen erreichen. Halten Sie Ihr Wetterauge offen und wenn Sie irgend etwas bemerken, was wie Land aussieht, so rufen Sie mich.«

»Wat erwarten Sei tau seihn, Mister?«

»Heute erwarte ich nichts zu sehn, sollte sich aber, gegen meine Annahme, doch irgendwo am Horizont Land zeigen, so lassen Sie es mich augenblicklich wissen.«

»Up de Kart is in dese Deil von de See kein Land nich verteichent?«

»Nein.«

»Aewer, tum Dunner, wonach sall ik denn da utkieken?«

»Na, natürlich nach Deacons Insel,« antwortete ich und bemühte mich, das Lachen über des alten Kerls dummes Gesicht zu verbeißen.

»Deacons Insel!« grunzte er mit widerwilliger Verachtung, »da warden Sei irst ein nige Art Brille för mi erfinn'n möten; 't is süs mien Sak nich, tau fluchen, äwer,« fuhr er mit ernsthaftem Gesicht fort, »ik will verdammt sien, wenn an Burd von dese Schipp en Poor Ogen sünd, de dese Insel up dese Ird seihn warden. Dat is woll so'n Flag ut Wolken malt, ahn Ankergrund för'n Christenminschen, so'n Flag, wo de fliegende Holländer anleggt, üm Water intaunahmen.«

Den alten Knaben seinen weiteren Gedanken überlassend, ging ich nunmehr, um Miß Franklin auf Deck zu holen. Ich machte ihr einen bequemen Sitz am Oberlicht zurecht und, in ihre großen schönen Augen blickend, flüsterte ich: »Uebermorgen um diese Zeit, Miß Franklin, wird unser Bugspriet, wenn es Gott gefällt, nach der direkt entgegengesetzten Richtung zeigen, nach der Heimat!«

Sie stutzte und sah mich mit so großen Augen und einem fragenden Blick an, daß mir das Herz erzitterte.

»Sprechen Sie im Ernst?« fragte sie.

»Gewiß thue ich das. Ich würde Sie in diesem Punkt nicht täuschen, selbst nicht um den Preis, Ihre Augen so wie jetzt aufleuchten zu sehen.«

»Wo werden dann diese Leute sein?«

»St!« flüsterte ich und blinzelte nach dem Rade hin. »Wir sind fortwährend beobachtet, alles um uns her kann Ohren haben. Nur Banyard ist eingeweiht, aber auch er hat noch keine Ahnung von der Kriegslist, die ich anwenden will, um Sie und die Brigg zu retten.«

»Sagen Sie es mir,« bat sie mit ihrer lieblichen Stimme, »mir können Sie doch wirklich vertrauen.«

»Nur noch ein wenig Geduld. Ich schweige nicht aus alberner Geheimniskrämerei, sondern aus einem Grunde, den Sie würdigen werden, wenn meine Zeit gekommen ist und ich Ihnen alles sagen kann. Jetzt will ich den Mast besteigen und einen Blick umherwerfen.«

Mit diesen Worten ging ich nach vorn und stieg in das Fock-Takelwerk. Die Leute, die müßig auf dem Vorderdeck herumlungerten, starrten mir neugierig nach, als ich hinaufkletterte. Bis zur Oberbram-Raa steigend, beherrschte ich von dieser gewaltigen Höhe aus eine Aussicht von vielen Seemeilen. Der Horizont rings umher umgürtete als eine völlig ununterbrochene klare Linie den sich im reinsten Blau über uns wölbenden Himmel. Fern im Süden war ein winziger weißer Fleck sichtbar, ein Schiff, das war alles.

Deacons Worte, so weit ich mich erinnere, waren gewesen: »Ich habe ihre Lage ohne astronomische Berechnung bestimmt. Sie muß von der obersten Fock-Raa irgendwo in Sicht kommen, sobald die Brigg die Stelle erreicht hat, auf welcher ich glaube, daß die Insel liegt.«

Von der Höhe der Vor-Oberbram-Raa aus, auf der ich jetzt stand, hätte ich, außer vielleicht einer ganz flachen Koralleninsel, Land auf volle siebzig Meilen Entfernung erkennen müssen, so klar und durchsichtig war die Luft. Jedoch auch nicht ein Schatten, welcher Land hätte andeuten können, verdunkelte die krystallene Klarheit der Wasserlinie auf dem ganzen Umkreis derselben. Ich that einen tiefen Atemzug. In der absoluten Gleichförmigkeit und Farbe des Horizontes lag der sicherste Beweis, daß Deacon ein Lügner war oder, wenn kein Lügner, ein Verrückter, oder noch richtiger, ein von einer fixen Idee besessener Wahnsinniger.

War es die Nachricht in der Zeitung, die ihm zuerst die Geschichte in den Kopf gesetzt hatte? Oder hatte er wirklich beim Schiffbruch der ›Königs-Eiche‹ infolge der dabei ausgestandenen Angst an seinem Gehirn gelitten und hiernach die fixe Idee gefaßt, das Gold gerettet und vergraben zu haben?

Das Geheimnis lag auf dem Grunde der See. Wer kann die Verrücktheit eines Menschen erklären? Alle Phasen der Geschichte, alle schlau ersonnenen Einzelheiten, die vollkommene Wahrscheinlichkeit derselben und vor allem der eigene feste Glaube an die Einbildung waren jetzt, wo die vielen Meilen blauer See die ganze Sache als Erfindung kennzeichneten, ebensoviele Beweise für Deacons Wahnsinn.

Ich schwang mich in das Oberbram-Takelwerk, um an diesem auf die Dwarssahlingen hinabzugleiten. Die Leute unten beobachteten mich unausgesetzt und ich hörte jetzt eine Stimme:

»Hebben Sei wat sahn, Kapteihn?«

»Nichts!« rief ich zurück.

Dies war keine Enttäuschung. Erst morgen, glaubten sie, würde die Insel in Sicht kommen. Ich erreichte das Deck und begab mich ruhig auf meinen Platz neben Miß Franklin.

»Ich habe eine Entdeckung gemacht,« sagte ich und lächelte, als ich den fragenden, vor Neugier brennenden Blick sah, den sie auf mich heftete, während ich mich zu ihr setzte.

»Welche?« fragte sie mit leiser, zitternder Stimme.

»Deacons Insel liegt auf dem Monde.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich will damit sagen, daß Deacons Insel nicht existiert.«

»Ah!«

»Er war ein Wahnsinniger, der sich eine Geschichte erdachte und diese für wahr hielt.«

»Ich habe sie nie für wahr gehalten.«

»Und ich wußte bis heute nicht, was ich davon halten sollte.«

»Und einer solchen krankhaften Einbildung wegen hat man meinen armen Bruder aus seinem Schiff vertrieben und in einem kleinen Boot vielleicht elend umkommen lassen? Ach, es ist schrecklich!« seufzte sie mit einem Ton, der wie die Klage einer Taube klang.

»Nicht allein um deswillen; aber wir wollen davon nicht sprechen, denn etwas anderes ist es, womit sich Ihre Seele jetzt beschäftigen muß. Ich sage Ihnen, beten Sie, daß unsere Segel die ganze Nacht hindurch geschwellt bleiben mögen, damit ich Ihnen morgen um diese Zeit, dort über dem Backbord-Bug, einen blauen Streifen, die Küste einer Insel zeigen kann.«


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