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Vierunddreißigstes Kapitel.
Ein Theestündchen.

Seit es mir gelungen war, Deacon aus der Kajüte zu vertreiben, hatte ich ihn gewissermaßen aus dem Auge verloren. Er war in Banyards Wache getreten und war daher gewöhnlich unten gewesen, wenn ich an der Reihe war, auf Deck zu sein. Daher hatte ich nichts bemerkt, was mich auf eine so entschiedene Aeußerung seines Wahnsinns hätte vorbereiten können.

Da ich gerade den alten Sam sah, welcher sich an die Küche schmiegte und seine blaue Nasenspitze mit einer Pfeife wärmte, deren Kopf direkt unter seinen Nasenlöchern glühte, so rief ich ihn zu mir.

Von Natur mürrisch, hatte die durchdringende Kälte und vielleicht auch das Gefühl der unsicheren Lage, in welche die Meuterei ihn gebracht hatte, seinem Gesicht einen Ausdruck gegeben, welcher an Verdrießlichkeit alles übertraf, was ich jemals aus einer Karrikatur gesehen habe. Mit einem Shawl um den Hals, den Südwester tief über seine Ohren gezogen, blickte sein verwittertes, sauertöpfisches Gesicht auf die Brigg, und jede Runzel sprach von schlechter Laune. Der Mangel an Rum war auch ein beständiger Grund des Aergernisses für ihn, und dies war gerade das Wetter, welches die Entbehrung doppelt fühlbar machte.

»Sam,« sagte ich, als der alte Mann vor mir stand, die Hände tief in die Taschen vergraben, »hast du eben Deacon ins Takelwerk springen sehen und ihn schreien hören, der Eisberg wäre seine Insel?«

Er nickte grämlich.

»Was denkst du von solch' einem Benehmen?«

»Wat mi dervon dücht?« antwortete er mit seiner polternden Stimme, »na, hei is nich richtig in'n Kopp, dat is, wat mi dücht.«

»Das ist meine Meinung schon lange gewesen. Aber fängst du nicht an, zu fürchten, daß er uns bei der Nase herumgeführt hat?«

Er that mehrere kräftige Züge aus seiner Pfeife, räusperte sich und erwiderte.

»Dat is so, as dat is. Wat het Sei so'n Gedanken in'n Kopp sett?«

»Sein Wahnsinn.«

»Ja,« knurrte er, »äwer de het dat Goldschipp doch nich tau Grund gahn laten. Mi dücht, hei was klaug naug, dat Geld intaugraben.«

Er richtete seine zornigen alten Augen fest auf mich und rauchte wie ein Schornstein.

»Aber er kann sich das alles eingebildet haben,« rief ich, betroffen von dem hartnäckigen Glauben des alten Kerls. »Verrückte haben oft derartige Wahnvorstellungen.«

»Dorvon weit ik nicks,« antwortete er, »äwer dat weit ik, dat vel Tied hingahn is, sid dat Schipp unnergahn is, un sid duntaumalen hei vel Tied hadd hadd, sien Gripps tau verlieren. Det is mien Meinung von de Sak. Wat Sei Wahnvörstellung näumen, is oft de Wahrheit. Ik will Sei wat vertellen, wat mi grad infallen dauht: Da was en oll Snurrern in de Nahwerschaft von mien Modder. Sei verdeinte sik en beten Brod dormit, dal sei Lumpen un Knaken söcht' un verköpt'. Eins Dags kümmt en lütt Diern un seggt tau Mutting, Frau Lobb (so heit sei) wier sihr krank un Mutting süllt sei besäuken. Na, Mutting funn sei in Starben. ›Frau Lobb,‹ säd sei, ›wenn Sei etwa irgend wo Ersportes versteckt hebben, seggen Sei's, un ik will Sei anstännig begraben laten.‹ Aewer de oll Racker, Frau Lobb, seggt, sei hädd kein Penny nich sport, un fung an tau ßackeriren un sich so gruglich tau verfluchten, dat de Düwel sülwst ehr Glöwen schenkt hädd. Na, as sei dod is, da söchten sei, un dunn funn'n sei unner de Asch in de Herd-Eck einen Seestäwel vull Goldstücken un Poppiergeld, wat allens de oll Unchrist sport hädd. Dat was ok en Wahnvörstellung, äwer de Seestäwel was tworst bet baben vull; un up de Ort seih ik ok Deacons Garn an.«

Nachdem er seine Ansicht in dieser Weise geäußert hatte, steckte er das Kinn in seinen Shawl und kehrte nach der Küche zurück.

Die kurze Unterhaltung gab mir Gewißheit über einen Punkt, nämlich daß, was ich auch glauben mochte, ich keine genügend starke Beweise hatte, die Mannschaft zu überzeugen. Und konnte ich schließlich nicht auch irren, wenn ich annahm, daß Deacons Geschichte eine Fabel sei? Ich glaubte, daß das vergrabene Gold die Ausgeburt eines kranken Gehirns wäre, ebensogut aber konnte der Schatz auch wirklich vorhanden sein, und nur die Sorge, ihn nicht einmal zu verraten, und das Grübeln über die Art, wie er zu erlangen sei, konnte den Wahnsinn verursacht haben.

Meine Zweifel führten mich zu einer neuen Ueberlegung. Wenn die Leute an ihrem Glauben an die Wahrheit von Deacons Aussage festhielten, würde es dann klug von mir gehandelt sein, mich zu bestreben, ihnen Zweifel einzuflößen? Sie konnten sich vielleicht dann in den Kopf setzen, ich wünschte sie von dem Schatz abzulenken, um ihn mir selbst anzueignen. Einen solchen Argwohn in ihren begehrlichen und nicht gerade sehr skrupulösen Herzen zu erregen, würde mein Leben gefährdet und damit allen Plänen ein schnelles Ende bereitet haben, welche ich mir ausgedacht hatte, um Miß Franklin, die Brigg und mich selbst zu retten.

Um die Theezeit an diesem Tage forderte ich Miß Franklin auf, in die gemeinschaftliche Kajüte zu kommen und sich mit mir an den Tisch zu setzen. Dies gewährte ihr eine Abwechslung in der Eintönigkeit ihres Gefängnislebens und frischte sie etwas auf. Es war wie in früherer Zeit, und sie vergaß für den Augenblick ihre Furcht vor den Leuten. Wie lieblich und schön sah sie im Schein der Lampe aus! Wie zart waren ihre Wangen, wie gedankenvoll und glänzend ihre Augen! Sie hatte die Leute auf Deck durcheinander laufen hören und die seltsame Bewegung gefühlt, als die Brigg steuerlos herumgeschwenkt war und ihren Schnabel den tosenden Wogen zugedreht hatte; aber das liebe Herzchen, es hatte gottlob keine Ahnung von der Ursache und Bedeutung dieser Bewegung gehabt, nicht im entferntesten hatte es geahnt, daß der Tod, der gräßliche, kalte Tod, in diesem Augenblick uns umlauert hatte; diese Angst war ihr erspart geblieben.

Wozu sollte ich sie nun jetzt noch mit dem erschrecken, was vorüber war? Ich gab ihr daher nur eine Beschreibung der Eisberge, wobei ich die große Gefahr, die uns von denselben gedroht hatte, ganz überging. Es war mir ein Genuß, zu beobachten, wie sie bei dieser einfachen Erzählung, die Hände fest ineinander gefaltet, mit ihren Augen gespannt an meinem Munde hing.

Ich hatte keine Eile, mich niederzulegen, solange ich mich mit ihr unterhalten konnte. Der alte Banyard hatte die Wache, und da die Sterne glitzerten, als er mich ablöste, hatte ich keine Sorge, daß die Leute auf dem Ausguck Eisberge erst sehen würden, wenn wir beinahe mitten unter ihnen wären.

Den Kurs der Brigg konnte ich über meinem Kopf in dem Axiometer sehen, und ich brauchte nicht über die Schanzkleidung zu blicken, um beurteilen zu können, daß die mächtigen Wogen, welche draußen donnerten und schäumten, uns eine Fahrt gaben, die, wenn sie nur einige Tage so fortging, uns nach ruhigen Gewässern und warmen Breiten bringen mußte.

Um uns einander bei dem Lärm, den Wind und Wellen verursachten, besser verständlich machen zu können, stand ich auf und setzte mich dicht neben sie. Dies schien sie zu erfreuen, und ein Lächeln lag in ihren Zügen, wenn sie mich ansah.

»Ich bin immer glücklich, wenn Sie bei mir sind, denn nur dann fühle ich mich sicher,« sagte sie.

»Als wir uns in dem Hotel in Bayport sahen, wie wenig hat uns da geahnt, was wir zusammen durchmachen würden!«

»Lassen Sie mich nur einmal erst wieder glücklich in England sein, und nie, nie gehe ich wieder auf die See!« rief sie mit bezaubernder Lebhaftigkeit.

Ich veranlaßte sie, von England und ihrer Heimat in Kent zu sprechen. Es war herrlich, dabei ihr schönes Gesicht zu beobachten und ihre holden Lippen von ihrem Garten, ihren Blumen, ihren Vögeln, ihren Büchern und all den hundert Kleinigkeiten plaudern zu hören, die ihr Beschäftigung gewährten und mir ein Bild des stillen, beschaulichen Landlebens gaben, welches sie zu Hause führte.

Ich hörte ihr mit jeder Fiber meines Herzens zu; kalt überlief es mich aber, wenn die heftigen Bewegungen des Schiffes mich plötzlich wieder herausrissen aus aller Seligkeit, die ich in ihrer Nähe empfand, und mich an die Lage erinnerten, in der wir uns befanden. Ach Gott, was stand ich aus, wenn ich dieses unheimliche Brausen und Rauschen des Wassers, dieses Pfeifen und Heulen des Windes hörte, wenn ich an das eisumgürtete Kap Horn dachte, welches uns nur eine halbe Tagereise fern lag, an die furchtbare Gefahr, der wir soeben entgangen waren, und an die Verbrechergesellschaft im Vorderkastell, von deren unberechenbaren Launen wir abhingen.

Alle diese Gedanken bewegten mich im Innersten, aber ich hielt sie tief verschlossen, denn ich war ja doch zu froh, daß dieses liebe Kind auf kurze Zeit einmal die Angst der Gegenwart in den friedlichen, glücklichen Erinnerungen vergaß.

Aber das alte, unglückliche Thema, ihr Bruder, kam schließlich doch auch wieder aufs Tapet. Sie wollte wissen, ob wohl Aussicht sei, daß er gerettet war, und was er thun würde, wenn er das Kap der guten Hoffnung erreichte? Ob er dann wohl ein Kriegsschiff aussenden würde, uns aufzusuchen und zu befreien, oder ob er heim nach England gehen würde? Ach du barmherziger Gott, das war eine wahre Tortur für mich; was in aller Welt sollte ich ihr darauf antworten?

Hier will ich gleich vorweg bemerken, daß man weder von Kapitän Franklin noch von Mr. Sloe je wieder etwas gehört hat; damals aber konnte ein vertrauenseliges Gemüt ja noch immer Hoffnungen für ihre Errettung hegen. Was mich in dieser Beziehung betraf, so war ich aber auch schon damals ziemlich überzeugt, daß der Schiffer schon in der ersten Nacht, nachdem er ausgesetzt war, umgekommen sei, denn der Wind, welcher sich erhoben hatte, mußte meiner Ansicht nach das Boot mit Wasser gefüllt und zum Sinken gebracht haben, selbst wenn es dreimal so groß und mit einem Segel versehen gewesen wäre, welches ihm die Möglichkeit gewährt hätte, vor dem Winde zu laufen.

Mir fehlte der Mut, ihr meine Gedanken zu verraten, doch hielt ich es auch für gut, ihr allmählich die Sache im richtigen Lichte zu zeigen, damit sie sich nicht länger Hoffnungen hingäbe, welche in der Unkenntnis der Gefahren des Meeres ihren Grund hatten. Ich erklärte ihr daher die wenigen Chancen, welche Menschen in einem kleinen Boot auf bewegter See für sich hätten, daß solche Unglücklichen zuweilen von vorüberfahrenden Schiffen gerettet würden, manchmal wohl auch durch eigene Anstrengung festes Land erreichten, daß aber unfraglich die meisten umkämen.

Dies läge aber in des Allmächtigen Hand, sagte ich; wir wollten für des Kapitäns Sicherheit beten und das Beste für ihn hoffen; aber zu viel Vertrauen würde Thorheit sein; die grausame That wäre leider Gottes nun einmal begangen und ließe sich nicht ungeschehen machen, daher würden wir gut thun, alle Gedanken daran vorläufig zu verbannen, da sie uns nichts helfen könnten, sondern immer nur von neuem aufregen und traurig machen müßten. Wir hätten überdem allen Grund, uns zunächst mit unserer eigenen Lage zu beschäftigen, die, weiß Gott, schlimm genug wäre.

In dieser Weise suchte ich sie an den Gedanken zu gewöhnen, daß ihr Bruder ein toter Mann sei; an den Maat dachte sie, wie es mir schien, ebensowenig wie ich.

Darauf kamen wir auf andere Dinge zu sprechen und saßen so eine ganze Stunde beisammen, flüsternd über Hoffnungen und Pläne.

Es war die angenehmste Stunde, die ich bisher verlebt hatte, denn ich hatte noch niemals gewagt, ihr meine Gesellschaft so lange aufzudrängen. Sie war heute abend ruhiger, mutiger und mehr als seit langer Zeit wieder das harmlos plaudernde Mädchen von früher.

Ich hörte Banyards regelmäßigen Schritt über unseren Köpfen. Manchmal blieb er stehen, und wenn ich ihn auch nicht sehen konnte, so schielte er doch ohne Zweifel durch das Oberlicht oft auf uns herunter. Er hielt mich sicherlich für einen rechten Einfaltspinsel, daß ich eine langatmige Unterhaltung der Wärme des Bettes vorzog.

Dieses Beisammensein war mir aber wie ein Sonnenstrahl nach tagelangem Nebel und Regen. In der Erinnerung sehe ich uns noch nebeneinander sitzen: sie in einer dicken Pelzjacke, ihr weißes Kinn tief in dem dunkeln Pelz vergraben, an den Händen Wollhandschuhe, durch deren Maschen ihre Ringe glitzerten; ich, der arme Jack, in einer groben Lotsen-Jacke, auf welcher das Schneewasser langsam trocknete, vorgebeugt und die Augen nicht abwendend von dem lieblichen Antlitz, Gesicht und Hände steif gefroren, aus Eitelkeit die eine Hand in der Tasche, die andere im Kopfhaar vergraben. Von dem Anprall der Wogen zittert die Bank, auf der wir beide sitzen, an der Decke schaukelt die Lampe, um uns her krachen die Kajütenthüren, der Sturm pfeift und heult, das Meer rauscht und braust, donnernd brechen seine Wogen sich am Bug, das Schiff zittert in allen seinen Fugen, die Balken und Spieren ächzen schauerlich und bergauf, bergab stürmt das Schiff im Dunkel der Nacht vorwärts.


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